E-Book, Deutsch, Band 7, 352 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
Maguire Ich will nicht mehr schweigen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-8245-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Kindheit hinter Mauern
E-Book, Deutsch, Band 7, 352 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
ISBN: 978-3-7517-8245-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Wenn, was selten genug vorkommt, die zweijährige Isabelle schläft und die fünfjährige Sonia friedlich spielt, sinke ich voller Dankbarkeit in einen Sessel, eine Tasse Tee in der Hand. Welche Mutter würde eine solche Gelegenheit nicht beim Schopf ergreifen? Aber das heißt nicht, dass ich diese Momente erholsam finde. Nur zu oft beobachte ich, wie meine Tochter alle Gegenstände sorgsam in ihrer Spielzeugschachtel aufreiht oder ihre Puppen exakt so hinsetzt, wie sie sitzen sollen. Und dann bin ich auch schon auf dem Weg in meine eigene Kindheit, obwohl ich diesen Weg lieber nicht betreten würde. Ich weiß inzwischen, warum das so ist: Sie ist eine kleine Ausgabe von mir. Jedenfalls hat das ihr Vater gesagt, als er sie zum ersten Mal im Arm hielt. Ein Blick in ihr kleines Gesicht, auf ihre langen Gliedmaßen und den blonden Haarschopf – und er sagte mit strahlendem Lächeln: »Sie ist eine Miniausgabe von dir, Emily.« Damals wusste ich noch nicht, in welchem Ausmaß das wahr sein würde. Damals habe ich Patricks Bemerkung gar nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, ich war viel zu absorbiert von dem Anblick meiner kleinen Tochter. Von ihrem ersten Schrei geriet ich in eine Welle intensiver, reiner Liebe. Und als die Hebamme sie mir auf die Brust legte, hielt ich sie instinktiv fest. »Sie ist perfekt«, murmelte ich. »Einfach perfekt.« Und mein zweiter Gedanke war, dass ich sie immer beschützen würde. »Du wirst eine glückliche Kindheit haben«, flüsterte ich ihr ins Ohr und schwor mir, genau dafür zu sorgen. In den ersten Tagen, nachdem ich aus dem Krankenhaus gekommen war, besuchte uns Patricks Mutter Irene, um mir zu helfen. »Du musst dich noch ausruhen«, sagte sie zu mir und überredete mich, meine Tochter in ihr Bettchen zu legen. Doch sobald Sonia nicht mehr bei mir war, fühlten sich meine Arme schwerelos und leer an. Ich hätte sie am liebsten den ganzen Tag im Arm gehalten. Stattdessen legte ich mich auf die Seite, eine Hand auf dem Rand ihres Bettchens, und lauschte der Musik ihres Atems. Ich liebte dieses Geräusch, das schnelle Ein- und Ausatmen. Dieser winzige, flache Babyatem rührte mich fast zu Tränen. Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal spürte, dass sie mich beobachtete. Und wie etwas später ihre Beine strampelten, die kräftig und fest geworden waren. Und dann der Tag, an dem sie mich zum ersten Mal anlächelte! Ich war sicher, es war keine Blähung gewesen, wie irgendwer behauptete. Nicht einen Tag ihrer Entwicklung habe ich vergessen. Es dauerte zwei Jahre, dann bemerkte ich erste kleine Anzeichen dafür, dass sie mir ähnlicher war, als Patrick und ich am Anfang gedacht hatten. Es fing an, als sie die erste feste Nahrung zu sich nahm. Sie schob meine Hand weg, als ich versuchte, sie so zu füttern, wie ich es bisher mit püriertem Essen getan hatte, das ja nur eine Farbe hatte. Vom ersten Moment an wollte sie ihren eigenen Löffel haben. Und dann wurde mir klar, warum: Es fiel ihr zwar noch schwer, aber sie legte großen Wert darauf, das Gemüse zu sortieren. Das Kartoffelpüree durfte die Karotten nicht berühren und die Karotten mussten getrennt von den Erbsen liegen. Als wir zum ersten Mal ihren entschlossenen Blick sahen, mit dem sie den Löffel bewegte und dafür sorgte, dass das Essen auf ihrem Teller so angeordnet war, wie sie es für richtig hielt, kniff mein Partner amüsiert seine funkelnden grünen Augen zusammen. »Ich hab dir doch gesagt, sie ist so wie du.« Ja, das war sie. Aber wir verbrachten natürlich auch viel Zeit miteinander, ich war ihr Vorbild, oder?« »Sie ahmt mich nur nach«, sagte ich und fing an, zu lachen, weil das Gemüse auf meinem Teller genauso ordentlich sortiert war. Aber es gab andere Anzeichen, die über ihre pingelige Art beim Essen hinausgingen. Dinge, die sie nicht nachahmen konnte. Dinge, die mir zeigten, dass sie viel mehr von mir geerbt hatte. Zum Beispiel, dass sie immer schrie, wenn ich ihr das Haar bürstete, das sich vom pflegeleichten Babyhaar zu dicken Locken entwickelt hatte. Wahrscheinlich hat es geziept, dachte ich beim ersten Mal und lief in den Laden, um ein Mittel zum Entwirren zu kaufen. Das half auch ein bisschen, wenn ich sehr vorsichtig bürstete, immer nur einen kleinen Bereich. Es dauerte eine halbe Stunde, aber das war nicht schlimm. Wirklich schlimm war das Baden. Wann immer Sonia in die Badewanne gehoben wurde, schrie sie ohrenbetäubend, schlug um sich und machte auf jede erdenkliche Weise klar, wie sehr sie das hasste. Vor allem, wenn man ihr die Haare wusch und mit der Dusche ausspülte. Sobald ein Wassertropfen an ihre Wimpern kam, brüllte sie los, und wenn man ihr Shampoo einmassierte oder Babylotion auf dem Körper verteilte, schauderte sie. Als wir zum ersten Mal gemeinsam in die große Wanne stiegen und ich die kreischende Sonia in den Armen hielt, stieg eine Erinnerung in mir auf, die ich all die Jahre fest weggeschlossen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich nicht meine Hände auf den Schultern meiner Tochter, sondern andere Hände, viel größer als meine, mit schwarzen Haaren auf den Handrücken. Und plötzlich sah ich nicht mehr meine Tochter vor mir, sondern mich selbst. Mein panisches jüngeres Selbst, das genau wusste, was passieren würde, und verzweifelt versuchte, diesen Händen zu entkommen. Ich konnte das hämische Lachen hören, das mir in den Ohren dröhnte wie Hagel, und das Wasser spüren, das aus der Dusche kam. Und ich wusste genau, was danach passiert war und wie ich als Fünfjährige geschrien und geschluchzt hatte. Ich konnte spüren, wie wund meine Kehle war, als ich tropfnass dastand und versuchte, aufrecht zu stehen, obwohl sich meine Beine so anfühlten, als wären keine Knochen mehr darin. Und dann brach diese Fünfjährige einfach zusammen und schnappte nur noch nach Luft. In diesem Moment gab ich Sonia ein Versprechen: Ich würde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas auch nur annähernd Ähnliches passierte. Ich würde dafür sorgen, dass das Badezimmer ein sicherer Ort für sie war. Seit diesem Tag denke ich mir alles Mögliche aus, damit ihr das Baden Spaß macht. Ich erzähle ihr Witze, erfinde Spiele mit der Gummiente und kleinen Plastikspielsachen – mit mäßigem Erfolg. Nur wenn ich Grimassen schneide, geht es einigermaßen. Das findet sie unglaublich lustig. »Mehr!«, ruft sie dann. »Mehr, Mummy!« Wenn ich sie aus der Badewanne hebe, tut mir das ganze Gesicht weh. Aber sie hat ein paar Mal gekichert und sogar schnaubend gelacht, was viel, viel besser ist als die entsetzlichen Schreie. Doch all das konnte die eine Frage nicht zum Schweigen bringen, die mich ständig beschäftigte. Die Frage, die ich der Frau vom Gesundheitsamt stellte, seit meine Tochter zwei Jahre alt geworden war. »Warum spricht sie noch nicht richtig?« Und jedes Mal erklärte man mir lang und breit, dass meine Tochter gesund und offensichtlich intelligent war. »Kinder entwickeln sich in ihrem eigenen Tempo. In allen anderen Bereichen ist sie ihrem Alter voraus. Ich meine, sie war doch schon sauber, bevor sie ein Jahr alt war! Und schauen Sie sich diese Zeichnungen an, die sehen aus, als hätte sie ein wesentlich älteres Kind angefertigt.« Das alles sagte die Frau vom Gesundheitsamt mit ihrer ruhigen, beruhigenden Stimme. Und es stimmte. Aber die nagende Sorge blieb in meinem Kopf. Eine Sorge, die ich noch ein ganzes Jahr lang zu ignorieren versuchte. Ich wusste, Sonia war ein intelligentes Kind, warum konnte ich mich damit nicht zufriedengeben? War ich nicht total stolz gewesen, als sie die Puzzles nach einem kurzen Blick doppelt so schnell zusammensetzte, wie es für eine Dreijährige normal gewesen wäre? Ich probierte es mit einem zweiten Puzzle für Vier- bis Sechsjährige und das Ergebnis war dasselbe. Und doch blieb diese nagende Sorge. Was, wenn Sonia so war wie ich? Wobei ich mit drei Jahren gesprochen hatte, daran erinnere ich mich genau. Gerade meine Fähigkeit zu sprechen brachte mich ja in Schwierigkeiten. Noch eine Erinnerung an meine Kindheit, die ich nicht sehen wollte und wegschob, um eine andere zu finden, die mich zum Lächeln brachte. Ich bin drei bis vier Jahre alt, liege auf dem Teppich bei meiner Großmutter, eine Schüssel Schokoladeneis vor mir. Ich hatte aufgehört zu essen, um etwas zu sagen. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber sie lachte darüber und sagte: »Du bist ein kleines Plappermaul, Emily.« Und dazu lächelte sie mich strahlend an. Ich konnte also mit drei Jahren sprechen. Und ich musste jeden Tag beobachten, dass Sonias Sprachentwicklung deutlich hinter ihrer Altersgruppe zurückblieb. Nicht nur, dass sie langsamer war als ich, sondern langsamer als alle anderen Dreijährigen im Kindergarten. Und wenn sie ein neues Wort lernte, dessen Klang ihr gefiel, dann behielt sie es in ihrem Mund und sagte es immer und immer wieder. Als ich das bemerkte, brachte ich sie zu einer Sprachtherapeutin. Von der ich nur dieselben tröstenden Worte zu hören bekam wie von der Frau aus dem Gesundheitsamt: »Sie ist ein intelligentes Kind. Und Kinder entwickeln sich in ihrem eigenen Tempo.« Ich zwang mich, das zu...