Mantel | Im Vollbesitz des eigenen Wahns | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Mantel Im Vollbesitz des eigenen Wahns

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8931-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8931-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Muriels Elternhaus lebt mittlerweile Colin Sydney mit seiner Familie, einer der alten Nachbarn von ihr und ihrer Mutter Evelyn. Vor allem ihn und die Sozialarbeiterin Isabel Field macht Muriel für die Geschehnisse von vor zehn Jahren verantwortlich. Der verheiratete Colin und Isabel waren einst ein Liebespaar. Beide sind aus den Auseinandersetzungen mit Muriel und Evelyn nicht unbeschadet hervorgegangen. Isabel gab damals nicht nur Colin, sondern auch ihren Beruf auf, während Colin in seine trostlose Ehe zurückkehrte. Mittlerweile haben sie angesichts pflegebedürftiger Eltern, renitenter Teenager, schwangerer Töchter und fremdgehender Ehemänner längst resigniert. Dagegen ist Muriels Energie ungebrochen. Auch wenn sie sich selbst als verrückt und dumm bezeichnet, legt sie eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag, um Rache zu üben. Bei den Sydneys schleicht sie sich als grell geschminkte Putzfrau Lizzie ein; bei Isabel pflegt sie deren Vater im Altenheim als selbstlose, arme alte Mrs Wilmot. Ihre Rollen spielt Muriel so gut, dass keiner sie erkennt – vielleicht auch deshalb, weil jeder die Ereignisse von damals vergessen will. Erschöpft vom alltäglichen Wahnsinn, ahnen sie nicht, dass sie längst nicht mehr allein über ihr Leben bestimmen.

Mantel Im Vollbesitz des eigenen Wahns jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


KAPITEL 1 »Ich frage mich, wer der neue Hofdichter wird«, sagte Colin Sidney, als er zum Frühstück hinunterging. Von seinen Mitbewohnern in Haus Nummer 2 an der Buckingham Avenue kam keine Antwort. Auf halber Treppe hielt er kurz inne und sah aus dem kleinen Fenster auf das Dach seiner Garage und den Garten des Nachbargrundstücks hinaus. »Also wer?«, murmelte er. Sonst gab es nichts zu sehen, nur ein paar am morgendlichen Acht-Uhr-Himmel dahinjagende Wolken, die vielleicht etwas Sonnenschein versprachen, darunter dicht gedrängt grüne, tropfende Bäume. Mittsommer. Colin ging weiter und zupfte an seiner Krawatte. Hinter ihm bereiteten sich die drei jüngeren Kinder auf ihren Tag vor. Er hörte Schreien und Fluchen, Türen wurden zugetreten. Das Radio plärrte, und gleichzeitig lief eine Platte. Acid Raine and the Oncogenes ließen die Wände mit ihrer aktuellen Hitsingle erbeben. »Ted Hughes?«, fragte er. »Larkin?« Es gab vielleicht noch eine Gnadenfrist von zehn Minuten, bis die Kinder die Treppe heruntergestürmt kamen, über ihr Frühstück herfielen, den täglichen Kampf gegeneinander fortführten und ihre Eltern beleidigten. Colin betrachtete sich im Dielenspiegel. Er wünschte, Sylvia würde das Ding umhängen, damit nicht jeder Tag mit dieser Konfrontation begann. Vielleicht sollte er sie darum bitten. Ihn von sich aus umzuhängen kam nicht infrage. Er hatte seine Zuständigkeitsbereiche, Einrichtungsfragen gehörten nicht dazu. Er sah einen Mann von dreiundvierzig Jahren mit hellblauen Augen und lichtem Haar, dessen gutes Aussehen, wie er sich sagte, mit den Jahren etwas verblichen war. Aber nein, die Schönheit von Kurtisanen verblich, Lehrer verschlissen höchstens. Er sah eine gewisse Hilflosigkeit, in der Familie wie draußen im Alltag, einen Mangel an Stärke, moralisch wie körperlich. Angesichts des Krachs oben im Haus tröstete er sich mit einem Zitat: »Sie verhunzen dich, deine Mum und dein Dad/Vielleicht wollen sie es nicht, aber sie tun’s.« Sylvia war bereits in der Küche. Er glaubte, ihre spezielle Müslimischung wie einen Steinschlag in eine Schüssel stürzen zu hören. Doch stattdessen stand sie mitten im Raum, den Kopf in den Nacken gelegt, und sah nach oben, als er hereinkam. »Was für eine Schweinerei«, sagte sie. Die Decke und das obere Drittel der Wände waren nach dem Feuer gestern mit einer schmierigen, schwarzen Schicht überzogen. Lizzie, die Putzhilfe, war aus der Diele hereingekommen, und da hing er, stinkender, wabernder Rauch. Zum Glück hatte sie Geistesgegenwart bewiesen, sonst wäre es noch weit schlimmer gekommen. »Ich verstehe nicht, warum der Ruß so fettig ist«, sagte Sylvia. »Wir braten doch nie etwas.« Sie zog die Hose ihres Trainingsanzugs ein Stück höher. »Die Küche muss ganz neu gestrichen werden, und die Diele wahrscheinlich auch.« »Ja, schon gut«, sagte Colin und ging zum Tisch. Er war es leid, über das Feuer zu reden. »Kann ich ein Ei haben?« »Das geht auf deine Kappe«, sagte Sylvia. »Du hattest diese Woche schon zwei, und du weißt, was der Arzt sagt.« »Ich denke, ich bin ausnahmsweise mal leichtsinnig.« Colin öffnete den Kühlschrank. »War Sohn Alistair eigentlich zu Hause, als es brannte?« »Wenn ja, gibt er es nicht zu.« »Er ist der Grund für die meisten Katastrophen im Haus, oder? Und ich sage dir …« Er unterbrach sich. »Wo ist ein Topf für dieses Ei?« »Wo er immer ist, Colin.« »Ich sage dir, dass ich die Anstreicherei diesmal nicht übernehme.« Er drehte den Wasserhahn auf. »Entweder macht Alistair das, gegen Bezahlung, wenn nötig, oder wir holen jemanden.« Sylvia nahm eine Orange aus dem Bastkorb auf der Arbeitsfläche. »Ich verstehe nicht, warum du es nicht machst.« Sie warf die Orange von der rechten in die linke Hand. »Du hast doch bald Ferien.« »Richtig. Ich habe einen Tag Sommerferien, dann geht es mit dem Stundenplan fürs nächste Jahr los.« Sylvias Blick folgte ihm durch die Küche. »Willst du Brot?«, fragte sie. So, wie sie in ihrem hellblauen Trainingsanzug durch die Küche lief, war Sylvia kaum für die Mutter von vier Kindern zu halten. Suzanne, die Älteste, war jetzt achtzehn, und ihre Mutter hoffte auf den Tag, da sie jemand für Schwestern hielt. Die Sache mit Sylvias Alter, sie war unerklärlich. Mit zwanzig hatte sie wie vierzig ausgesehen, als alle Mädchen in der Straße wie ihre Mütter hatten sein wollen. Der Jugendkult war an ihr vorübergegangen. Mit dreißig hatte sie immer noch wie vierzig ausgesehen, füllig und mit schweren Brüsten, das Haar gebleicht und mit Haarlack aufgeplustert wie am Tag ihrer Hochzeit. Doch dann, Colin konnte nicht genau sagen, wann, hatte sie aufgehört, älter zu werden, hatte die Kontrolle übernommen, sich einen Gymnastikanzug gekauft und war schüchtern in einen Aerobic-Kurs im Gemeindesaal gegangen. Sie hatte sich an den Rand gestellt, zugesehen und verlegen versucht, die dicken Schenkel unter den Händen zu verbergen. In der darauffolgenden Woche hatte sie sich eine Kassette mit Discomusik gekauft und zu tanzen angefangen, war über die Teppichböden getrapst und hatte die Glasböden im von ihrer Mutter geerbten Porzellanschrank zum Klingeln gebracht. Der Porzellanschrank war rausgeflogen und durch einen mit Holzböden ersetzt worden. Nun trug sie das braune Haar in kurzen, dauergewellten Locken, die, wie Shane, ihr Friseur, dachte, das Feste, eher Harte in ihren Zügen abfingen, war hager und hielt diszipliniert und eigenwillig Diät. Was das Geistige anging, hatte sie einen Kurs an der Open University belegt. Und nachdem sie so viel Gewicht verloren hatte, kaufte sie ständig neue Kleider, winzige T-Shirts und knallige Baumwollröcke, billig und leger. Ihr Denken folgte dem gleichen Muster. Colin schien es, dass sie sich von den gängigen Vorstellungen und Ideen vor allem die zu eigen machte, die seine Selbstachtung untergruben und ihn sich höchst unbehaglich fühlen ließen. Wie schön wäre es, wenn sie eine Arbeit hätte, dachte Colin. Er war stellvertretender Rektor, und sie schlugen sich so durch. Es gab sogar ein paar Dinge, die sie sich leisteten, wie ihre Putzhilfe Lizzie Blank zum Beispiel (dienstags und donnerstags). Aber die Kinder aßen und aßen, ließen das Licht brennen, das Wasser laufen, mussten eingekleidet und verhätschelt werden, brauchten Geld fürs Schulessen und den Bus und verlangten immer mehr, für Neonfarben und Handschellen und all den anderen Kram, den man auf einem Acid-Raine-Konzert nun mal trug, wollten ihre eigenen Spezialdiäten, Unkostenbeiträge für Schulausflüge und ein Zelt, damit sie im Sommer im Garten schlafen konnten. Sie wollten ekelhafte Videos und Claire, das war beruhigend, nahm er an, eine neue Pfadfinderuniform. Jede Marotte kostete Geld. Vielleicht hingen sie sogar an der Nadel. Mehr kosten konnte es auch nicht. Wenn er die Kontoauszüge überprüfte, hatte er jedes Mal das Gefühl, aufgefressen zu werden, Monat für Monat, von innen heraus. Aber dummerweise gab es keine Jobs. Nicht für jeden, und sicher nicht für Sylvia. Sie besaß keinerlei berufliche Qualifikation, hatte nach der Schule nichts weiter gelernt, und zudem schien die alte Sylvia noch zu oft durch. Sie wurde hitzig, wenn sie verschiedener Meinung waren, und fiel unter Druck auf die Weisheiten der Wurstfabrik zurück, in der sie vor ihrer Heirat gearbeitet hatte. Colin nahm sich einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. »Und?«, sagte er. »Was hast du heute vor?« »Das Bürgerbüro, von zehn bis zwölf.« Sylvia schälte ihre Orange. »Später trifft sich das Komitee. Wir überlegen, ob wir ein Frauenhaus gründen wollen.« Da brodelte etwas Unterdrücktes in Sylvia, das sich nur dadurch befriedigen ließ, dass sie sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte. Vor der Geburt ihrer Jüngsten, Claire, hatten sie in einer großen Siedlung mit reichlich Tratsch gewohnt, einiges davon ziellos, anderes intrigant. Der Umzug in die Buckingham Avenue hatte dem ein Ende gesetzt. Hier gab es diese Art Klatsch nicht, die meist älteren Leute führten zurückgezogene, ruhige Existenzen. Hohe, intakte Zäune sorgen für gute Nachbarn, hatte er gesagt, als sie vor neun Jahren eingezogen waren. Sylvia sah das nicht so, und in ihrem vierzigsten Lebensjahr entdeckte sie die Sozialarbeit mit Gemeindeaktionen, Gemeindeprotesten und Organisationskomitees für sich. Falls Alistairs aufblühende Vergehensbilanz ihr nicht die Chancen verdarb, würde sie wohl noch Friedensrichterin werden. Das war eine große Veränderung, aber durchaus erklärlich. Die Kinder brauchten sie nicht länger, und ihre Ehe war keine anhaltende Aufmerksamkeit wert, ging einfach immer weiter und passte auf sich selbst auf. Nach zwanzig Jahren kann man keine Leidenschaft mehr erwarten. Da reicht es, mehr oder weniger gut miteinander umzugehen. Colin stand am Herd und betrachtete sein Ei, das benommen im schaumig auslaufenden Weiß tanzte. Wie lebendig hüpfte es zum Rand des Topfes und schlug dagegen. Er nahm einen Teelöffel, versuchte es zu beruhigen und verbrühte sich die Finger im aufsteigenden Dampf. Er spürte, wie Sylvia ihn beobachtete. Ihrer Meinung nach fehlte ihm der gesunde Menschenverstand, aber er hatte auch nie etwas anderes behauptet. Trotzdem, er war clever und hatte seine Fähigkeiten. Auf seinem Gesicht lag der gewohnte Ausdruck angespannter Verträglichkeit, Gutwilligkeit und Nervosität, gebettet in leichtes Unbehagen. »Wir sind immer noch beim Benoten der Prüfungen«, sagte er und versuchte das Ei mit einem zufällig in der Schublade gefundenen Teesieb aus dem Wasser zu fischen. »Ich muss dreihundert Zeugnisse unterschreiben, und heute Morgen kommen die Leute von der Gewerkschaft. Man sollte denken, sie...


Mantel, Hilary
Hilary Mantel, geboren 1952 in Glossop, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschienen zuletzt die Romane ›Der Hilfsprediger‹ (2017) und ›Spiegel und Licht‹ (2020, dritter Band der Tudor-Trilogie).

Löcher-Lawrence, Werner
WERNER LÖCHER-LAWRENCE war lange als Lektor in verschiedenen Verlagen tätig. Heute ist er literarischer Agent und Übersetzer. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen gehören John Boyne, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar und Louis Sachar.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.