Marías | Mein Herz so weiß | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Marías Mein Herz so weiß

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401995-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-10-401995-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erbarmungslos und genau untersucht Javier Marías in seinem internationalen Bestseller ?Mein Herz so weiß? die Macht uneingestandener Vergangenheit. Für Juan, der als Dolmetscher ständig zwischen New York, Genf und Madrid pendelt, ist das Leben seines Vaters ein ungelöstes Rätsel. Als er selbst heiratet, stellt er sich dem, was er nicht wissen will: Direkt nach der Hochzeitsreise seines Vaters erhob sich seine erste Frau vom Tisch, nahm eine Pistole und erschoss sich im Badezimmer. Später heiratete der Witwer ihre Schwester, Juans Mutter. Der Roman zeigt Javier Marías als Meisterdetektiv des menschlichen Herzens, seiner dunklen Seiten und verborgenen Winkel. Verschwiegenheit kann bequem sein, aber sie fordert ihren Preis. Die Schärfe seiner Beobachtungen und die Eleganz seines Stils machen den Roman zu einem Klassiker der Moderne. »Dies ist ein Meisterwerk, ein ganz großes Meisterwerk.« Marcel Reich-Ranicki

Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ?Mein Herz so weiß? gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman »Berta Isla«; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman »Tomás Nevinson«. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
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Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte. Als der Knall ertönte, etwa fünf Minuten, nachdem das Mädchen den Tisch verlassen hatte, stand der Vater nicht sofort auf, sondern verharrte ein paar Sekunden lang wie gelähmt mit vollem Mund und wagte nicht zu kauen noch zu schlucken und noch weniger, den Bissen auf den Teller zurückzuspucken; und als er sich endlich erhob und zum Badezimmer lief, sahen jene, die ihm folgten, wie er, als er den blutüberströmten Körper seiner Tochter entdeckte und die Hände an den Kopf hob, den Bissen Fleisch im Mund hin und her bewegte, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte. Er hielt die Serviette in der Hand und ließ sie erst los, als er nach einer Weile den auf das Bidet geworfenen Büstenhalter bemerkte, und dann bedeckte er ihn mit dem Tuch, das er zur Hand hatte oder in der Hand hatte und das die Spuren seiner Lippen trug, als sei ihm der Anblick des intimen Kleidungsstückes peinlicher als der Anblick des halbnackten, am Boden liegenden Körpers, der mit dem Kleidungsstück bis vor ganz kurzer Zeit in Berührung gewesen war: der am Tisch sitzende Körper oder der sich auf dem Flur entfernende Körper oder auch der stehende Körper. Zuvor hatte der Vater mit einer automatischen Handbewegung den Wasserhahn des Waschbeckens zugedreht, den Kaltwasserhahn, aus dem das Wasser unter großem Druck herausschoss. Die Tochter hatte geweint, während sie sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und ihr Herz suchte, denn sie lag mit Tränen in den Augen auf dem kalten Boden des riesigen Badezimmers, die man während des Mittagessens nicht an ihr gesehen hatte und die auch nicht nach dem Augenblick in ihre Augen getreten sein konnten, da sie leblos zu Boden gefallen war. Entgegen ihrer Gewohnheit und der allgemeinen Gewohnheit hatte sie nicht den Riegel vorgelegt, was den Vater auf den Gedanken brachte (aber nur kurz und ohne es wirklich zu denken, während er schluckte), dass seine Tochter vielleicht, während sie weinte, erwartet oder gewünscht hatte, jemand möge die Tür öffnen und sie hindern, das zu tun, was sie getan hatte, nicht mit Gewalt, sondern durch seine bloße Anwesenheit, durch die Betrachtung ihrer Nacktheit zu Lebzeiten oder mit einer Hand auf der Schulter. Aber niemand (außer ihr jetzt und weil sie kein Mädchen mehr war) ging während des Mittagessens ins Badezimmer. Die Brust, die der Schuss nicht getroffen hatte, war deutlich sichtbar, mütterlich und weiß und noch fest, und auf sie richteten sich instinktiv die ersten Blicke, mehr als alles andere, um sich nicht auf die andere richten zu müssen, die nicht mehr existierte oder nur aus Blut bestand. Seit vielen Jahren hatte der Vater diese Brust nicht gesehen, er hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie sich verändert hatte oder mütterlich zu werden begann, und deshalb fühlte er nicht nur Entsetzen, sondern auch Verwirrung. Das andere Mädchen, die Schwester, die im Gegensatz zu ihm die Veränderung der Brust in der Zeit des Heranwachsens und vielleicht später gesehen hatte, war die Erste, die sie berührte, denn sie begann, ihr mit einem Handtuch (ihrem eigenen blassblauen Handtuch, nach dem sie immer als Erstes zu greifen pflegte) die Tränen im Gesicht abzutrocknen, die mit Schweiß und Wasser vermischt waren, denn bevor man den Hahn zugedreht hatte, war der Wasserstrahl vom Becken abgeprallt, und Tropfen waren auf die Wangen, die weiße Brust und den zerknitterten Rock ihrer am Boden liegenden Schwester gespritzt. Sie wollte auch hastig das Blut abwischen, so als könnte sie dadurch geheilt werden, aber das Handtuch sog sich sogleich voll und war nicht mehr verwendbar für seinen Zweck, es verfärbte sich auch. Statt es sich vollsaugen zu lassen und den Brustkorb mit ihm zu bedecken, nahm sie es sofort weg, als sie sah, wie rot es war (es war ihr eigenes Handtuch) und hängte es über den Rand der Badewanne, von dem es auf den Boden tropfte. Sie sprach, aber sie vermochte nur den Namen ihrer Schwester zu sagen und ihn zu wiederholen. Einer der Gäste konnte nicht umhin, sich aus der Entfernung im Spiegel anzusehen und eine Sekunde lang sein Haar glattzustreichen, lange genug, um zu bemerken, dass Blut und Wasser (aber nicht der Schweiß) die Oberfläche bespritzt hatten und damit jedes Spiegelbild, auch das seine, während er sich anschaute. Er stand auf der Türschwelle, nicht drinnen, ebenso wie die beiden anderen Gäste, so als seien sie trotz der in diesem Augenblick vergessenen Anstandsregeln der Ansicht, dass nur die Familienangehörigen das Recht hatten, sie zu überschreiten. Die drei reckten die Köpfe, den Oberkörper vorgeneigt wie Erwachsene, die Kindern zuhören, ohne einen Schritt nach vorne zu tun, aus Ekel oder aus Respekt, vielleicht aus Ekel, obwohl einer von ihnen Arzt war (der, der sich im Spiegel angeschaut hatte) und es normal gewesen wäre, wenn er sich mit Bestimmtheit seinen Weg gebahnt und den Körper der Tochter untersucht oder zumindest, ein Knie auf dem Boden, zwei Finger an ihren Hals gelegt hätte. Er tat es nicht, nicht einmal dann, als der Vater, immer blasser und schwankender, sich zu ihm umwandte und, auf den Körper seiner Tochter weisend, »Doktor« zu ihm sagte, in flehendem Ton, aber ohne jeden Nachdruck, und sich dann sogleich wieder umdrehte, ohne abzuwarten, ob der Arzt auf seinen Ruf reagierte. Nicht nur ihm und den beiden anderen wandte er den Rücken zu, sondern auch seinen Töchtern, der lebendigen und der, die für tot zu halten er noch nicht wagte; dann, die Ellbogen auf das Waschbecken gestützt und mit den Händen die Stirn haltend, begann er alles zu erbrechen, was er gegessen hatte, einschließlich des Fleischstücks, das er gerade ungekaut hinuntergeschluckt hatte. Sein Sohn, der Bruder, der um einiges jünger war als die beiden Mädchen, näherte sich ihm, aber als einzige Hilfe vermochte er nur die Schöße seines Jacketts zu fassen, so als wollte er ihn halten, damit er durch das Würgen nicht ins Wanken geriete, aber in den Augen derer, die es sahen, war es eher eine Bewegung, die Schutz suchte in einem Augenblick, in dem der Vater ihm keinen geben konnte. Man hörte ein kurzes Pfeifen. Der Ladenjunge, der sich manchmal bis zur Mittagessenszeit mit der Bestellung verspätete und gerade seine Kisten ablud, als der Schuss ertönte, reckte ebenfalls den Kopf, noch immer pfeifend, so wie Jungen es beim Gehen oft tun, aber er verstummte sofort (er war im gleichen Alter wie der jüngere Sohn), als er ein Paar Schuhe mit halbhohem Absatz sah, die sich jemand ausgezogen hatte oder die sich nur von den Fersen gelöst hatten, und einen leicht hochgerutschten und befleckten Rock – befleckte Oberschenkel –, denn das war es, was er aus seiner Position von der gefallenen Tochter sehen konnte. Da er weder fragen noch hineingehen konnte und niemand ihm Beachtung schenkte und er nicht wusste, ob er leere Flaschen mitnehmen sollte, kehrte er in die Küche zurück, abermals pfeifend (aber dieses Mal, um die Angst zu vertreiben oder den Eindruck zu überspielen), in der Annahme, dass früher oder später das Dienstmädchen dort wieder auftauchen würde, das ihm normalerweise die Anweisungen gab und das sich jetzt weder in seinem Bereich noch bei den anderen im Flur befand, im Unterschied zur Köchin, die als zusätzliches Familienmitglied mit einem Fuß im Badezimmer und einem draußen stand und sich die Hände an der Schürze abwischte oder sich vielleicht mit ihr bekreuzigte. Das Dienstmädchen, das im Augenblick des Schusses die eben abgeräumten leeren Schüsseln auf dem Marmortisch des Küchenvorraums abgesetzt hatte, weshalb sie den Knall mit dem eigenen, gleichzeitig veranstalteten Getöse verwechselte, war danach damit beschäftigt gewesen – während der Junge ebenfalls lärmend seine Kisten leerte –, mit großer Vorsicht und wenig Geschick die Eistorte, die zu kaufen man ihr heute Vormittag aufgetragen hatte, weil es Gäste gab, auf eine Servierplatte zu platzieren; und als die Torte bereit und auf ihrem Platz war und sie kalkuliert hatte, dass man im Esszimmer mit dem zweiten Gang fertig sein dürfte, hatte sie sie dorthin getragen und auf dem Tisch abgestellt, wo sie zu ihrer Verwirrung noch Fleischreste und achtlos auf das Tischtuch geworfenes Besteck und Servietten vorfand, aber keinen Tischgast (nur ein Teller war vollkommen sauber, so als hätte einer von ihnen, die ältere Tochter, rascher gegessen und ihn überdies mit Brot abgewischt oder aber überhaupt kein Fleisch genommen). In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie, wie so oft, den Fehler begangen hatte, den Nachtisch zu servieren, ohne die Teller abzuräumen und neue zu bringen, aber sie wagte nicht, jene Teller einzusammeln und übereinanderzustapeln, für den Fall, dass die abwesenden Tischgäste noch nicht fertig waren und weiteressen wollten (vielleicht hätte sie auch Obst bringen sollen). Da sie angewiesen war, während der Mahlzeit nicht in der Wohnung herumzugehen und sich auf ihre Gänge zwischen Küche und Esszimmer zu beschränken, um nicht zu stören oder die Aufmerksamkeit abzulenken, wagte sie auch nicht, sich dem Gemurmel der aus irgendeinem ihr noch unbekannten Grund an der Badezimmertür gruppierten Gruppe anzuschließen, sondern verharrte abwartend, die Hände auf dem Rücken und mit dem Rücken zur Anrichte, während sie ängstlich auf die Torte schaute, die sie soeben in die Mitte des verlassenen Tisches gestellt hatte, und sich fragte, ob sie nicht besser daran täte, sie angesichts der Hitze sofort wieder in...


Marías, Javier
Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens.
Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.

Wehr, Elke
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.

Javier MaríasJavier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens.
Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.

Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman »Berta Isla«; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman »Tomás Nevinson«. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.



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