E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Macht Der Krieg im Garten des Königs der Toten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8906-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8906-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ausgezeichnet mit dem Silberschweinpreis 2016
Was tun, wenn man siebzehn ist und die Eltern über Nacht spurlos verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Man übernimmt selbst den Abschluss seiner Erziehung – mithilfe der miesen Horrorfilme, die man vom »schönen Hans« im Dorfladen geschenkt bekommt. Bruno Hidalgo hat jedoch noch ganz andere Probleme. Denn er lebt nicht nur in einem Provinznest, sondern auf einem riesenhaften Eiland, das infolge von Atomtests aus dem Ozean aufgestiegen ist. Die glanzvollen Gründerjahre sind vorbei, nun liegt die Inselgesellschaft am Boden. Rebellen marodieren, ausländische NGOs versuchen, die Bewohner mit dem Nötigsten zu versorgen, Antilopen weiden in der Savanne zwischen den Müllbergen einer zerbrochenen Utopie.
Sascha Macht schickt seinen jungen Helden auf eine Reise durch diese schillernde, kühn erträumte Welt, die doch bedrohlich nah an unserer Realität gebaut ist. Er erzählt eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die langen Schatten der großen Ideologien und die heilsame Kraft des Horrorfilms: sprachmächtig, klug und irre witzig.
»Wie hier einer mit der Eleganz des Motorsägenspezialisten aus dem Weltgeäst wilde, wilde, anarchische Literatur entastet, wie frei hier einer in das Realistische reinsägt, in das Symbolische, in das Absurde und Fantastische, ohne dass die Kette geölt werden müsste, ohne Rückschlag und auch ohne selbst die Bodenhaftung zu verlieren – das ist grandios, das ist doch grandios!« Saša Staniši?
Autoren/Hrsg.
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NACH VIER STUNDEN erreichte ich die Überlandstraße, die zwischen den Hügeln entlang- und zur Savanne hinausführte. Nicht weit von mir entfernt befand sich eine Hütte mit einer Benzinpumpe und einem Bushaltestellenschild neben ihrem Eingang. Ich schlurfte hinüber und betrat ein Plumpsklo mit Zigarettenregal und Registrierkasse, um nach dem nächsten Bus zu fragen. Ein fetter, kahlköpfiger Junge, der ein paar Jahre älter war als ich, saß auf einem Plastikstuhl in der Ecke und schnalzte zur Begrüßung mit der Zunge. Er wusste nicht, ob heute überhaupt noch ein Bus kommen würde, den ganzen Tag lang sei schon keiner gekommen, gestern nicht, vorgestern nicht und die ganze letzte Woche über nicht. Der letzte Bus sei vor Monaten vorbeigefahren, ohne anzuhalten, und nicht wieder zurückgekehrt, ich könne aber gerne hier warten, sagte er, denn die Zukunft sei ungewiss, nur die Vergangenheit liege auseinandergefaltet zu unseren Füßen da, um betrachtet und ausgewertet zu werden, aber ob mir das jetzt in meiner Situation viel nütze, wisse er leider auch nicht. Wir tranken gemeinsam jeder eine Flasche Cola, er auf seinem Stuhl, ich in der anderen Ecke des Verschlags, nahe beim Eingang. Für den Rest des Weges nach Kajagoogoo würde ich sicher eine halbe Woche brauchen, von wilden Tieren verfolgt eventuell ein paar Stunden weniger. In diesem Augenblick fuhr draußen ein altes, eierschalenfarbenes Wohnmobil vor, hielt krachend bei der Benzinpumpe und hupte zweimal. Der fette Junge erhob sich ächzend von seinem Stuhl, streckte sich und latschte schnalzend vor die Tür, wo er wie ein Irrer an der Pumpe herumfummelte. Aus dem Wohnmobil stieg ein junger Mann, dann eine junge Frau, und für einen Moment glaubte ich wirklich, dass die beiden Regisseure Marcel Kürten und Adelaide Turner hier angehalten hätten, tanken und ein paar Schokoriegel verknuspern würden, bevor sie sich wieder auf den Weg nach Kajagoogoo machten, wo sie mich ja besuchen und in ihre dürren, bleichen Arme schließen wollten. Über Wochen hinweg hatte ich vergeblich versucht, etwas über sie im Internet herauszufinden, doch Adelaide Turner und Marcel Kürten blieben die beiden großen Unbekannten oder Vergessenen unter den vielen kleinen unbekannten oder vergessenen Horrorfilmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Verwundert stellte ich fest, dass sie außerdem bereits Eltern eines Jungen geworden waren, der jetzt den Kopf aus dem Wohnmobil streckte, zum Schritt ansetzte, über die Türkante stolperte und mit dem Gesicht voran im Straßenstaub landete. Seine Mutter, Adelaide oder wer auch immer, kam zurück, nahm das brüllende Kind in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als der dazugehörige Mann in die Tankstelle kam, zwang ich mich, meine Fantasien von Adelaide und Marcel zu unterdrücken (ein verhallender Hilferuf im bodenlosen, stürmischen Meer der Wirklichkeit), grüßte ihn mit einem Nicken und beobachtete ihn dabei, wie er die vielen bunten Zigarettenschachteln hinter der Registrierkasse betrachtete. Rauchst du?, fragte ich. Der Mann drehte den Kopf zu mir. Er musste in etwa so alt wie der Preuße sein, schätzte ich, vielleicht sogar ein, zwei Jahre jünger. Manchmal schon, sagte er. Gibt es hier noch etwas anderes? Die letzte Cola habe ich ausgetrunken. Aber vielleicht sind irgendwo noch Reiswaffeln versteckt oder Trockenfleisch oder ein Tütchen Marihuana. Der Mann zuckte mit den Schultern. Sylvie, meine Frau da draußen, braucht etwas Süßes, sagte er. Ein Eis vielleicht oder Schokolade. Ich an deiner Stelle, sagte ich, würde kein Eis an einer Tankstelle wie dieser kaufen. Ich würde überhaupt nirgendwo auf dieser Insel Eis kaufen, denn unsere Tiefkühltruhen kommen aus Nordkorea und tun nur so, als würden sie etwas kühlen. In Wahrheit bereiten sie heimlich den Einmarsch der Koreanischen Volksarmee vor, und wir alle warten sehr gespannt darauf, wie sie das anstellen wollen. Der Mann sah mich ernst an, machte dem kahlköpfigen Jungen Platz, der hereingekommen war, und zahlte die Tankrechnung. Ich war derweil nach draußen gehuscht und grüßte die Frau, die im Schatten des Wohnmobils auf der Erde saß, ihren Jungen in den Armen wiegend, mit einer Handbewegung. Hallo, sagte sie. Ich blieb in einigen Metern Entfernung stehen, weil ich dem Kind nicht über den Weg traute. Pflanzenfressende Tiere und kleine Kinder waren, so hatte ich es in dem Film Der Sturm aus Blut im Haus des Schlafes von Krister Kristiansborg gesehen, die einzigen Lebewesen, die, ohne nachzudenken, töten konnten. Bist du Sylvie?, fragte ich. Ja, sagte sie. Was macht ihr hier? Wir fahren über deine Insel. Warum? Wir kommen gerade von der nordöstlichen Steilküste und wollen in die Republikanische Hauptstadt, zu den Republikanischen Filmfestspielen. Kennst du die? Ich schüttelte den Kopf. Das musste ein Witz sein, den ich nicht verstand. Johnny und ich, sagte Sylvie, drehen Dokumentarfilme, und unsere letzte Produktion ist zu diesen Filmfestspielen eingeladen. Johnny meint, wir hätten gute Chancen, in unserer Sektion den Goldenen Waran zu gewinnen, ich bin mir da aber nicht so sicher. Unser Film ist, vorsichtig gesprochen, ein wenig kontrovers. Zu viele gestellte Szenen, allerhand grobe Unwahrheiten und einige technische Probleme, die wir nicht mehr ausbügeln konnten. Außerdem ist die Schnittfassung meiner Meinung nach immer noch mindestens zwei Stunden zu lang, aber Johnny ist ziemlich zufrieden. Schau ihn dir an! Sie zeigte auf ihren Begleiter, der mittlerweile aus der Tankstelle gekommen war und mit durchgestrecktem Rücken, den Kopf gen Himmel gereckt, die Augen geschlossen, tief ein- und ausatmend, die wärmenden Strahlen der Sonne zu genießen schien. Ich kannte keinen einzigen Dokumentarfilm und hatte mich auch nie besonders dafür interessiert. Deshalb fragte ich nur aus Höflichkeit, mit welchem Thema sich ihr Film denn befasse. Wie du vielleicht weißt, sagte Sylvie, hat sich die Irish Republican Army im Laufe der Jahrzehnte mehrmals zersplittert, sodass es bis zum heutigen Tage mehrere miteinander konkurrierende Organisationen gibt, die für die Vereinigung Nordirlands mit der Irischen Republik kämpfen. Johnny und ich haben uns in den nordirischen Grafschaften auf die Suche nach einer bislang unbekannten, gänzlich im Verborgenen tätigen Abspaltung der Real IRA begeben, die wir Die gläserne Armee nennen und von der wir überzeugt sind, dass sie für eine Vielzahl von Verbrechen verantwortlich ist, die niemals aufgeklärt wurden. Im weitesten Sinne geht es in unserem Film aber darum, dass zwei selbstvergessene Menschen einem unbeweisbaren Gerücht folgen und einfach nicht davon abrücken wollen, dass etwas durchaus existieren kann, wenn man seine Existenz nur vehement genug behauptet und keinerlei Zweifel daran akzeptiert. Ich sagte, dass ich mir durchaus vorstellen könne, ihren Film gut zu finden, und fragte, diesmal aus ehrlichem Interesse, ob die beiden davor schon etwas anderes gedreht hätten. Für unsere erste Dokumentation vor einigen Jahren haben wir Kinder gefilmt, sagte Sylvie. Aber nicht irgendwelche Kinder, sondern Kinder, die in Nordirland und in Südafrika lebten. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: Wenn ich es mir jetzt recht überlege, dann handelte es sich eigentlich doch nur um irgendwelche Kinder, die aber immerhin in außergewöhnlichen Situationen aufwuchsen. Ich wachse auch in einer außergewöhnlichen Situation auf, rief ich. Wer tut das nicht? Vielleicht könnten wir ja auch einen Film über dich machen. Wie heißt du denn? Bruno Hidalgo, sagte ich. Aber ich habe kein Interesse daran, mich filmen zu lassen. Vor der Kamera geschehen immer böse Dinge, nur dahinter ist man in Sicherheit, solange man nicht der Kameramann ist oder der Regisseur. So viele Kameramänner und Regisseure haben bei ihrer Arbeit den Verstand verloren. Wirklich sicher ist man nur vor dem Fernseher oder im Kino. Sylvie schien zu überlegen. Der Junge, tief eingegraben in ihren Armen, schlief fest, nur sein gekrümmter Rücken war zu sehen, der sich im Rhythmus langer Atemzüge wie ein riesiges Organ seiner Mutter bewegte, das sich außerhalb ihres Körpers befand. Wohnst du hier in der Nähe?, fragte sie mich. Ich erzählte ihr von Kajagoogoo, das mit dem Auto nur eine Stunde entfernt lag, und dass ich auf den Bus dorthin wartete, der aber allen Schätzungen nach niemals mehr hier vorbeikommen würde. Wir könnten dich nach Hause fahren, sagte Sylvie, wenn du uns erlaubst, eine Nacht bei dir zu bleiben. Wir würden sowieso im Wohnmobil schlafen, aber es wäre sehr beruhigend, endlich mal wieder in der Nähe eines Hauses zu übernachten. Ich erklärte mich einverstanden und dachte daran, doch ein Glückspilz zu sein, der zwar permanent von den vier Reitern der Apokalypse verfolgt wurde, aber stets darauf hoffen konnte, dass alles irgendwie gut ausgehen würde, auch wenn das meistens gar nicht der Fall war. Johnny hatte ebenfalls nichts dagegen einzuwenden, einen kleinen Umweg zu machen und die Nacht in Kajagoogoo zu verbringen. Er bat mich darum, hinten im Wagen Platz zu nehmen und ein Auge auf den Jungen zu haben, während sich Sylvie ein paar ruhige Minuten auf dem Beifahrersitz gönnte. Der dicke, kahlköpfige Junge winkte uns zum Abschied, und ich hoffte, dass er sich nach Sonnenuntergang gut in seiner Tankstelle einschloss, um nicht von denjenigen geholt zu werden, die nach Einbruch der Dunkelheit aus den Hügeln kamen, an Türen kratzten und an Fenster klopften, elektrische Geräte und Hühner stahlen, Aussätzige mit schwarzen Augen und Hasenscharten, fehlenden Nasen und Ohren, Enkel und Urenkel von,...