Marchelli | Die blauen Nächte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Marchelli Die blauen Nächte

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-22419-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-641-22419-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Shortlist Premio Strega. Für alle Leserinnen von Joan Didion.
Was bleibt, wenn ein Mensch verschwindet? Larissa und Michele kennen sich bereits seit einer Ewigkeit. Das Ehepaar lebt in New York, wo Michele als Professor für Spieltheorie an der Universität lehrt. Mirko, der einzige Sohn, lebte mit seiner Frau in Genua, bis er sich vor fünf Jahren überraschend das Leben nahm. Seitdem versucht das Paar so gut es geht Trost im Alltag zu finden, doch die Frage nach dem Warum quält sie und zehrt an ihrer Beziehung. Da erreicht sie eines Tages ein Anruf von einer Frau, die behauptet, eine Affäre mit Mirko gehabt zu haben - und ein Kind ...

Chiara Marchelli, geboren 1972 in Aosta, lebt als Lektorin und Übersetzerin in New York. Ihr Roman 'Die blauen Nächte' war für den renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega nominiert.
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1.


Als es passierte, aß Michele gerade frittierte Sardellen.

»Das ist keine gute Idee«, hatte Larissa zu ihm gesagt.

Musste das sein, ausgerechnet vor dem Silvesteressen?

»Ja«, hatte er geantwortet, »damit ich mich in New York noch daran erinnere.«

Die frittierten Sardellen in Ivana Mussos Rosticceria. Frisch, saftig, der Teigmantel kross und golden. So hauchzart bekam ihn nur diese begnadete Schwerhörige hin, die Michele jedes Mal »Na, ham se dein lodderiges Amerika noch immer nich plattgemacht?« entgegenbrüllte, sobald er in den engen Altstadtgassen auftauchte.

Der Geschmack von Ivanas frittierten Sardellen sollte ihm trotz des in den Hals gesteckten Fingers bis zum nächsten Morgen aufstoßen. Es kam einfach nichts raus. Alles blieb drin und grub sich in die Erinnerung ein, zusammen mit dem ganzen Rest: Die mit geweiteten Augen verbrachte Nacht, der Krankenhausflur, Larissas Starre, die sie vor der Ohnmacht bewahrte, das Hin und Her der Ärzte und Krankenpfleger, der Geruch der Sardellen.

Seitdem wird ihm jedes Mal unvermeidlich schlecht, wenn er sie isst.

»Du könntest es einfach lassen«, meint Larissa, »niemand zwingt dich dazu.«

»Nein«, entgegnet er, »das geht schon vorüber.«

Eine der zahlreichen logischen Verbohrtheiten, die es ihm erlauben weiterzumachen.

So wie heute.

Er betritt den Hörsaal, ohne den Gruß der Studentin zu erwidern. Offenbar besucht sie seine Vorlesung, denn sie kennt seinen Nachnamen. Ohne sie eines näheren Blickes zu würdigen, steigt Michele zum Pult hinab und legt seine Karteikarten zurecht. Die Mikros pfeifen, als er zweimal heftig dagegen klopft, der Techniker fragt ihn, ob alles in Ordnung sei, doch Michele gibt auch ihm keine Antwort.

Heute sind es fünf Jahre. Statt die Last erträglicher zu machen, vervielfältigt die Zeit ihr Echo: Heute Abend wird er noch verstörter als letztes Jahr nach Hause kommen. Und obendrein womöglich betrunken.

»Du hättest zu Hause bleiben können«, wird Larissa sagen.

»Du weißt, dass ich hinmusste.«

Weil er der Einzige am Institut ist, der sich mit der Spieltheorie auskennt, und weil von seinen Kollegen nur Brian in der Stadt geblieben ist.

»Nash hatte wohl nichts Besseres vor«, witzelt Brian, dem dieses etwas andere Silvester eigentlich ganz gelegen kommt. Seine Frau ist vor drei Monaten abgehauen und hat die gesamte Habe mitgenommen.

Außerdem sind nur Studenten und Angestellte des Fachbereichs dort. Einbestellt um sieben Uhr, wenn der Vortrag – hoffentlich – vorbei sein wird.

»Was soll’s«, hat Michele geantwortet.

Außerdem wissen alle, dass Nash verrückt ist.

Als Nash eintrifft, sind bereits alle auf ihren Plätzen. Eigentlich hätte er vorher in Micheles Büro vorbeischauen sollen, um sich über den Vortrag abzustimmen, doch der Zug hatte eine Stunde Verspätung, und nun ist dafür keine Zeit mehr. Man kann schon von Glück sagen, dass er nicht kehrtgemacht hat.

»Professor.«

Michele hält ihm die Hand hin, und Nash scheint sie prüfend zu mustern, ehe er danach greift. Er sieht aus wie jemand, der möglichst schnell wieder nach Hause will. Doch wer weiß schon, was im Kopf dieses Mannes vorgeht. Dem berühmtesten Gelehrten, der sich mit der Spieltheorie befasst hat, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1994. Dreißig von akademischen Erfolgen und Krankheit geprägte Jahre. Brillante Forschungstätigkeit in Princeton für die RAND Corporation im Dienst der Regierung. Elektroschock, Insulinschock, epileptische Anfälle, chemische Zwangsjacken. Ein leidendes Genie, das mit einundzwanzig Jahren bereits den Artikel verfasst hatte, der ihn zum Nobelpreis führen sollte.

Über sein Leiden würde Michele ihn gern befragen: über die Wahnzustände, die halluzinatorischen Phasen, die Paranoia.

Denn diese Einsicht geht ihm ab. Die Erfassung eines Unglücks, das so groß ist, dass es einem den Willen, die Gesundheit, das Leben raubt.

»Where shall I sit?«, fragt Nash.

Mirko war aber nicht schizophren, denkt Michele, deutet auf den Sessel und tritt ans Mikrophon.

»Dear colleagues …«

Mirko war kein Genie.

»Dear students …«

Mirko war nur sein Sohn.

Der Vortrag ist kurz. So kurz, dass die im Hörsaal versammelten Studenten, die auf ihre Ferien daheim verzichten, um heute Abend hier zu sein, auch zehn Minuten nach Nashs Verschwinden noch auf ihren Plätzen sitzen. Vielleicht haben sie mit einer Zugabe gerechnet. Doch Nash hat seine Forschung zum Ideal Money vorgestellt, sich mit einem ungerichteten Nicken ins Publikum verabschiedet und das Podium verlassen. Micheles abschließende Dankesworte haben sie nicht überzeugt, abwartend sitzen sie da und überlegen womöglich, welches Gewicht sie der Tatsache, für einen halbstündigen Vortrag ohne abschließende Diskussion auf ein Silvester mit ihren Freunden in Ohio verzichtet zu haben, in ihrem jugendlichen Wertesystem beimessen sollen.

»Ging es ihm schlecht?«, fragt Brian.

»Glaube ich nicht.«

»Findet das Abendessen statt?«

Seine Frau ist erst seit so kurzer Zeit fort, dass Brian noch keine Gelegenheit hatte, sich ein anderes Leben vorzustellen. Und heute ist der 31. Dezember.

»Nein, Nash war da kategorisch. Willst du mit zu uns kommen? Larissa und ich …«

»Nein«, erwidert er, »ich möchte nicht …«

»Du störst nicht, Brian. Es wäre uns eine Freude.«

»Wirklich. Aber trotzdem danke«, sagt er hastig und sucht seine Sachen zusammen, »grüß mir Larissa ganz herzlich, habt ein …«

Er bricht ab. Wer sie kennt, weiß nie, was er ihnen zum neuen Jahr wünschen soll. Seit Mirkos Tod sind erst fünf Jahre vergangen, es ist noch zu früh. Genau deshalb sollte Brian die Einladung annehmen. Doch offenbar will er dem, was ihn bei den beiden daheim erwarten würde, aus dem Weg gehen, weshalb er die Nacht damit zubringen wird, in einem Pub mit dem Barmann anzustoßen.

»Guten Rutsch.«

»Dir auch, Brian.«

Michele geht hinaus, Taxis verstopfen die Straße. Er bückt sich zu einem hinab, das am Bordsteinrand parkt, doch inzwischen wird Nash bereits an der Penn Station sein. Als der Fahrer das Fenster herunterlassen will, winkt Michele ab, schaltet sein Handy wieder ein und macht sich zu Fuß auf den Weg.

»Wie ist es gelaufen?«

»Gut. Jetzt folgt der Empfang.«

»Mit Nash?«

»Nein, nur wir. Ich versuche es kurz zu machen.«

»Grüß mir Brian, frag ihn, ob er zum Abendessen kommen will.«

»Mach ich«, antwortet Michele und biegt in Richtung Bowery ab.

Gleich jenseits der Houston liegt eine Bar, deren schummrige Beleuchtung den Abgrund mancher Tage verschleiert und ihn weniger tief erscheinen lässt.

Mirko, denkt er. Mirko Mirko Mirko Mirko Mirko Mirko Mirko Mirko. Wie ein hohler Kinderreim, der durch ständiges Aufsagen seinen Sinn verliert.

»Mirko«, sagt er laut, als er an der Ampel wartet.

Der Mann vor ihm dreht sich um, Michele sieht ihn an, er tritt zur Seite.

Mirko Mirko Mirko Mirko. Unmöglich, diesen Namen zu entleeren. Ihn zu einem Geräusch werden zu lassen, das weniger taub macht, zu einer Last, die sich für einen kurzen Moment ein Stückchen anheben lässt.

Dabei hat er den Namen nie gemocht. Für Michele hatte er schon immer nach Schausteller geklungen, doch Larissa mit ihren slawischen Wurzeln und ihrer Schwäche für den Schriftsteller Mirko Kovac hatte die Namensgebung des Sohnes zur Bedingung gemacht, ihm nach Amerika zu folgen.

Obwohl Michele befürchtete, die Schwangerschaft habe seine Frau geistig umnebelt, hatte er ohne weitere Diskussionen zugestimmt: Die ihm angebotene Stelle war eine einmalige Chance, und vielleicht hätte Larissa die Sache bis dahin vergessen.

Hatte sie nicht. In der stürmischen Frühlingsnacht des 26. März 1974 hatte sie die Hebamme um 23:11 Uhr mit einer Nachricht für den Ehemann in den Wartesaal geschickt: »Mirko«.

Und getreu seinem Namen wuchs Mirko mit einem Zigeunergesicht heran.

Lockiges, rabenschwarzes Haar, wie es Michele als Kind gehabt hatte, große Augen, die glänzten, als stünden sie stets voller Wasser, schmale Lippen, hohle Wangen und einen von Natur aus athletischen Körper, der ihm gegen seinen Willen stets einen Platz in der Basketball-Schulmannschaft einbrachte. Denn Mirko war anders als seine Schulkameraden. Das war schon in der Mittelstufe so gewesen. Seine Freunde waren entweder gesunde, lärmende Sportskanonen oder das Gegenteil: Kleine Gelehrte, die sich in der Stadtbibliothek vergruben, um eifrig an ihrer Zukunft zu tüfteln. Zu seinem elften Geburtstag hatte Mirko sich eine Konzertkarte für Roger Waters in der Radio City Music Hall schenken lassen und angefangen, über Charles Lyell zu forschen. Damals war seine Leidenschaft für Geologie erwacht. Aufgeregt kam er zu seinen Eltern gerannt und schlug ihnen Sätze um die Ohren wie »Die Erde ist kein traumatisierter Planet!«, die Michele und Larissa sprachlos machten.

Eine frühreife und heftige Leidenschaft, die dem Zureden des Vaters widerstand: »Princeton, Mirko, dort lehrt Nash.«

Doch für Nash, Wirtschaft und eine gesicherte Zukunft hatte Mirko nichts übrig. Und trotz der Weltwirtschaftskrise schrieb er sich 1991 für Geologie ein.

Die Bar ist voll.

Wäre es ein anderer Abend, würde Michele sie nicht betreten, doch er braucht jetzt...


Marchelli, Chiara
Chiara Marchelli, geboren 1972 in Aosta, lebt als Lektorin und Übersetzerin in New York. Ihr Roman "Die blauen Nächte" war für den renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega nominiert.

Koskull, Verena von
Verena von Koskull, Jahrgang 1970, studierte Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna und erhielt 1999 ein Stipendium für die Übersetzerwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Nach mehrjähriger Verlagsarbeit in Italien und Deutschland lebt sie heute als freie Übersetzerin in Berlin.



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