Mairhofer | Atom und Individuum | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

Reihe: Literatur- und Naturwissenschaften

Mairhofer Atom und Individuum

Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-11-054653-8
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

Reihe: Literatur- und Naturwissenschaften

ISBN: 978-3-11-054653-8
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Quantenmechanik und Brechts Episches Theater erschüttern das Paradigma einer unbeteiligten Betrachtung, die ihren Gegenstand unverändert lässt. Auf beiden Gebieten wird die Annahme der Kontinuität und strikten Kausalität der untersuchten Vorgänge sowie der Anschaulichkeit, der Individualität und Identität der beobachteten Objekte prekär.

Erstmals wird Brechts Bezug zur Quantenmechanik ausführlich untersucht. Die Wechselwirkung zwischen dem neuen Theater und der neuen Physik baut auf einem gemeinsamen historischen, sozialen und biographischen Hintergrund auf und schöpft aus einem Reservoir gemeinsamer Konzepte und Methoden. Die Spuren der Interferenz der beiden Wissensgebiete finden sich im Archiv mit dem Nachlass des Philosophen und Physikers Hans Reichenbach ebenso wie in Brechts Kaukasischem Kreidekreis. Aus der Neubestimmung von Atom und Individuum und ihrer problematischen erkenntnistheoretischen Beziehung zieht Brecht weitreichende ästhetische und ethische Konsequenzen und entwickelt in seinem Spätwerk eine Verhaltenslehre der Unschärfe.

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Zielgruppe


Philosophie, Kulturwissenschaft, Germanistik, Theaterwissenschaft


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1 Präludium: Helsinki im Winter
Helsinki im Winter: Das bedeutet vier Stunden Sonnenlicht am Tag, die Lufttemperatur bleibt fast durchgehend unter dem Gefrierpunkt des Wassers und eines der sehenswertesten Gebäude der Stadt ist der Bahnhof. In diesem Bahnhof treffen einander in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen die beiden deutschen Emigranten Kalle und Ziffel. Der Arbeiter Kalle, dem Konzentrationslager entkommen, und der Physiker Ziffel, von der Universität vertrieben, diskutieren bei einem Bier und einem Kaffee über den Zustand der Welt: Über den Zweiten Weltkrieg, der gerade ausgebrochen ist; über den Nationalsozialismus und über ihre Flucht vor der Verfolgung; dann kommt das Gespräch auf die Weltwirtschaftskrise, die all dem vorausgegangen ist. Hier, beim Gespräch über die Ökonomie, taucht in den Flüchtlingsgesprächen plötzlich die Quantenmechanik auf. Der Physiker Ziffel beschreibt das Problem, die Entwicklung dieser Krise zu verstehen: Der Untersuchung der Situation stellten sich eigentümliche Schwierigkeiten in den Weg. Ich muß hier an eine Erfahrung der modernen Physik denken, den Heisenbergschen Unsicherheitsfaktor. Dabei handelt es sich um folgendes: die Forschungen auf dem Gebiet der Atomwelt werden dadurch behindert, daß wir sehr starke Vergrößerungslinsen benötigen, um die Vorgänge unter den kleinsten Teilchen der Materie sehen zu können. Das Licht in den Mikroskopen muß so stark sein, daß es Erhitzungen und Zerstörungen in der Atomwelt, wahre Revolutionen, anrichtet. Eben das, was wir beobachten wollen, setzen wir so in Brand, indem wir es beobachten. So beobachten wir nicht das normale Leben der mikrokosmischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtung verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren. (Brecht [1967] Bd. 14, 1420) Der Heisenbergsche Unsicherheitsfaktor, welcher hier angeführt wird, ist die Unschärferelation, die Werner Heisenberg 1927 formuliert hatte und für welche er 1932 den Nobelpreis erhielt. Heisenberg hat diese Relation durch ein Gedankenexperiment begründet, das sogenannte Heisenbergsche Mikroskop (Heisenberg [1927] 174ff.). Tatsächlich richtet das Licht in diesem Mikroskop gewissermaßen „Erhitzungen und Zerstörungen“ an; allerdings kommt es dabei nicht, wie Brechts Formulierung es impliziert, auf die Lichtstärke im physikalischen Sinn an, sondern auf die Wellenlänge des verwendeten Lichtes. Um sehr kleine Objekte im Mikroskop zu sehen, wird möglichst kurzwelliges Licht benötigt – oft wird das Gedankenexperiment deshalb auch als ?-Strahlen-Mikroskop bezeichnet. Niels Bohr betont, dass bereits in der klassischen Physik die Wechselwirkung des untersuchten Objekts mit seiner Umgebung das Verhalten des Objekts beeinflusst. (Heisenberg [1969] 147) In der Thermodynamik verfälscht der Messvorgang das Ergebnis – so ändert zum Beispiel das Thermometer die Temperatur einer Flüssigkeit, wenn es in diese Flüssigkeit getaucht wird, um ihre Temperatur zu messen: Eine Temperaturmessung ist durch einen Wärmeaustausch definiert. (Heisenberg [1969] 147f) In der Quantenmechanik, wo Messapparat und Objekt beides von der Größenordnung der Atome sind, wird der Einfluss der Wechselwirkung aber so groß, dass er nicht mehr ignoriert werden kann. 1.1 Gedankenexperiment und Simulation
Brecht hat die mathematische Herleitung der Quantenmechanik nicht rezipiert, diese lag deutlich außerhalb seiner Kompetenzen. Wir werden aber sehen, dass er die Debatten um die Interpretation der neuen Physik aufmerksam verfolgt hat. Eine wichtige Rolle spielen in seiner Rezeption Gedankenexperimente. Tatsächlich waren in den frühen Jahren der Quantenmechanik Gedankenexperimente oft die einzige Möglichkeit, die Konsequenzen der neuen Physik zu diskutieren. Aber diese Gedankenexperimente verdeutlichen nicht nur im Nachhinein die Konsequenzen der neuen Physik: Thomas Kuhn zeigt, dass Gedankenexperimente ein wichtiges Instrument sind, um das herrschende Paradigma zu unterwandern und die Konsequenzen eines Perspektivenwechsels herauszuarbeiten. (Kuhn [1978b]) Das Gedankenexperiment des Heisenbergschen Mikroskops wendet Brecht auf soziale Phänomene an. Gedankenexperimente eignen sich besonders für einen Transfer zwischen den Wissensgebieten: „Der Form nach verbinden Gedankenexperimente [...] Literarizität und wissenschaftliche Experimentalität: Sie bedienen sich zwar narrativer Formate, aber diese ‚dokumentieren‘ eine Versuchsreihe“ (Krauthausen [2010] 316) Sie werden gleichmaßen von Wissenschaft, Philosophie und Literatur verwendet, wie der Sammelband Science & Fiction (Macho und Wunschel [2004]) zeigt. Allerdings beschreiben die Herausgeber*innen Gedankenexperimente als rein literarische Fiktion, sie sind qua der Präposition des „Gedanken-“ anti-performativ geworden: Denn im Gedankenexperiment verschmilzt der Plan, die mentale Versuchsanordnung, mit seiner Durchführung, dem empirischen Experiment. Wir haben nämlich gar keine Möglichkeit, die realen Konsequenzen in einer kontrafaktischen Annahme, einer strategischen Verfremdung, anders zu überprüfen als im Kopf; und wir können diese Konsequenzen in keiner anderen Form dokumentieren und überprüfbar machen als durch irgendeine Art von Erzählung. (Macho und Wunschel [2004] 11) Diese strikte Trennung des Gedankenexperiments vom realen Experiment steht in einer langen Tradition der Wissenschaftsphilosophie – von Francis Bacon über Ernst Mach und Thomas Kuhn bis zu Ian Hacking. (Krauthausen [2010] 291–295) Doch in der Physik hat die Entwicklung der technischen Möglichkeiten und experimentellen Praxis uns in den letzten vier Dekaden erlaubt, im Labor eine ganze Reihe von Gedankenexperimenten zu realisieren, die in den frühen Jahren der Quantenmechanik entwickelt wurden. So sind Experimente mit Heisenbergs Mikroskop mittlerweile Gegenstand von Doktoratsprojekten (Dopfer [1998]). Die Gedankenexperimente der Quantenmechanik haben heute Marktreife erreicht. Verschränkte Quantensysteme sind die Grundlage von Quantenkryptographie (Ekert [1991]) und werden uns andererseits in absehbarer Zeit erlauben, asymmetrische Verschlüsselungen wie RSA-Schlüssel problemlos zu knacken (Shor [1997]). Doch noch immer betreffen diese Experimente die Beschaffenheit der Welt und unsere Möglichkeiten, sie zu erkennen. Daher wagen es einige Physiker*innen mittlerweile, von „experimenteller Metaphysik“ (Shimony [1984] 36) sprechen. Gedankenexperimente stehen in engem Zusammenhang mit Simulationen und wissenschaftlichen Modellen. Wissenschaftliches Erkennen besteht stets in einer Rückkopplung zwischen Theorie und Experiment. Aus der Anwendung der Theorie auf eine konkrete Situation entsteht ein Modell. Dieses untersucht die Auswirkungen bestimmter Einflüsse, während andere ignoriert werden. Die Kunst des Experimentierens besteht darin, diese vernachlässigten Einflüsse so weitgehend auszuschalten, dass der Ausgang des Versuchs tatsächlich weitgehend unabhängig von ihnen ist. Die Simulation ist dadurch gekennzeichnet, dass das Experiment nicht in jenem physikalischen System durchgeführt wird, welche die Theorie beschreibt, sondern auf einer Plattform, die das ursprüngliche System ersetzt. Im Fall von analogen Simulationen ist diese Plattform ein physikalisches System, das so arrangiert wird, dass aus seinem Verhalten auf das simulierte System geschlossen werden kann. Oft werden heute Simulationen aber auch numerisch durchgeführt, und das simulierte physikalische System wird in ein logisches System übersetzt. Simulationen übersetzen wie Modelle zwischen Theorie und Experiment. In manchen Fällen werden sie selbst Teil des Experimentalsystems. So werden bei den Messungen an den Teilchenbeschleunigern des CERN bekannte und daher uninteressante Ereignisse sofort aus den Daten aussortiert und verworfen. Dies geschieht auf der Grundlage von Simulationen, welche diese Ereignisse und ihre Häufigkeit vorhersagen. Nur so lässt sich unter den enormen Datenmengen das oft verschwindend kleine Signal einer neuen Entdeckung identifizieren. Dabei müssen die Simulationen aber auch die Eigenschaften des Messapparates selbst berücksichtigen. (Dippel und Mairhofer [2017] 74) Damit entsteht eine epistemische Schleife: Die Simulation übersetzt die Theorie in eine Prognose von Ergebnissen und wird dabei selbst Teil des Messapparates. Gleichzeitig werden auch die Messinstrumente simuliert und dadurch in das theoretische Modell zurückübersetzt. Die Simulation nimmt so eine dritte Position neben und zwischen Theorie und Experiment ein. (Dippel und Warnke [2022]) Ihre Gültigkeit gewinnt sie nicht daraus, dass sie die Struktur der Theorie reproduziert, sondern nur daraus, dass ihre Vorhersagen mit den Prognosen der Theorie und den Ergebnissen des Experiments übereinstimmen. Dabei können in der Simulation auch Annahmen gemacht werden, welche der simulierten Theorie widersprechen. (Michielsen und de Raedt [o.J.]) Heutzutage werden zunehmend Quantensysteme in Simulationen eingesetzt. Denn diese taugen zur Imitation der Natur viel besser als klassische, binäre Computer. Richard Feynman hat dies vorhergesagt: „Nature isn’t classical, dammit, and if you want to make a simulation of nature, you’d better make it quantum mechanical ...“ (Feynman [1982] 486) Das epische Theater war dem Quantencomputer weit voraus. Die Trennung zwischen Gedankenexperiment und Simulation...


Lukas Mairhofer, Universität Wien, Österreich.



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