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E-Book, Deutsch, 400 Seiten, Gewicht: 1 g

Mähr Alles Fleisch ist Gras

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-552-06132-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-552-06132-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Durch einen Sturz über die Stiege stirbt Roland Mathis, der widerwärtige Schnüffler, der Anton Galba und seine heimliche Geliebte mit ihrem Verhältnis erpresst hatte. In Panik lässt Galba, Leiter der Abwasserreinigungsanlage Dornbirn, die Leiche im Häcksler verschwinden. Der den Fall untersuchende Polizist Nathanael Weiß verdächtigt Galba von Anfang an. Allerdings gibt es auch in seinem Umfeld einen Widerling, den er gerne loswerden würde. Galba muss notgedrungen mitmachen, doch für Weiß ist das erst der Anfang: Es gilt, Schädlinge der Gesellschaft auszurotten. Christian Mähr erzählt in diesem bitterbösen Krimi aus Österreich von Moral und Mordlust in der Kleinstadt.

Christian Mähr wurde 1952 in Nofels bei Feldkirch (Vorarlberg) geboren und lebt heute in Dornbirn. Er ist Autor, Bienenzüchter und Doktor der Chemie und langjähriger freier Mitarbeiter des ORF für die Redaktion Wissenschaft und Umwelt. Werke (u. a.): Magister Dorn (1987), Fatous Staub (1991), Simon fliegt (1998), Die letzte Insel (2001), Vergessene Erfindungen. Warum fährt die Natronlok nicht mehr? (2002), Von Alkohol bis Zucker (2010) und bei Deuticke die Romane Semmlers Deal (2008), Alles Fleisch ist Gras (2010), Das unsagbar Gute (2011) und Knochen Kochen (2015).
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1


Erst als er fertig war, fiel ihm auf, wie lächerlich das aussah, was sie hier machten; das blanke Hinterteil vor ihm, der hochgeschlagene Rock – und er selber mit den Hosen, die sich um die Knöchel wulsteten, dabei hatte er sich vorgenommen, nie in eine Situation zu geraten, in der er mit knöchelverhüllendem Hosenwulst hinter einer gebückten Frau stand, er hasste dieses Bild, es zerstörte alles Ernste am Sex, machte die Szene zu einer Witzzeichnung, es fehlte nur die Unterschrift, irgendein blöder Spruch.

Ein Hochsitz an einer Waldlichtung, sie kniete vor ihm auf der Bank, schaute in die verkehrte Richtung, in den Wald hinein und umklammerte immer noch mit beiden Händen einen Ast der Fichte, an die der Hochsitz gebaut war.

Jetzt war es zu spät, der Schaden angerichtet, das einzig nicht lächerliche Detail ihre kleinen, unschuldigen, nackten Füße, denen er nie widerstehen konnte; das war einer ihrer Codes, die sie sich angewöhnt hatten – hatten angewöhnen müssen in der Situation im Betrieb – wenn sie sich wie in Gedanken unter dem Schreibtisch die Sandalen auszog, hieß das, sie hatte Lust, mäßig bei einer, unbändig bei allen beiden, er beobachtete sie den ganzen Tag auf solche Signale und wusste, wie er den Abend zu organisieren hatte. Bei diesem Spaziergang war sie es gewesen, die ihn überrumpelt hatte, sprang vom Waldweg ins Dickicht, lachte ihn über die Schulter aus, weil er ihr so schwerfällig folgte, dann fasste sie einen kahlen Fichtenstamm, den einen Holm der Leiter, die schon zwei Meter weiter oben an der Öffnung des Holzhäuschens endete, schlüpfte aus den Sandalen und stieg die Sprossen hinauf, ohne ein Wort zu sagen. Er wartete, bis sie oben war, kam erst dann nach, um eine Überlastung zu vermeiden, dazu war er zu sehr Ingenieur, wusste, wie diese Hochstände gezimmert wurden, zwei Nägel durch die kurzen Rundhölzer, die als Sprossen dienten, das war schon die ganze Holzverbindung, unglaublich, dass nicht mehr passierte, wenn die übergewichtigen Jagdgäste hinaufkletterten.

Roland Mathis war nur dreißig Meter weit weg, höchstens dreißig. Als er um die Biegung des Waldwegs kam, waren sie auf dem kleinen Bildschirm verschwunden. Er blieb sofort stehen, hielt den Atem an. Es war fast völlig dunkel, nur im Apparat leuchtete ihm der Weg grünlich vor dem Auge, wenn er durchs Okular spähte, der Waldweg, die Bäume, der Hochsitz direkt am Weg, rechts an eine Fichte gebaut, jetzt sah er sie, da waren sie ja, von ihm nur der Rücken zu sehen, ihre Arme, mit denen sie ihn umschlang. Roland Mathis hatte ideale Sicht. Dennoch wechselte er auf die linke Seite des Weges, da gab es einen Baumstumpf, wo er das Gerät auflegen konnte. Er blickte direkt in die seitliche Öffnung des Hochsitzes, die Tür hatten sich die Jäger gespart; es gab auch welche mit Türen und Fenstern, wegen der Kälte wahrscheinlich, der hier war offen, behelfsmäßig, da hatte er Glück gehabt, dass dieses Ding auf der Seite offen war und nicht so weit oben, höchstens drei Meter. Auf der anderen Seite begann eine Lichtung, die vom Hochsitz aus beobachtet werden konnte, schlau eingerichtet, dachte er, mit minimalen Mitteln größter Nutzen. Er wurde ganz ruhig, was ihn wunderte. Befürchtet hatte er, wenn es endlich so weit war, herumzunerveln, den Zwischenring zu verlieren, die Aufnahmen zu verhauen, nichts davon. Wenn die dort oben weitermachten, wie er es erwartete, und nicht nur rumschmusten, dann war er am Ziel.

Am Anfang schmusten sie rum, dann nahmen die Dinge ihren Lauf. Wie immer. Denken und Planen waren nicht nötig, es herrschte eine andere Zeit, eine andere Ordnung des Seins, es gab keine Zweifel und keine Probleme, vor allem aber keine Skrupel. Sie wimmerte und schrie, er dachte nicht an den Hosenwulst, er dachte gar nichts. Fast nichts. Man wird es hören, dachte er allerdings, man kann sie hundert Meter weit hören. Damit verband sich keine Befürchtung oder Sorge. Man kann sie hören und wenn schon … dieses Aus-der-Zeit-Fallen genoss er am meisten, er war süchtig danach, so sollte das Leben sein, dachte er, nicht immer, beileibe nicht, das würde niemand aushalten als Dauerzustand, aber in Portionen, abgemessenen Dosen war es unverzichtbar … nein, nicht süchtig, falsches Wort, süchtig ist man nach Drogen, aber das hier, dieser Sex mit ihr, das war … das war keine künstliche Substanz, sondern die Essenz des Lebens. Genau! Jeder sollte das haben, dachte er, jeder und jede. Es begeistert uns, natürliches Elixier, das die Evolution vorgesehen hat, um uns den Aufenthalt auf diesem Planeten zu ermöglichen; wer es nicht hat, der kümmert dahin, stirbt zwar nicht gleich, das nicht, aber mit Verzögerung dann eben doch, woher kommen denn der ganze Krebs und die Herzgeschichten? Von der ungesunden Lebensweise und dem Cholesterin, ja, wahrscheinlich! Alles Lügenmärchen. Ungesunde Lebensweise stimmt sogar, aber nicht so, wie es die Ärzte und die Pharmaverbrecher den Leuten einzureden versuchen, dachte er, die nur ihre Mittelchen verkaufen wollen, die ihm dann die Scherereien der biologischen Stufe machten, sondern ungesund, weil ohne Sex, das war das ganze Geheimnis …

Er wusste, während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, dass sie überzogen und pubertär waren und er sie nie jemandem offenbaren konnte, auch ihr nicht. Besonders ihr nicht. Er hätte sich angehört wie ein Fünfzehnjähriger nach dem ersten Sex mit einer womöglich deutlich älteren Partnerin, total überwältigt. Es stimmte ja auch. In gewisser Weise war es seine erste sexuelle Erfahrung. Die erste richtige. Alles davor nur Surrogat, auch mit Hilde, leider, aber es war so, daran konnten zwanzig Jahre Ehe nichts ändern und nicht zwei Töchter und alles …

Er hatte nicht gewusst, dass Sex so sein konnte. Er beugte sich vor, streichelte ihren Rücken und küsste sie zwischen die Schulterblätter. Langsam zog er sich zurück, sie seufzte; der Laut glich dem beim Vorstoß, er fand das seltsam und faszinierend, wenn man die beiden Seufzer aufnähme, dachte er, nur diese Seufzer, könnte niemand entscheiden, welcher vom Anfang stammte und welcher vom Ende. Als ob es gar keinen Unterschied gäbe, was nur daran liegen konnte, dass es Anfang und Ende gar nicht gab, weil das nur zwei Seiten derselben Medaille waren und das Eigentliche, das, was sie beide verband, Helga und ihn, keinen Anfang hatte und kein Ende, also ewig währen würde.

»Woran denkst du?« Sie hatte sich aufgerichtet und umgedreht, den Fichtenast losgelassen, natürlich; wieso verdorrte der nicht im selben Augenblick? »Du denkst wieder, gib’s zu!« Mit einer trägen Geste entsetzlicher Laszivität strich sie den Rock glatt, setzte die Ellbogen auf die Brüstung, lehnte sich nach hinten, ohne sich auf die Bank zu setzen, auf der sie breit gespreizt gekniet hatte, er sah es noch vor sich, es war erst zwei Minuten her, aber im selben Augenblick kam ihm das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ein Trugbild vor, eine fotorealistisch am Computer zusammengebastelte Montage, dazu brauchte man nicht nach Hollywood, das brachte jeder daheim zustande; es hatte nur nichts mit ihm zu tun. Es ist zu schön, dachte er, deshalb kann ich es nicht glauben, der Verstand weigert sich, die Erinnerung als echt einzustufen, das muss ein Fake sein, sagt der Verstand, das gibt es nicht.

»Woran denkst du wieder?«, insistierte sie, löste sich von der Brüstung, legte ihm die Hände an den Hals, zog ihn mit sachter Bewegung näher, sah das Wasser in den Augen glänzen, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Du sollst nicht denken, nicht traurig sein, es soll doch schön sein, nicht traurig …«

»Ich bin nicht traurig«, flüsterte er.

»Aber du weinst doch …«

»Weil ich glücklich bin …«

Sie umarmte ihn. Dieses Reden danach hatte sich so eingespielt; sie erwartete auf die Frage: Woran denkst du? keine Antwort. Es war kein Text, an den sie sich hätten halten müssen, nur ein Set bestimmter Sätze und Handlungen, immer ähnlich, immer eine Beschreibung überirdischen Glücks. Sie hatten das nicht geplant, alles ergab sich im Lauf der Zeit. Manche Worte hatten einen Nebensinn, denken war so ein Codewort während der Arbeit, wenn sie ihn bei der Diskussion eines technischen Problems fragte: Wir sollten doch noch eine O2-Bestimmung machen, nur um sicherzugehen – was denkst du? Dann antwortete er ungefähr: Ich denke, das ist eine gute Idee, oder etwas Ähnliches. So konnte es noch eine Weile weitergehen mit verschiedenen Verbindungen von denken. Mitdenken, vordenken, nachdenken. Und niemandem, der sonst dabei war, fiel etwas auf, obwohl sie sich kaum noch das Lachen verbeißen konnten. Oder weinen.

»Wenn ich an den Sandabscheider denke, könnte ich weinen«, hatte er heute in der Sitzung gesagt und auf die überraschten Blicke der anderen von der Unvernunft der Leute zu schwadronieren begonnen, was sie alles ins Klo werfen und so weiter, eben gestern habe er einen Regenschirm aus dem Sandabscheider gezogen … Die Rede war völlig wirr, wurde nur deshalb nicht höhnisch kommentiert, weil er der Chef war; dass ein Schirm in einem der Abscheider steckte, kam schon vor, der stammte dann aber sicher nicht aus einem Klosett.

Nur Helga hatte ihn nicht angesehen, auf die Tischplatte im Besprechungszimmer gestarrt, aber alles richtig registriert und am Nachmittag eine ihrer Sandalen »verloren«, die rechte, zwei Hüpfschritte mit dem anderen Fuß zurück, den nackten rechten angewinkelt hochgehalten. Um den Laborboden nicht zu berühren, bis sie wieder in ihre Sandale geschlüpft war. Um ihm zu zeigen, dass sie seine Frage verstanden und gleichzeitig beantwortet hatte. Ja, sie hatte Lust, ja.

Sie trafen sich immer am Abend. Weit...


Mähr, Christian
Christian Mähr wurde 1952 in Nofels bei Feldkirch (Vorarlberg) geboren und lebt heute in Dornbirn. Er ist Autor, Bienenzüchter und Doktor der Chemie und langjähriger freier Mitarbeiter des ORF für die Redaktion Wissenschaft und Umwelt. Werke (u. a.): Magister Dorn (1987), Fatous Staub (1991), Simon fliegt (1998), Die letzte Insel (2001), Vergessene Erfindungen. Warum fährt die Natronlok nicht mehr? (2002), Von Alkohol bis Zucker (2010) und bei Deuticke die Romane Semmlers Deal (2008), Alles Fleisch ist Gras (2010), Das unsagbar Gute (2011) und Knochen Kochen (2015).



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