Machfus | Palast der Sehnsucht | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 632 Seiten

Machfus Palast der Sehnsucht

Roman. Die Kairo-Trilogie II
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30591-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman. Die Kairo-Trilogie II

E-Book, Deutsch, 632 Seiten

ISBN: 978-3-293-30591-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kamal, der jüngste Sohn des Familienpatriarchen Abd al-Gawwad, erfährt die Härten und Hürden des Erwachsenenlebens. Seine heftige Liebe zur Aristokratentocher Aida bleibt unerwidert und seiner Begeisterung für die Wissenschaft und die nationale Unabhängigkeitsbewegung begegnet der Vater mit schroffer Ablehnung, woraufhin Kamal beginnt, sich in Weinbuden zu betrinken und durch Bordellgassen zu streifen. Sein Bruder und der Vater indes, ohne es voneinander zu wissen, buhlen um die Liebe derselben jungen Frau.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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1


Herr Abd al-Gawwad schloss hinter sich das Tor und ging mit müdem Schritt im blassen Schein der Sterne über den Hof. Die Spitze des Stocks bohrte sich in den staubigen Boden, wenn er sich schwer auf ihn stützte. Erhitzt, wie er war, sehnte er sich nach kaltem Wasser, um sich Gesicht, Kopf und Hals abzuspülen und zumindest für kurze Zeit Linderung von der Gluthitze des Juli zu finden, die ihm Schädel und Leib zu verbrennen drohte. Der Gedanke an kaltes Wasser war so verlockend, dass sich seine Gesichtszüge entspannten. Als er ins Treppenhaus trat, schimmerte von oben mattes Licht herab, dessen Strahlen über die Wand huschten. Er stieg hinauf; die eine Hand glitt über das Geländer, die andere stützte sich auf den Stock, und das gleichmäßige Klopfen der Spitze auf den Stufen hatte in langer Zeit jenen besonderen Rhythmus erworben, der zu ihm ebenso gehörte wie die Züge seines Gesichts. Oben auf dem Podest erschien Amina mit der Lampe in der Hand, und als er bei ihr war, blieb er stehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich, er musste verschnaufen. Erst dann sprach er die Worte, die immer zu dieser nächtlichen Stunde fielen: »Guten Abend.«

Amina ging mit der Lampe voraus und murmelte: »Guten Abend, Herr.«

Im Zimmer angekommen, eilte er zum Kanapee und ließ sich darauffallen. Er stellte den Stock beiseite, nahm den Tarbusch ab, lehnte den Kopf ans Rückenpolster und streckte die Füße weit von sich. Die Ränder der Gubba rutschten über den Kaftan, sodass die in die Socken gesteckten Beinlinge der Unterhose zu erkennen waren. Er schloss die Augen, trocknete sich mit dem Taschentuch Stirn, Wangen und Nacken ab. Amina hatte die Lampe auf den kleinen Tisch gestellt und stand abwartend vor dem Gatten, um im Moment, da er sich erheben würde, beim Ablegen der Kleidung behilflich zu sein. Aufmerksam und beunruhigt sah sie ihn an. Wie sehr wünschte sie sich, den Mut zu finden, ihn zu bitten, er möge sich von den Anstrengungen des nächtlichen Feierns verschonen, da seine Gesundheit das nicht mehr mit der Leichtigkeit von einst verkraftete. Sie wusste nicht, wie sie solch grämliche Gedanken offen aussprechen sollte.

Es vergingen etliche Minuten, ehe er die Augen wieder öffnete. Er nahm die goldene Uhr aus der Tasche des Kaftans, zog den Diamantring vom Finger und legte alles in den Tarbusch hinein. Dann stand er auf, um sich mit Aminas Hilfe von Gubba und Kaftan zu befreien. Sein Körper bot den vertrauten Anblick – groß, stark, voll. Nur an den Schläfen hatte das Grau einige Strähnen erobert. Als er den Kopf in den Ausschnitt des weißen Nachthemds steckte, musste er plötzlich lächeln, erinnerte er sich doch daran, dass Herr Ali Abd ar-Rahim mitten im geselligen Beisammensein sich hatte erbrechen müssen, was er mit einer Verkühlung des Magens zu erklären suchte. Sie, die anderen, hatten daraufhin gehänselt, er würde bloß nichts vertragen, gehöre eben nicht zu den Männern, die bis ins hohe Alter hinein vom Alkohol nicht genug bekommen könnten und so weiter und so fort. Herr Ali war wütend geworden und wollte nicht aufhören, solcherlei Verdacht weit von sich zu weisen. Merkwürdig, welche Bedeutung manche Menschen den geringsten Nichtigkeiten beimaßen. Aber er war ja auch nicht viel besser. Hatte er sich nicht mitten im tobenden Gelächter laut gerühmt, er könne eine ganze Kneipe leer trinken, ohne dass sein Magen auch nur im Geringsten durcheinandergerate?

Er setzte sich wieder hin und streckte die Füße vor, damit die Frau Schuhe und Strümpfe ausziehen konnte. Dann ging sie hinaus und kam mit Schüssel und Wasserkrug wieder. Sie ließ das Wasser in die Schüssel fließen, er wusch sich Kopf, Hals und Gesicht und spülte alles sauber ab. Als das getan war, hockte er sich mit gekreuzten Beinen aufs Kanapee und verspürte genüsslich den sanften Lufthauch, der zwischen Holzerker und Hoffenster wehte. »O Gott, was für einen entsetzlich heißen Sommer haben wir dieses Jahr.«

»Möge sich der Herrgott uns gütig zeigen«, erwiderte Amina, die unter dem Bett die Matte hervorgeholt hatte und nun unmittelbar zu Füßen des Herrn Gemahls hockte. Sie seufzte. »Überall ist es heiß wie im Backraum, nur auf dem Dach kann man nach Sonnenuntergang ein wenig Luft schöpfen.«

Amina hatte sich verändert; sie war dünn geworden, und ihr Gesicht sah länglicher als früher aus, was vielleicht nur daran lag, dass ihre Wangen schmal geworden waren. Die Strähnen, die unter dem Tuch hervorlugten, waren ergraut, sodass sie älter wirkte, als sie eigentlich war. Das Muttermal auf der einen Wange trat gröber hervor, und war ihr Blick auch demütig wie früher, so wirkte er doch traurig und irgendwie abwesend. Sie selbst war erschrocken über ihr verändertes Aussehen, und hatte sie sich zunächst darüber hinweggetröstet, begann sie, sich schon bald besorgt zu sagen, dass sie, solange sie lebte, gesund bleiben musste; gewiss, denn die anderen bedurften ihrer Gesundheit. Aber konnte das Rad der Zeit zurückgedreht werden? Die Jahre vergingen, und obwohl sie nicht zahlreich genug waren, um eine solche Veränderung zu rechtfertigen, reichten sie aus, um Spuren zu hinterlassen. Nacht für Nacht hatte sie im Holzerker gestanden und durch die Ritzen die Gasse beobachtet. Die lag wie immer unverändert unter ihr, doch sie selbst, Amina, verspürte, wie das Gewicht der Jahre zunehmend auf ihr lastete.

Unten im Kaffeehaus ertönte der Ruf des Kellners, und wie ein Echo hallte seine Stimme in dem stillen Zimmer wider. Sie lächelte, schaute verstohlen zum Herrn Gemahl auf. Nichts liebte sie mehr als diese Gasse, die die ganze Nacht hindurch ihr Herz berührte; sie war ihr eine Freundin, auch wenn diese sich nicht darum kümmerte, dass ein liebendes Herz hinter dem Erkerflügel schlug. Die Wahrzeichen der Gasse füllten ihre Seele aus, und die nächtlichen Geräusche glichen Wesen, die in ihren Ohren hausten. Sie kannte den Kellner, dessen Zunge nie verstummte; den Mann mit der heiseren Stimme, der die Tagesereignisse kommentierte, ohne ihrer je müde oder überdrüssig zu werden; den Spieler mit der nervösen Stimme, der mit der Karosieben und dem Buben dem Glück hinterherjagte; den Vater von Hanija, dem Mädchen mit dem Keuchhusten, der, wann immer er nach der Tochter gefragt wurde, Nacht für Nacht die gleiche Antwort gab: »Beim Herrn liegt alle Heilung.« Ja, es war, als gehörte der Holzerker zum Kaffeehaus, und sie hätte dort in einer Ecke Platz genommen.

Amina hing ihren Gedanken nach, behielt aber unwillkürlich das Gesicht des Herrn Gemahl im Blickfeld, der noch immer den Kopf nach hinten gelehnt hielt. Erst als der Strom ihrer Träumereien abriss, schaute sie sich ihn genauer an. Wie in den letzten Nächten waren auch heute seine Wangen stark gerötet, und da sie das unruhig machte, fragte sie: »Gehts meinem Herrn gut?«

Er richtete den Kopf auf, murmelte: »Ja, Gott sei Dank«, was er gleich mit den Worten einschränkte: »Entsetzlich, diese Hitze.«

Traubenschnaps sollte im Sommer sehr bekömmlich sein, so meinten die Freunde, hatten sie es ihm immer wieder versichert. Aber er mochte ihn nicht, entweder trank er Whisky oder gar nichts. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als jede Nacht den Rausch von sommerlicher – und was für einem Sommer! – Trunkenheit zu erleiden. Was hatte er doch heute Abend wieder gelacht! Er war in ein solches Gelächter ausgebrochen, dass ihm die Halsadern schwollen. Worüber eigentlich? Über nichts Besonderes, jedenfalls hatte es nichts gegeben, was man sich hätte merken müssen. Die Stimmung war einfach nur angenehm gewesen, sodass schon der geringste Anlass genügte, um einen allgemeinen Heiterkeitsausbruch zu verursachen. Es reichte, wenn Herr Ibrahim Alfar zum Beispiel sich versprach und – statt zu sagen: »Saad Zaghlul hat heute von Alexandria aus die Reise nach Paris angetreten« – erklärte: »Alexandria hat heute von Saad Zaghlul aus die Reise nach Paris angetreten.« Schon brachen alle in Gelächter aus, hielt man doch diesen Lapsus für den Zungensalat eines Betrunkenen. Noch bevor sich Herr Alfar hatte berichtigen können, griffen alle den Spaß auf. »Saad Zaghlul«, hieß es, »wird so lange am Verhandlungstisch bleiben, bis er gesund ist, dann schifft er sich auf der Einladung ein, um nach London zu kommen«, oder: »Im gegenseitigen Einverständnis wird er Ramsay McDonald statt der Unabhängigkeit bekommen«, oder: »Saad kommt mit Ägypten zurück, um es der Unabhängigkeit zu bringen«. Es drehte sich zwar alles um die bevorstehende Verhandlung, aber jeder hatte seine Freude daran, die Sache mit Späßen zu kommentieren.

So viele Freunde Herr Abd al-Gawwad auch hatte – drei waren ihm die liebsten: Mohammed Iffat, Ali Abd ar-Rahim und Ibrahim Alfar. Konnte er sich das Leben ohne diese drei Männer vorstellen? Wenn ihre Gesichter bei seinem Anblick vor aufrichtiger Freude strahlten, erfasste ihn ein ansonsten nie erlebtes Glücksgefühl.

In seinen Augen lag noch ein träumerischer Glanz, als sein Blick auf Amina fiel, die ihn neugierig ansah. Als müsste er sie an eine wichtige Angelegenheit erinnern, sagte er streng: »Morgen also.«

Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. »Wie könnte ich das vergessen.«

»Man hat mir gesagt, dass die Abiturergebnisse in diesem Jahr eher schlecht sind«, meinte Herr Abd al-Gawwad mit unverhohlenem Stolz.

Aminas heiteres Gesicht zeigte an, dass sie sein Gefühl teilte. »Möge der Herrgott ihn sein Ziel erreichen und uns alt genug werden lassen, damit wir noch erleben, wie er das Diplom...


Kilias, Doris
Doris Kilias, geboren 1942 inmitten der Masurischen Seenplatte, also im heutigen Polen, arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig. Sie starb 2008 in Berlin.

Machfus, Nagib
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.



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