E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Mantel Jeder Tag ist Muttertag
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8903-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8903-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Booker-Preisträgerin und Autorin der preisgekrönten Tudor Trilogie
Längst haben es die Nachbarn aufgegeben, mit Evelyn und Muriel Axon Kontakt zu pflegen. Das ist Evelyn, die früher gelegentlich als Medium arbeitete und sich von Geistern verfolgt fühlt, nur recht. Zusammen mit ihrer Tochter verbarrikadiert sie sich in ihrem Haus, das mehr und mehr verfällt. Mit den Sozialarbeitern, die ihre geistig behinderte Tochter fördern wollen, wird sie schnell fertig. Aber wie soll sie mit Muriels Schwangerschaft und dem Kind, wenn es denn mal da ist, umgehen?
Isabel Field ist als neue Sozialarbeiterin davon überzeugt, den Widerstand der Axon-Damen zu brechen. Sie ist ähnlich verbissen und starrköpfig wie Evelyn. Und hat ebenso viele Probleme: einen sexuell sehr aktiven Vater, der seine Eroberungen in den Waschsalons der Kleinstadt macht, und einen schwärmerischen, aber angstgetriebenen Liebhaber, Colin Sidney, der Abendklassen besucht, um seiner dominanten Frau zu entkommen.
Wäre da noch Muriel. Sie scheint ganz offensichtlich ein eigenes Leben zu haben, von dem weder ihre Mutter noch die Sozialarbeiter etwas ahnen. Und man fragt sich, ob Muriel wirklich so behindert ist, wie alle glauben.
»Herrlich bitterböse und eine Ode auf das Anderssein.« Anne Haeming, BRIGITTE WIR
»Ein rasanter Cocktail aus Grauen und wilder Schadenfreude« THE NEW YORK TIMES
Weitere Infos & Material
KAPITEL 1 Als Mrs Axon vom Zustand ihrer Tochter erfuhr, war sie eher überrascht, als dass Muriel ihr leidgetan hätte, was nicht hieß, dass es sie nicht sehr betrübte. Muriel ihrerseits schien zufrieden. Sie saß mit gespreizten Beinen da, die Arme um sich geschlungen, als versenkte sie sich ganz in den Moment. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck närrischer Seligkeit. Es war immer schwer zu sagen, was Muriel gefallen würde. Als der alte Mann im Winter auf der Straße gestürzt war und sich die Hüfte gebrochen hatte, da hatte sie sich vor Lachen kaum zu halten gewusst. In gewisser Weise war sie wirklich eine außerordentliche Person. Es kam nicht oft vor, dass sie lauthals lachte. Klack, klack, klack, sagten die falschen Krokodile, Mrs Sidneys Schuhe. Ohne einen Fehltritt ging sie die Straße entlang und über die boshaft angehobene Kante der Gehwegplatte, die Mr Tillotson im Winter hatte stolpern und sich die Hüfte brechen lassen, woraufhin sie eine Petition ans Rathaus geschickt hatten. Mrs Sidneys gesunde Beine, die Beine einer Fünfundzwanzigjährigen, bewegten sich wie eine Schere den Gehweg hinunter, doch sie sah blass und müde aus, und ihre scharlachroten Lippen zeugten von geheuchelter Heiterkeit. Sie hatte das Rot über die Umrisse ihrer schmalen Lippen hinaus zu einem kurvenreichen Bogen aufgetragen. In einer Zeitschrift hatte sie gelesen, dass man das tun konnte. Von dem, was zwischen den gesunden Beinen und dem eingefallenen Gesicht lag, sprechen wir besser nicht. Mrs Sidney kümmerte sich nicht weiter um ihren Rumpf, sie hatte ihn aufgegeben. Jetzt blieb sie bei dem Haus mit dem Namen »Die Goldregen« stehen, bei der wuchernden, mit weißem Vogeldreck besprenkelten und durch ein amateurhaftes In-Form-Schneiden verwüsteten Ligusterhecke. Tränen vernebelten ihren Blick. Sie trug ihren schwarzen Mantel mit Nerzbesatz. Arthur war bei ihr gewesen, als sie den Mantel gekauft hatte. Das gute Stück war ins Budget aufgenommen worden, nachdem sie seine Notwendigkeit sorgfältig überdacht hatten. Es war Arthur peinlich gewesen, zwischen all den Kleiderständern zu stehen. Wie Prinz Philip legte er die Hände auf dem Rücken zusammen, den Blick abgewandt, und bemühte sich, den Eindruck eines tief in Gedanken versunkenen Mannes zu erwecken. Sie zerrte ihn nicht lange durch alle möglichen Läden, sie wusste, was sie wollte. »Ein guter Mantel«, sagte sie, »ein guter Mantel ist jeden Penny wert, den man für ihn ausgibt.« Zwei probierte sie an, dann den schwarzen. Die Verkäuferin war sechzehn und nicht an ihrem Job interessiert. Einen Arm schlaff über den Kleiderständer gelegt, reckte sie die Hüfte vor und sah zu, wie Mrs Sidney die beladenen Bügel vor- und zurückschob. Das Mädchen hatte keine Ahnung vom Schnitt eines guten Stoffmantels. Mrs Sidney zog die Handschuhe aus und strich genüsslich über den kleinen Nerzkragen. Sie versuchte Arthurs Aufmerksamkeit zu erlangen, aber der sah nicht zu ihr hin, und einen Moment lang wogte Groll in ihr auf. Achtlos warf sie ihren alten Kamelhaarmantel über einen der Ständer. Bis heute Morgen war er noch ihr bestes Stück gewesen, doch jetzt kam er ihr schäbig und unangemessen vor. Vorsichtig öffnete sie die Knöpfe und schob die Arme in das seidige Futter. Als sie sich drehte, um auch den Rücken im Spiegel zu betrachten, lächelte sie die Verkäuferin zaghaft an. »Denken Sie, die Länge …?« Das Mädchen hob achselzuckend die mageren Schultern. Arthur lächelte ihm nachsichtig zu, die Hände immer noch auf dem Rücken. »Ich nehme ihn«, sagte Mrs Sidney und tänzelte auf Arthur zu. »Sehr schön, Liebes«, sagte Arthur. »Bist du sicher, dass es das ist, wonach du gesucht hast?« Sie nickte lächelnd. Er wäre auch bereit gewesen, das wusste sie, zwanzig Pfund mehr auszugeben, nachdem er der Wirtschaftlichkeit eines guten Stoffmantels zugestimmt hatte. Arthur war kein Knauser. Das Mädchen breitete den Mantel neben der Kasse aus, schlug etwas Seidenpapier zwischen die gekreuzten Ärmel und schob ihn, zusammengefaltet, in eine große Tasche. Arthur holte ein noch jungfräuliches Scheckbuch und seinen vergoldeten Füllfederhalter hervor. Akkurat drehte er die Kappe herunter, weich floss die Tinte. Dann schraubte er den Füllfederhalter wieder zu, vorsichtig, und steckte ihn zurück in die Innentasche seines Sportjacketts aus grünem Lovat-Tweed. Mit einem einfachen, sauberen Zug riss er den Scheck aus dem Scheckbuch und reichte ihn dem Mädchen. Höflich, gemessen. Mrs Sidney war stolz darauf, stolz auf die Art, wie die Transaktion durchgeführt wurde und dass sie nicht wie Installateure oder Anstreicher mit Bündeln schmutziger Geldscheine bezahlten. Die Tragetasche mit dem guten Stoffmantel darin war schwer, und Arthur streckte ohne ein Wort die Hand aus und trug sie für sie. Er fragte, ob sie einen Hut dazu brauche, so ängstlich war er darauf bedacht, alles richtig zu machen. Aber sie sagte, die Leute legten heute nicht mehr so großen Wert auf Hüte. Um die Wahrheit zu sagen, schüchterten Hutgeschäfte sie ein. Die Verkäuferinnen dort sahen einen mit solch einer Verachtung an, kaufte doch, wer einen Hut aufprobierte, nur selten tatsächlich einen. Diese Frauen hatten ihr Vertrauen in die menschliche Natur verloren. Mrs Sidney war glücklich. Sie tranken noch eine Tasse Kaffee, aßen ein Stück Sahnekuchen und fuhren nach Hause. In jener Nacht hatte Arthur seinen ersten Schlaganfall. Als sie morgens aufstand, war die rechte Seite seines Körpers gelähmt und der Mundwinkel nach unten gezogen. Er konnte nicht sprechen. Um acht Uhr lag er in einem hohen, weißen Bett im Allgemeinen Krankenhaus, und sie saß vor der Station und trank den starken Tee, den die Schwester ihr eingeschenkt hatte. Die weiße Tasse war leicht angeschlagen, und das Einzige, woran Mrs Sidney denken konnte, war, dass man diese Tassen zweiter Wahl auf dem Markt bekam. Konnte es sein, dass die sie von dort hatten? Ein Krankenhaus, konnte das sein? Ihr Mann hat unbegrenzte Besuchszeiten, sagte die Schwester, Sie können jederzeit kommen. Als sie zu ihm kam, bewegte er rastlos alles, was er zu bewegen vermochte. Er wusste nicht mehr, welchen Wochentag sie hatten, geschweige denn, dass er etwas über die Welt draußen auf dem Flur oder auf dem Markt hätte sagen können. Seinen zweiten Schlag erlitt er, während sie bei ihm war, und sie schoben fliederfarbene Stellwände um sein Bett und sagten, dass er verstorben sei. Den schwarzen Mantel trug sie auch zu seiner Beerdigung. Mrs Sidney hob eines ihrer eleganten Knie leicht an, stellte ihre Tasche darauf, griff hinein, holte ein rosa Taschentuch hervor und betupfte sich, neben dem verschmutzten, verschnittenen Liguster stehend, die Augen. Sie sah sich nach einem Papierkorb um, aber es gab hier auf der Straße keinen, und so stopfte sie das Taschentuch zurück in die Tasche und trat weiter vor. Das Haus der Axons stand an einer Ecke. Zwischen den Rhododrendronbüschen gab es ein kleines Tor. Zwischen den Platten, die bis zur Haustür gelegt waren, spross keinerlei Unkraut, was komisch war. Man hätte Evelyn Axon nicht unbedingt für eine leidenschaftliche Gärtnerin gehalten. Die Tür zum Windfang war farbig verglast, in Blutrot und dem gewittertrüben Blau des Augusthimmels. Mrs Sidney blieb einen Schritt vor der Tür stehen. Sie fürchtete, dass sie der Mut verließ. Wieder fummelte sie in ihrer Tasche herum und fühlte nach dem Portemonnaie, um sich zu versichern, dass es noch da war. Sie wusste nicht, ob Mrs Axon Geld nahm. Trauer und Furcht kratzten in ihrer Kehle, doch jetzt gab sie sich einen Ruck. Mrs Axon hatte sie sicher bereits aus einem der Fenster des Hauses gesehen. Sie legte einen Finger auf den Klingelknopf, als wohnte ihm das Geheimnis des Universums inne. Die Klingel funktionierte nicht. Dennoch bewegte sich Evelyn Axon irgendwo aus dem dunklen Inneren des Hauses auf die Tür zu und öffnete sie genau in dem Moment, als Mrs Sidney die Hand hob, um zu klopfen. Etwas dümmlich ließ Mrs Sidney die Hand wieder sinken. Evelyn nickte. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich nehme an, Sie wollen mit Ihrem verstorbenen Mann sprechen.« Es war ein hübsches, einzeln stehendes Haus. Kaum, dass sie hinter Evelyn die Diele betrat, wurde Mrs Sidneys Blick vipernscharf. Sie sah den vernachlässigten Parkettboden, den Schirmständer und den kleinen Tisch mit der verdorrten braunen Topfpflanze. »Nichts scheint zu überleben«, sagte Evelyn. Mrs Sidney umfasste ihre Tasche noch etwas fester. »Gehen wir nach vorne in den Salon«, sagte Evelyn. Mrs Sidney hielt den Blick auf Evelyns rehbraune Strickjacke und ihre massige, sich schwerfällig voranbewegende Gestalt gerichtet. Der Salon war ein Raum ohne Sonne, selten benutzt. Dieser Tage hielt sich Evelyn meist im hinteren Teil des Hauses auf. Es gab schwere Vorhänge, einen runden Esstisch aus dunklem Holz, acht harte Stühle mit Ledersitzen, einen Porzellanschrank und links und rechts vom leeren Kamin zwei grüne Sessel. »Sie werden es warm haben wollen«, sagte Evelyn, die fraglos eine gute Gastgeberin war. Mrs Sidney setzte sich in einen der Sessel, die Knie geschlossen, die Handtasche auf ihnen. Evelyn schlurfte hinaus und ließ sie allein. Mrs Sidney starrte den ziemlich leeren Porzellanschrank an. Evelyn kam mit einem kleinen elektrischen Heizstrahler mit zwei verstaubten Heizstäben und einem...