E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
Maguire Daddys kleiner Liebling
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-8244-9
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
ISBN: 978-3-7517-8244-9
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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1
Fast mein ganzes Leben lang habe ich geglaubt, dass meine Geschichte an dem Tag begann, an dem ich geboren wurde. Erst als ich die Vierzig überschritten hatte, fand ich heraus, dass diese Geschichte schon viel früher begonnen hatte. An jenem Tag, an dem ich von den Geheimnissen meiner Familie erfuhr, machte ich mich auf die Suche nach den Fotoalben, die meine Mutter vor meinen Augen mit größter Sorgfalt mit unseren gemeinsamen Erinnerungen gefüllt hatte. Hatte man sie etwa weggeworfen? Dieser Gedanke kam mir, als ich wie verrückt die Kartons durchsuchte, die mein Vater aus Schottland mitgebracht und mir überlassen hatte, damit ich sie sichten konnte. Ich machte einen Karton nach dem anderen auf, fand alte schäbige Kleidung, verbeulte Bratpfannen, ein paar Küchenutensilien und überraschenderweise auch ein paar Bücher von bekannten Autoren, die ich meinen Vater niemals hatte lesen sehen. Alles warf ich ungeduldig zur Seite, bis ich mich bereits damit abzufinden begann, dass sie nicht mehr da waren, weil er sie nicht aufbewahrt hatte. Dann auf einmal ertasteten meine Finger mehrere längliche Objekte ganz unten im Karton. Ich hatte sie entdeckt! Ich blies die Staubschicht weg, die mit der Zeit den glänzenden roten Einband der Alben hatte matt werden lassen, setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, legte sie auf meinen Schoß und brachte sie in die richtige Reihenfolge. Es waren zwei Alben, die die drei Jahre vor meiner Geburt umfassten, außerdem zehn Alben für jedes der zehn Jahre bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine Mutter wusste, dass sie aus unserem Leben verschwinden würde. Als ich mir die Fotos anschaute, die ich so lange nicht mehr gesehen hatte, kam ich zu dem Entschluss, dass ich die einzigen Zeugnisse meiner frühen Jahre und der meines Bruders nicht in den Plastikhüllen dieser Alben lassen wollte. Ich ging davon aus, dass sich das eine oder andere Foto finden würde, das ich lieber verschwinden lassen wollte. Meine neugierige kleine Tochter Katy würde dann zweifellos wissen wollen, was dort gewesen war, wo solche Lücken klafften. Also fing ich damit an, jede dieser Hüllen aufzumachen und sämtliche Fotos herauszuholen. Ich hatte eine Idee, wie ich es mir selbst leichter machen konnte, sie meiner Tochter zu zeigen: indem ich aus den Fotos, die ich behalten wollte, ein Video machte. Sie war noch jung genug, um sich so etwas mit mir zusammen ansehen zu wollen, aber auch schon alt genug, um auf die Idee zu kommen, Fragen über ihre Großeltern zu stellen. Ich glaube, sie war in ihrer Schule die Einzige, die keine Großeltern hatte. Oder genauer gesagt: die keine Großeltern von der Art hatte, denen ich sie hätte vorstellen können. Sie brauchte Antworten auf all ihre Fragen. Mit dem Video würde ich in der Lage sein, ihr Geschichten über all die Leute zu erzählen, die sie darin zu sehen bekam. Es waren nicht zwangsläufig Geschichten, die ausschließlich der Wahrheit entsprachen. Zum Glück gefielen Katy die Geschichten, die ich mir für sie ausdachte, stets viel besser als die in den Büchern, die ich ihr kaufte. Seit dem Tag, an dem ich zu Papier gebracht hatte, wie unserer Katze Flügel gewachsen waren, damit sie ins magische »Katzenland« hatte fliegen können, wollte Katy unentwegt neue Geschichten von mir hören. Im Video gab es auch zwei Leute, zu denen Katy eine besonders enge Beziehung entwickelte. Die Kindheit dieser beiden würde auch ein gewisses Maß an Übertreibung erforderlich machen, ging es mir wehmütig durch den Kopf. »Was machst du da, Mummy?«, war die Frage, die sie mir während dieser Arbeit immer wieder stellte. Jedes Mal antwortete ich geduldig: »Du musst noch warten, dann wirst du es schon sehen, Sweetie.« Warten war allerdings keine Eigenschaft, die meine Tochter allzu gut beherrschte. Dennoch war ich entschlossen, sie mein Werk erst sehen zu lassen, wenn es mir gelungen war, die Abfolge der Bilder so ansprechend wie möglich zu gestalten. Als ich die Fotos betrachtete, die auf dem Monitor an mir vorbeizogen, musste ich erkennen, dass sie nicht jenes liebevolle Bild von meiner eigenen und von der Kindheit meines Bruders zeichneten. Katy zuliebe war es nötig, die Vergangenheit ein wenig zurechtzubiegen, um diese Zeit in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Ich konnte nur hoffen, dass sie noch zu jung war, um das zu durchschauen. Was diese Alben zeigten, war ohnehin ein einzelnes, großes Trugbild. Jedes Foto war von meiner Mutter so ausgewählt worden, dass ein nichtsahnender Betrachter glauben musste, eine perfekte Familie vor sich zu haben. Mit einem Mal befand ich mich wieder in diesem makellosen Haus, in dem ich meine ersten Jahre verbracht hatte. Dort war der Salon, wie meine Mutter ihn immer nannte. Die Sofakissen waren stets perfekt aufgeschüttelt und platziert, die Vorhänge wurden von goldfarbenen Bändern mit passenden Quasten zusammengehalten, frische Schnittblumen standen in funkelnden Kristallvasen. Der Unterschied zwischen diesem Zimmer und dem, wie man es bei meinen Freundinnen vorfindet, die Kinder haben, besteht darin, dass es nicht mit liegen gelassenem Spielzeug übersät ist. Aber es war uns ja auch nicht erlaubt, unsere Kinderzimmer mit irgendwelchen Spielsachen zu verlassen. Dadurch hätte unser Zuhause ja »bewohnt« aussehen können, wie ich es bezeichne, während meine Eltern von »Unordnung« geredet hätten. Zweifellos gingen Besucher davon aus, dass wir den ganzen Morgen in aller Hektik damit beschäftigt gewesen waren, sämtliche Spielsachen bis zu deren Eintreffen wegzuschaffen. Allerdings irrten sie sich, denn bei uns zu Hause sah es immer aus wie eben erst aufgeräumt. Ich kehrte ins Hier und Jetzt zurück und betrachtete die Fotos, die meine Eltern zeigten, wie sie in ihrem professionell angelegten Garten Freunde empfingen. Dort war mein Vater, der sein »öffentliches« Gesicht zur Schau stellte – das des liebevollen Vaters und des treuen Ehemanns, der neben dem glänzenden Grill stand. Sein charmantes Lächeln wich ihm nicht mal von den Lippen, wenn er das von meiner Mutter marinierte Fleisch auf den Rost legte. Hinter ihm stand meine geschminkte Mutter in hochhackigen Schuhen und schenkte den Gästen diverse Getränke ein. Dieses Foto weckte prompt eine andere Erinnerung an Dad, wie er mit todernster Miene erklärte, ihm gefalle es nicht, wenn eine Frau eine Hose trug, nicht mal bei einer Gartenparty. »Nicht in meinem Haus«, hat er dazu ganz sicher gesagt, denn das war ein Spruch, den ich in meiner Kindheit oft von ihm zu hören bekam. Er hielt sie auch dazu an, dass die Kinder immer einen adretten und ordentlichen Eindruck machten. »Wir wollen doch, dass sie uns gut dastehen lassen, nicht wahr?«, fügte er dann an und zwinkerte ihr scheinbar vergnügt zu. Und so saßen wir alle drei da, die Haare ordentlich gekämmt, die Kleidung frisch gebügelt. Andy und ich saßen von den Erwachsenen so weit entfernt wie nur irgend möglich, während Gavin sich immer in der Nähe meines Vaters aufhielt, eindeutig mit der Absicht, dessen Zuneigung zu gewinnen, indem er sich nützlich machte. Wenn keine Gäste da waren, konnte ihm das nicht gelingen, ganz gleich, was er tat. In der Öffentlichkeit dagegen legte Dad ihm den Arm um die Schultern, was der nach jeglicher Form von Zuneigung lechzende Gavin als ernstgemeinte Belohnung für seine Hilfe verstand. Ihm war nicht klar, dass mein Vater nur zeigen wollte, was für ein großartiger Stiefvater er doch war. Als ich älter war, kam ich zu der heute noch gültigen Überzeugung, dass er meine Mutter, Andy und mich als sein Eigentum betrachtete. So wie sein Haus und sein großes Auto sollten auch wir von einem strahlenden Erscheinungsbild sein, denn damals wollte mein Vater von seinen Zeitgenossen für seinen Besitz nicht nur bewundert, sondern beneidet werden. Er wusste nur zu gut, dass er bei anderen eine solche Regung nicht hervorrufen würde, wenn sie Gavin mit seinem unförmigen Körper und dem mangelnden Charme sahen. Da Dad nur das sein Eigen nennen wollte, was vollkommen war, verabscheute er Gavin allein schon aus diesem Grund. Ich sah mir die weiteren Fotos unserer mustergültigen Familie an. Es existierte nur ein Bild von einem Kindergeburtstag, und ich kann nicht mal sagen, ob ich oder Andy an dem Tag Geburtstag hatte. Ich habe auch keine Ahnung mehr, wer die anderen Kinder waren, aber ganz bestimmt waren sie die handverlesenen Söhne und Töchter von den Leuten, mit denen meine Mutter befreundet sein wollte. Leute, die schon bald spurlos verschwanden, nachdem sich unser Leben radikal geändert hatte. Es bringt nichts, dieses Foto ins Video zu übernehmen, entschied ich. Als ich die Fernbedienung wieder auf den Bildschirm richtete, tauchte das Foto einer hübschen blonden Frau auf, die ein cremefarbenes Spitzenkleid trägt, das bis kurz unter die Knie reicht. Voller Bewunderung sah sie zu ihrem frisch gebackenen Ehemann auf – meinem Vater, der mit seinen dunklen Haaren und den grünen Augen extrem gut aussah. Man konnte meiner Mutter ansehen, dass sie vor Glück förmlich strahlte. Es gab für mich nicht den geringsten Zweifel, dass meine Mutter damals restlos in ihn verliebt gewesen war. Was seine Gefühle für sie angeht, habe ich bis zum heutigen Tag keine...