Maraini | Ein halber Löffel Reis | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Maraini Ein halber Löffel Reis

Kindheit in einem japanischen Internierungslager
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99037-165-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kindheit in einem japanischen Internierungslager

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-165-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie viel kostet einmal Überleben? 1943: Deutschland, Italien und Japan sind im Dreimächtepakt verbunden. Eine kleine italienische Community in Japan weigert sich, Mussolinis Repubblica di Salò anzuerkennen. Darunter auch Fosco Maraini und seine Frau Topazia. Daraufhin wird die gesamte Familie interniert. Die siebenjährige Tochter Dacia ist der Kälte, den Parasiten und dem Sadismus der Wachen ausgesetzt, sie ernährt sich von wenigen Körnern Reis und Ameisen. Während die Mutter versucht, die bröckelnde Solidarität der Gruppe zu kitten, hackt sich der Vater in der Tradition der Samurai einen Finger ab, als Akt verzweifelter Selbstbehauptung. Jetzt wird ihnen eine einzige Ziege zugestanden, die ihr Überleben sichert. Vom Zusammenhalt in dunklen Zeiten: die verstörende Kindheit der großen europäischen Autorin.

DACIA MARAINI ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb. Sie begründete experimentelle Theater, reiste mit Pier Paolo Pasolini für Filmprojekte nach Afrika und schrieb Drehbücher, u. a. für Margarethe von Trotta. Bei Folio erschien zuletzt der Roman »Tage im August« (2024).

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3
„Eines Tages Ende Oktober“, schreibt mein Vater, „hörte man um acht Uhr morgens kraftvolle Schritte im Innenhof des Hauses. Es war Herr Iwami, der stellvertretende Chef der Auslandsabteilung der Präfektur Kioto, in Begleitung von sechs Uniformierten, deren Gesichtsausdruck nicht gerade versöhnlich wirkte.“ Iwami und seine Begleiter setzten sich ins Wohnzimmer und gaben sich höflich und zuvorkommend. „Mögen Sie Brahms?“, fragte der Beamte. Fosco antwortete, dass er Brahms kenne und liebe. Aber er war etwas verwirrt. Was hatten diese Polizisten in ihrem Haus zu suchen? Warum sprachen sie über Musik? „Sie kennen sicher auch Beethoven, seine sechste Symphonie?“, fragte Iwami weiter. Mein Vater antwortete in freundlichem Ton, aber sein Erstaunen blieb. Er verstand nicht, was diese Lobhudeleien über Musik zu bedeuten hatten. Sie kamen zu siebt in glänzenden Uniformen zu ihm, um über Beethoven und Brahms zu sprechen? Unterdessen war die Kinderfrau aus der Küche gekommen und brachte grünen Tee und Omochi, das japanische Reisgebäck mit Sojapaste. Die Beamten aßen das ganze Tablett leer. Iwami wartete, bis seine Leute ihren Tee getrunken und ihre Omochi verzehrt hatten, und, wie Fosco in seiner Biografie schreibt, „… stand dann auf, nicht ruckartig, aber entschlossen, und befahl: ‚Steht auf, Verräter!‘“ Und Fosco, der die linguistische Hierarchie Japans gut kannte, bemerkte, dass der Beamte innerhalb weniger Sekunden vom höflichen „Sie“ zum „du“ gewechselt hatte, zum Kimi, das man gegenüber Untergebenen benutzte. „Von diesem Augenblick an untersteht ihr nicht mehr eurer Botschaft (für die Japaner untersteht man als Ausländer seiner Botschaft), weil wir eure Regierung nicht anerkennen. Von jetzt an seid ihr Untertanen des Japanischen Kaiserreichs. Nur von uns dürft ihr Befehle entgegennehmen. Bereitet euch darauf vor, mit den Kindern und einem Minimum an Gepäck abzureisen.“ Dann wandte er sich an seine Begleiter und befahl: „Ihr bleibt hier und bewacht sie. Sie sind Feinde.“ Vorsorglich verstaute Fosco die kostbaren Bücher, die er in den sechs Jahren in Japan gekauft und gelesen hatte, seine Papiere, seine Fotografien und die Dokumente über die Ainu, eine der ursprünglichen Bevölkerungsgruppen Japans, umgehend in Holzkisten, die er seinem Freund Jean Paul Leclerc zur Aufbewahrung übergeben wollte. Dieser arbeitete in der französischen Botschaft und würde sie dort im Keller lagern. Fosco erzählt weiter: „Zwei Jahre vergingen, die japanischen Städte wurden mit Bombenteppichen überzogen, Hiroshima und Nagasaki von Atombomben zerstört, Kaiser Hirohito ließ zum allerersten Mal in der Geschichte seine Stimme hören, um die Kapitulation seines Reichs zu verkünden, MacArthur landete als Eroberer auf japanischem Gebiet, die Welt teilte sich in West und Ost, aber im Oktober 1945 waren die Kisten mit den Büchern, Dokumenten und ethnografischen Gegenständen immer noch am selben Platz. Niemand hatte sie bemerkt. Man musste nur einen Transporter mieten und sie wegbringen.“ Eine unglaubliche Geschichte. Tatsächlich waren das die einzigen Wertgegenstände, die wir aus unserem Haus in Kioto retten konnten. Alles andere blieb verschwunden. 1943 war die Familie Maraini zu einer gefährlichen Gruppe Verräter geworden, die man verurteilen und bestrafen musste. Auch die Mädchen? Auch die Mädchen, lautete die Antwort. Als Kinder von Verrätern waren zwangsläufig auch sie Verräter und mussten als solche behandelt werden. Wir wussten, dass wir unser Zuhause verlassen mussten, aber wohin? Und wann? Für den Moment standen wir unter Hausarrest und durften keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen, nicht einmal Briefe an die italienischen Verwandten schreiben, um ihnen mitzuteilen, dass wir in ein Konzentrationslager gesperrt würden. Meine Mutter überlegte angestrengt, was sie in den einzigen Koffer legen sollte, den wir mitnehmen durften. Die anderen beiden würden folgen, aber wann? Großvaters Koffer war zwar groß, aber trotzdem passte längst nicht alles, was wir brauchen würden, hinein. Pullover? Decken? Schuhe? Bettlaken? Bücher oder Wäsche oder Lebensmittel? Wie lange würden wir im Lager bleiben? Auch dieses Mal half ihr der Instinkt. Statt Kleidung nahm sie Bettlaken mit, die sie später zu Hemden für die Wächter verarbeiten würde, im Tausch gegen eine Zwiebel, eine Kartoffel oder einen Rettich, den ebenso verhassten wie geliebten Daikon, der mir zuwider war, den ich aber wegen der Vitamine trotzdem hinunterwürgen musste. In die anderen Koffer hatte sie Spielzeug, Bücher und Winterkleidung gepackt. Sie sollten ins Lager gebracht werden, hatte man uns versprochen. Aber sie kamen niemals an. Der Daikon gehört zur Familie der Rettiche. Länglich, weiß, mit stechendem Geruch. Hervorragend geeignet, um Tsukemono zuzubereiten. Doch weder roh noch gekocht ist er besonders wohlschmeckend. Ich erinnere mich, dass wir einmal einen Daikon gefunden haben, der vom Lastwagen gefallen und unter dem Stacheldraht ins Lager gerollt war. Wir haben ihn gekocht und feierlich in fünf Stücke geteilt. Ich saß vor einem angeschlagenen Teller, auf dem das letzte Rettichstück in die Luft ragte wie ein Mäuseschwanz. Ich wusste, dass ich ihn essen musste, weil es sonst nichts gab, um meinen immer leeren und schmerzenden Magen zu füllen. Doch ich verabscheute seinen Geschmack. Ich weiß noch, dass ich ihn in die Hand nahm, Stück für Stück abbiss und fast unzerkaut hinunterschluckte, während mir Tränen des Ekels in die Augen schossen. Aber das geschah später. Kehren wir zum Tag unserer Abreise aus Kioto zurück. Das Ziel war Nagoya. An diesem milden Oktobertag 1943 kamen sie mit einem Lastwagen, um uns abzuholen. Sie ließen uns aufsteigen: Fosco, Topazia und die drei Mädchen. Wir trugen drei Unterhemden, zwei Blusen, zwei Strickjacken und einen Mantel übereinander, an den Füßen hatten wir leichte Schuhe, ein Paar feste Schuhe steckte in unseren Manteltaschen. Wir trugen so viele Schichten übereinander, dass sich unsere Mäntel nicht mehr zuknöpfen ließen. Auch das hatte meine Mutter im Voraus geahnt: Als die Kälte kam und wir keine Winterschuhe hatten, konnten wir wenigstens Wollstrümpfe und die festen Schuhe tragen, die wir in den Manteltaschen verstaut hatten. Wir hätten natürlich lieber Puppen und Schulhefte mitgenommen, da wir ja nicht ahnen konnten, dass wir zwei lange Jahre in Gefangenschaft sein würden. Aber Topazia, genannt Top, war eine vorausschauende, kluge und pragmatische Frau. In Gefahrensituationen wusste sie immer, wie sie reagieren sollte. Panik kannte sie nicht. Sie entschied spontan und stets richtig, trotz aller Schwierigkeiten und Opfer. Als Beispiel für ihr weitsichtiges Handeln möchte ich von einem Vorfall erzählen, der sich in Sizilien, viele Jahre nach Kriegsende, zugetragen hat. Wir waren in Cefalù mit Freunden auf einem Boot unterwegs. Ein Ruderboot, das eigentlich zu klein für uns alle war, aber wir drückten uns zusammen und einige, darunter auch ich, saßen auf dem Bootsrand und klammerten uns am Holz fest. Das Meer war ruhig und das Wasser klar, die Sonnenstrahlen schienen es wie Lichtschwerter zu teilen. Ein unachtsamer Freund, der nach Brassen jagen wollte und gerade dabei war, ins Wasser zu springen, stand in der Mitte des Boots und hielt die geladene, nach oben gerichtete Harpune fest. Doch er hatte nicht bedacht, wie gefährlich seine Position war. Irgendwann fuhr ein Motorboot nahe an uns vorbei, sodass kleine, aber kräftige Wellen unser Boot ins Schwanken brachten. Er klammerte sich am Bootsrand fest, der Pfeil der Harpune löste sich und schoss nach oben. Aber wie bei jeder Harpune war auch dieser Pfeil mit einer Schnur befestigt. Als diese abgerollt war, war die Spannung so stark, dass der Pfeil einem Bumerang gleich zurückgeschleudert wurde und direkt auf meinen Kopf zielte. Meine Mutter, so erzählte sie mir, sah mich schon vom Pfeil durchbohrt und getötet, genau wie eine bedauernswerte Brasse. Geistesgegenwärtig versuchte sie mich beiseitezustoßen, um wenigstens meinen Kopf zu schützen. Sie schaffte es, der Pfeil bohrte sich in meinen auf dem Bootsrand liegenden Arm. Geschrei, Tumult. Wie konnte man einem Mädchen helfen, das mit dem Pfeil einer Harpune durchbohrt worden war? Der Besitzer der Harpune war zutiefst erschüttert und völlig verwirrt. Meine Mutter hingegen griff entschlossen nach meinem Arm, sie hatte begriffen, wie die Harpune funktionierte, und wusste, dass die kleinen Widerhaken dazu dienten, den getroffenen Fisch festzuhalten. Mit einer raschen Drehbewegung löste sie die Widerhaken und zog den Pfeil heraus, wobei ich mir eine Fleischwunde zuzog. Nur durch Zufall hatte er meine Venen nicht getroffen. Ich habe Schlupfvenen, zappelig wie Aale und ein Hindernis beim Blutabnehmen: Wenn sie Gefahr spüren, verschwinden sie. Die Ärzte kommen jedes Mal ins...


DACIA MARAINI ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb. Sie begründete experimentelle Theater, reiste mit Pier Paolo Pasolini für Filmprojekte nach Afrika und schrieb Drehbücher, u. a. für Margarethe von Trotta.
Bei Folio erschien zuletzt der Roman »Tage im August« (2024).



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