Marías | Schwarzer Rücken der Zeit | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Marías Schwarzer Rücken der Zeit


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-401998-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-10-401998-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als 1991 der Campusroman ?Alle Seelen? erschien, in dem Marías seine Zeit an der Oxforder Universität beschreibt, beschwerten sich Professoren und andere Kollegen, falsch oder gar nicht dargestellt worden zu sein. Daraufhin schrieb Javier Marías das Buch ?Schwarzer Rücken der Zeit?, eine Art Werkstattbericht. Und während wir Marías noch beim Schreiben über die Schulter schauen, sind wir schon mittendrin in einem faszinierenden Vexierspiel von Dichtung und Wahrheit. Wenn wir anfangen, unser Leben zu erzählen, ist es schon Fiktion. Das ist die wunderbare Schwebe, in der uns der aufregendste Erzähler Spaniens hält.

Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ?Mein Herz so weiß? gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman »Berta Isla«; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman »Tomás Nevinson«. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
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Ich glaube, dass ich Fiktion und Wirklichkeit noch nie verwechselt habe, wenn ich sie auch mehr als einmal miteinander vermischt habe, wie es jeder tut, nicht nur die Romanciers, nicht nur die Schriftsteller, sondern alle, die seit Beginn unserer bekannten Zeit irgendetwas erzählt haben, und in dieser bekannten Zeit hat niemand etwas anderes getan, als eben zu erzählen und zu erzählen oder seine Erzählung aufzubereiten und zurechtzulegen oder sie sich auszudenken. Jeder erzählt Anekdoten über das, was ihm widerfahren ist, und durch die bloße Tatsache, dass er es erzählt, entstellt und verdreht er es schon, die Sprache kann die Dinge nicht reproduzieren und sollte es deshalb auch nicht versuchen, und daher kommt es vermutlich, dass man bei Gerichtsprozessen – bei denen im Film, die ich am besten kenne – die Beteiligten zuweilen um eine materielle oder körperliche Rekonstruktion des Geschehens bittet, man bittet sie, die Gesten, die Bewegungen, ihre vergifteten Schritte zu wiederholen oder wie sie das Messer führten, um sich in Angeklagte zu verwandeln und so zu tun, als griffen sie noch einmal zur Waffe und versetzten demjenigen den Hieb, der ihretwegen zu existieren aufhörte und nicht mehr da ist, oder der Luft, denn es genügt nicht, dass sie es mit der größtmöglichen Genauigkeit und Leidenschaftslosigkeit berichten und erzählen, man muss es sehen, und man verlangt von ihnen eine Nachahmung, eine Vorstellung oder Inszenierung, wenn auch jetzt ohne den Dolch in der Hand oder ohne Körper zum Hineinstechen – Mehlsack, Fleischsack –, jetzt mit kühlem Kopf und ohne ein weiteres Verbrechen auf sich zu laden oder ein neues Opfer hinzuzufügen, jetzt nur als Simulation und Erinnerung, denn was sie nicht können, ist, die vergangene oder verlorene Zeit reproduzieren oder den Toten wieder zum Leben erwecken, der in dieser Zeit verging und verlorenging.

Dieser Umstand verweist auf einen letzten Rest von Misstrauen gegenüber dem Wort, unter anderem, weil das Wort – selbst das gesprochene, selbst das ungeschliffenste – in sich selbst metaphorisch und deshalb ungenau ist, mehr noch, gar nicht denkbar ist ohne – oft unwillentliches – Ornament, das noch in der nüchternsten Aussage und fast immer im Ausruf und in der Beschimpfung enthalten ist. Es genügt, dass jemand ein »als ob« in seine Erzählung einfügt; mehr noch, es genügt, dass er eine Gleichsetzung oder einen Vergleich vornimmt oder im übertragenen Sinne spricht (»er wurde wild wie eine Furie« oder »er führte sich wie ein Bauernlümmel auf«, diese umgangssprachliche Ausdrucksweise, die eher der Sprache als dem auswählenden Sprecher gehört, mehr braucht es nicht), damit die Fiktion sich in die Erzählung des Geschehens einschleicht und es entstellt oder verfälscht. In Wirklichkeit ist das alte Bestreben eines jeden Chronisten oder Überlebenden, das Ereignis zu erzählen, das Vorgefallene zu berichten, die Fakten und die Verbrechen und die Heldentaten festzuhalten, eine bloße Illusion oder Chimäre oder, besser gesagt, der Ausdruck selbst, der Begriff selbst ist bereits metaphorisch und Teil der Fiktion. »Das Geschehen erzählen« ist unvorstellbar und vergeblich oder aber nur möglich als Erfindung. Auch die Vorstellung des Zeugnisses ist vergeblich, es hat keinen Zeugen gegeben, der seiner Aufgabe wirklich gerecht geworden wäre. Und außerdem vergisst man immer zu viele Augenblicke, auch Stunden und Tage und Monate und Jahre und die Narbe eines Schenkels, den man während seiner bekannten und verlorenen Zeit lange Zeit tagtäglich gesehen und geküsst hat. Man vergisst ganze Jahre und nicht notwendig die bedeutungslosesten.

Und dennoch werde ich mich hier denen zugesellen, die versucht haben, genau das zu tun, oder getan haben, als sei es ihnen gelungen, ich werde erzählen, was im Zusammenhang mit der Niederschrift und Verbreitung eines Romans, einer literarischen Fiktion, geschehen ist oder in Erfahrung gebracht oder auch nur gewusst wurde – das in meiner Erfahrung oder in meiner Erfindung oder in meinem Wissen Geschehene, oder vielleicht ist alles nur nie endendes Bewusstsein. Es ist gewiss nicht weiter bedeutsam, auch nicht schwerwiegend oder dringlich, vielleicht ist es unterhaltsam für den neugierigen Leser, der grundsätzlich bereit ist, mich zu begleiten, mir bereitet es das Vergnügen des Risikos, ohne Motiv und fast ohne Ordnung und ohne vorherigen Entwurf und ohne Suche nach Kohärenz zu erzählen, als täte ich es mit einer launischen, unvorhersehbaren Stimme, die wir jedoch alle kennen, der Stimme der Zeit, wenn sie noch nicht vergangen und auch nicht verloren ist und vielleicht ebendeshalb nicht einmal Zeit ist, vielleicht ist es nur jene, die verstrichen ist und sich erzählen lässt oder diesen Anschein besitzt und deshalb die einzig ambivalente ist. Ich glaube, dass diese Stimme, die wir hören, immer fiktiv ist, vielleicht wird es hier die meine sein.

Ich bin nicht der erste Schriftsteller und werde auch nicht der letzte sein, dessen Leben durch das bereichert oder verdammt oder nur verändert wird, was er erdacht oder erdichtet und geschrieben und veröffentlicht hat. Im Unterschied zu den eigentlichen literarischen Fiktionen sind die Elemente der Erzählung, die ich jetzt in Angriff nehme, völlig zufällig und willkürlich, rein episodisch und akkumulativ – nichts passt zusammen, so die schülerhafte Formel der Kritik, beziehungsweise kein Element würde des anderen bedürfen –, denn im Grunde lenkt sie kein Autor, obwohl ich es bin, der sie erzählt, sie entsprechen keinem Plan noch folgen sie einer Richtung, die meisten kommen von außerhalb, und es fehlt ihnen an Intentionalität; sie brauchen also keinen Sinn zu stiften noch bilden sie ein Thema oder eine Handlung oder gehorchen einer verborgenen Harmonie, und man soll ihnen nicht nur keine Lehre entnehmen – auch von den richtigen Romanen sollte man so etwas nicht wollen, und vor allem sollten sie selbst es nicht wollen –, sondern nicht einmal eine Geschichte mit ihrem Anfang und ihrer Dauer und ihrem schlussendlichen Verstummen. Ich glaube nicht, dass dies eine Geschichte ist, obwohl ich mich täuschen kann, da ich ihr Ende nicht kenne. Der Anfang dieser Erzählung, das weiß ich, liegt außerhalb von ihr, in dem Roman, den ich vor Zeiten geschrieben habe, oder, verschwommener noch, in den beiden Jahren davor, die ich in der Stadt Oxford verbrachte, wo ich wie ein Hochstapler amüsante, eher nutzlose Dinge an ihrer Universität unterrichtete und dem Ablauf jener vereinbarten Zeit beiwohnte. Ihr Ende wird ebenfalls außerhalb bleiben und sicher mit meinem zusammenfallen, in einigen Jahren, so hoffe ich zumindest.

Es kann aber auch sein, dass dieses Ende mich überlebt, so wie uns fast alles überlebt, was wir äußern oder was uns begleitet oder was wir verursachen, wir dauern weniger als unsere Absichten. Wir hinterlassen zu vieles, das wir in Gang gesetzt haben, und dessen so kraftlose Trägheit überlebt uns: die Worte, die uns ersetzen und die zuweilen jemand aufgreift oder weitergibt und deren Herkunft er nicht immer erwähnt; die glattgestrichenen Briefe und die eingerollten Fotografien und die auf ein vergilbtes Papier notierten Worte für die, die allein schlafen wird nach den wachen Umarmungen, weil wir uns in der Nacht wie Schufte auf der Durchreise davonstehlen; die Gegenstände und die Möbelstücke, die uns zu Diensten waren und die wir bei uns aufgenommen haben – ein roter Stuhl, eine Schreibfeder, eine Szene aus Indien, ein Bleisoldat, ein Kamm –, die Bücher, die wir geschrieben, aber auch die, die wir nur gekauft und einmal gelesen haben oder die bis zum Schluss ungeöffnet auf ihrem Regalbrett standen und ihr erwartungsvolles Leben in Erwartung anderer, begierigerer oder ruhigerer Augen gefügig an einem anderen Ort fortsetzen werden; die Kleidungsstücke, die zwischen Naphtalin hängen bleiben, weil vielleicht jemand, der sentimental ist, darauf besteht, sie aufzubewahren – obwohl ich nicht weiß, ob es noch Naphtalin gibt, die Stoffe, die ungelüftet ausbleichen und dahinwelken und jeden Tag mehr die Formen vergessen, die ihnen Sinn gaben, und den Geruch dieser Körper –; die Lieder, die weiter gesungen werden, wenn wir sie nicht mehr singen noch trällern noch hören, die Straßen, die uns beherbergen, als wären sie endlose Flure und Zimmer, die nicht auf ihre flüchtigen und austauschbaren Bewohner achten; die Schritte, die man nicht reproduzieren kann und die keine Spur auf dem Asphalt hinterlassen und auf der Erde gelöscht werden oder nicht, diese Schritte bleiben nicht, sondern gehen fort mit uns oder sogar vorher, mit ihrer Harmlosigkeit oder ihrem Gift; und die Medikamente, unsere hastige Schrift, die geliebten Fotos, die wir aufgestellt haben und die uns nicht mehr anschauen, das Kissen und unser über eine Rückenlehne gehängtes Jackett; ein Tropenhelm, der in den dreißiger Jahren an Bord des Schiffes » aus Tunis kam und meinem Vater gehört und noch immer den Kinnriemen bewahrt, und dieser Hinduadjutant aus bemaltem Holz, den ich voll Ungewissheit mit nach Hause gebracht habe, auch diese Figur wird länger dauern als ich, möglicherweise. Und die von uns erfundenen Erzählungen: Die anderen werden sich ihrer bemächtigen oder von unserer vergangenen, verlorenen und nie gekannten Existenz sprechen und uns auf diese Weise in Fiktion verwandeln. Selbst unsere Gesten werden auf jemanden übergehen, der sie geerbt oder sie gesehen hat und unwillkürlich zum Nachahmer wurde oder sie absichtlich wiederholt, um uns heraufzubeschwören und eine seltsame Illusion vorübergehender Existenz an unserer statt zu schaffen; und...


Wehr, Elke
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.

Marías, Javier
Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens.
Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.

Javier MaríasJavier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens.
Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.

Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman »Berta Isla«; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman »Tomás Nevinson«. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.



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