Mähr Vergessene Erfindungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8321-8612-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geniale Ideen und was aus ihnen wurde
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8612-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer kennt noch die geniale Natronlok, die jahrelang lärm- und abgasfrei durch Berlin und Aachen fuhr, ehe sie aus dem Verkehr gezogen wurde? Oder den Stirlingmotor und das Ionentriebwerk?
Für jeden verständlich erklärt Christian Mähr verblüffende Ideen aus der Technikgeschichte. Er bettet sie geistreich ein in die Umstände ihrer Entwicklung und ihres Verschwindens. Dabei wirken die zehn spannendsten Erfindungen, die zu ihrer Zeit keine Chance hatten, heute erstaunlich zeitgemäß.
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Der Flettner-Rotor Bei dieser Erfindung der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wird alles von einem Bild ausgedrückt. Die folgende Abbildung zeigt im Vordergrund ein kleineres Schiff mit der Aufschrift des Erfindernamens – und zwei riesigen schornsteinartigen Gebilden. Nur kommt aus ihnen kein Rauch – im Gegensatz zu den Schornsteinen beim gewöhnlichen Dampfschiff im Hintergrund. Optisch ansprechende und »belehrende« Komposition, man schaut bei dem Bild nicht gleich wieder weg. Die runden Dinger sind keine Kamine, so viel ist klar. Was sind sie dann? Rotierende Zylinder, Flettner-Rotoren. Hohle Zylinder aus ein Millimeter dickem Stahlblech, innen durch eine Gitterkonstruktion ausgesteift, 2,8 Meter dick und gut 15 Meter hoch. Sie stehen drehbar gelagert auf einer Art Zapfen, ähnlich dem Unterbau bei einem Kran. Dort ist auch der jeweilige Elektromotor eingebaut. Er leistet 11 Kilowatt bei 750 Umdrehungen pro Minute. Den Strom bekommen die beiden E-Motoren von einer Dynamomaschine, die wiederum von einem 45 PS starken Dieselmotor angetrieben wird. Das Schiff hat nicht immer so ausgesehen. Die »Buckau« war als Dreimastgaffelschoner gebaut worden, 45 Meter lang, neun Meter breit mit 900 Tonnen Wasserverdrängung, sie hatte einen Hilfsmotor für Flauten und schwierige Manöver im Hafen. Sie entsprach dem üblichen Typ des kleinen Segelfrachtschiffs vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Die zum »Rotorschiff« umgebaute Buckau beim Auslaufen. Die rotierenden »Garnrollen« wirken wie Segel von der zehnfachen Fläche. [1] So weit die nüchterne Beschreibung, das rein Technische. Jemand hatte offenbar dem schmucken Schiff Masten und Takelage weggenommen und durch diese unmöglichen Zylinder ersetzt. Die konnten sich nun um ihre Längsachse drehen, dieselelektrisch. Aber warum nur, um alles in der Welt, was hatte man davon? Titelbild des 1926 erschienenen Bandes »Mein Weg zum Rotor« [2] In seinem Buch »Mein Weg zum Rotor« verwendet Anton Flettner den Begriff nur ein einziges Mal: Walzensegel. Er hat sich nicht durchgesetzt. Schon damals sprach man nur vom »Flettner«-Rotor, der Name des Erfinders steht auch viermal größer als der Name »Buckau« auf der Seitenwand. Wir sind im Jahre 1924. Es gibt beim Auslaufen einen »Medien-Hype«, obwohl der Begriff erst siebzig Jahre später erfunden wird. »In wenigen Tagen waren die Nachrichten über das Rotorschiff und seine Einzelheiten über die ganze Erde verbreitet«, schreibt Flettner. »Aus allen Erdteilen gingen meiner Gesellschaft und mir Telegramme mit Glückwünschen und Finanzierungsangeboten zu. Monate hindurch erreichte die Geschäfts- und meine Privatpost einen Umfang, der kaum zu bewältigen war.« Es folgen Klagen, wie unmöglich es gewesen sei, die Autogrammwünsche zu befriedigen etc. – Ing. Flettner genießt spürbar die öffentliche Anerkennung nach Überwindung vieler Widerstände, Anfeindungen. Davon später. »Walzensegel« trifft es genau. Die schornsteinförmigen Gebilde auf dem Schiff sind einfach Segel. In Form senkrechter (rotierender) Walzen. Eben Walzensegel. Einen Zweck erfüllen Segel nur, wenn der Wind weht. Ebenso die Walzensegel. Stehen sie still, übt der Wind einen geringen Druck aus, drehen sich aber die Walzen, wirken unheimlich anmutende Kräfte. Dass es wirklich funktioniert, hat nicht einmal die Germaniawerft so richtig glauben können, die den Umbau der »Buckau« durchführte. Denn kaum war der erste Rotor installiert, ließ man ihn mit Werftstrom anlaufen – nur um zu sehen, ob sich wenigstens die Haltetaue ein bisschen strafften. Schon nach wenigen Umdrehungen versuchte das Schiff sich in Bewegung zu setzen (es herrschte wohl leichter Wind). Flettner erhielt einen aufgeregten Anruf über das Vorkommnis. »Ja, was haben Sie denn anderes erwartet?« war seine einigermaßen entgeisterte Antwort. Anton Flettner wurde am 1. November 1885 in Eddersheim am Main geboren. Er arbeitete als Lehrer, seine freie Zeit nutzte er zum autodidaktischen Studium der Naturwissenschaft. So wurde er zum Techniker und Erfinder. Mit 29 entwickelte er den »Landtorpedo«, eine Art ferngelenkten Panzer, der jedoch nie eingesetzt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg erfand er das »Flettner-Ruder« und den »Flettner-Rotor«, während des Zweiten Weltkriegs wandte er sich der Luftfahrt zu und wurde zum Hubschrauberpionier. Er wanderte nach Amerika aus und starb am 29. Dezember 1961 in New York. [3] Die Zweifel der Beteiligten leuchten auch heute noch ein. Die beiden Zylinder stellten dem Wind eine Querschnittsfläche von 85 Quadratmetern entgegen. Die frühere Takelung des Schiffes war zehnmal so groß gewesen. Trotzdem erreichte es beim selben Wind dieselbe Geschwindigkeit wie früher. Dort, wo die Rotoren stehen, wirken »unsichtbare« Segelflächen von zehnfacher Größe. Der offensichtliche Vorteil der Rotoren liegt in der leichteren Bedienung. Drehrichtung und Drehgeschwindigkeit der Rotoren lassen sich in Sekunden an einem Schaltpult einstellen. Von einer Hand. Dem stehen die stundenlangen komplizierten Segelmanöver des klassischen Segelschiffs gegenüber, ausgeführt von sehr vielen Händen (eine Viermastbark mit 2400 Quadratmeter Segelfläche braucht drei Dutzend Matrosen). Das Flettner-Schiff ist ein Segelschiff, angewiesen auf den Wind. Ohne Wind keine Fahrt. Keine unbekannten mystischen Kräfte treiben es an, nur der Wind. Statt Segeln hat es aber eine Segelmaschine in Form senkrecht stehender, sich drehender Zylinder. Der Effekt, der diese Walzen zu Segeln macht, ist der Magnuseffekt. Heinrich Gustav Magnus (1802 – 1870) war Chemiker und Physiker in Berlin. Er hatte unter anderem bei Berzelius in Stockholm studiert und war seit 1845 ordentlicher Professor der Physik und Technologie an der Berliner Universität. Er scheint in der ganzen Fülle der Erscheinungen ziemlich weitläufig herumexperimentiert zu haben, ein »wilder« Experimentator im Unterschied zum heute aktuellen »wilden« Denker. So bestimmte er die Ausdehnungskoeffizienten von Gasen, konstruierte ein Thermometer für Bohrlöcher, entdeckte ein nach ihm benanntes Platinsalz und so fort – über den Effekt, der seinen Namen bekannt gemacht hat, steht im Lexikon der Jahrhundertwende seltsamerweise kein Wort. Nebenamtlich war Magnus auch noch Lehrer an der Artillerieschießschule. Da gab es ein Problem: Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verwendete man bei den Kanonen gezogene Rohre, die dem Geschoss einen Drall mitgaben. Solche schnell rotierenden Geschosse trafen wesentlich besser. Bei Seitenwind wurden die Kanonenkugeln abgelenkt, natürlich seitlich, was niemanden wunderte, aber merkwürdigerweise auch in der Höhe, was eigentlich nicht sein durfte, dafür hatte man keine Erklärung. Professor Magnus untersuchte 1852 das Problem systematisch. Als Modell verwendete er einen senkrechten rotierenden Messingzylinder. Wird der nun von der Seite angeblasen, so wirkt eine Querkraft, ziemlich genau im rechten Winkel zur Windrichtung. Und zwar auf der Seite des Zylinders, wo er sich in dieselbe Richtung dreht, wie der Seitenwind weht. Magnus hat diesen Effekt im Modell festgestellt, aber nicht gemessen und auch nicht erklärt. In der Folge gab es zum Magnuseffekt mehrere Versuche in England, Frankreich und Deutschland, die Sache wurde als gelehrte Spielerei betrachtet; interessanter Vorlesungsversuch ohne weiteren praktischen Wert. Anton Flettner kam auf die Idee, die entstehende Querkraft zum Antrieb eines Schiffes zu nutzen, ähnlich, wie das bei einem Segelschiff der Fall ist. Wind umströmt einen stehenden Zylinder (oberes Bild). Der Zylinder rotiert in ruhiger Luft (mittleres Bild). Das untere Bild zeigt die Kombination: Wind umströmt einen rotierenden Zylinder. Wo die Stromlinien eng stehen, herrscht Unterdruck – in diese Richtung zieht die Querkraft. [4] Wie kommt es aber zum Magnuseffekt? Verblüffend einfach. Die schematischen Abbildungen stammen aus der Originalarbeit Flettners. Im oberen Teil wird ein stehender Zylinder vom Wind umströmt, er bläst in Pfeilrichtung von links nach rechts. Oberhalb und unterhalb des Zylinders erscheinen die Stromlinien etwas zusammengedrängt, vor und hinter dem Zylinder etwas voneinander entfernt; das heißt, der Luftstrom beginnt sich schon eine kleine Strecke vor dem Zylinder zu teilen. Die Luft ist eben ein zusammenhängendes Gebilde und rast nicht als wildes Gemisch einzelner Teile blindlings auf das Hindernis zu, um dort von ihm abzuprallen. Diese Auffassung von der Luft hatte Newton vertreten; sie gilt nur in sehr verdünnten Gasen und bei sehr hohen Geschwindigkeiten der Luftmoleküle. Normale Luft folgt den Gesetzen der Fluiddynamik. Bei nicht zu hohen Geschwindigkeiten strömt Luft wie durch eine Unzahl paralleler Kanäle, die so genannten »Stromröhren«, die sich gegenseitig fast nicht beeinflussen. Jedenfalls kommen vernünftige Werte heraus, wenn man so tut, als gäbe es in der Strömung solche Röhren tatsächlich, wenn man also dieses Modell für die Berechnung verwendet. Ihre Wände sind unsichtbar, eben nur »gedacht«, in der Mitte jeder Röhre kann man sich gleich eine Stromlinie dazudenken. Dass die Vorstellung nicht falsch ist, kann man beweisen, wenn man aus kleinen Öffnungen Rauch in den Wind entlässt, er bildet dann einzelne Fäden, eben die Stromlinien. Wo Stromlinien sich zusammendrängen, herrscht Unterdruck, wo sie sich voneinander entfernen, Überdruck. Warum? Was geschieht, wenn Luft (oder Wasser) auf ein Hindernis zuströmt? Die...