Marcinski | Hunger spüren | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 376 Seiten

Marcinski Hunger spüren

Leib und Sozialität bei Essstörungen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-593-44757-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Leib und Sozialität bei Essstörungen

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

ISBN: 978-3-593-44757-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Für das Erleben von Hunger spielen soziale Bedingungen eine große Rolle. Leib und Sozialität stehen also, so die These dieses Buches, in einem engen Zusammenhang. Das gilt besonders für Essstörungen. Anhand vielfältiger Phänomene des Hungers zeigt die Autorin, dass der Leib historisch ebenso von Machtwirkungen durchzogen ist wie der Körper und das Selbst. Hierfür verbindet sie phänomenologische Überlegungen mit sozialphilosophischen und praxistheoretischen Ansätzen.

Isabella Marcinski, Dr. phil., hat an der Freien Universität Berlin promoviert.

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Erster Teil:Einleitung
»[H]unger itself seems so central to anorexia […] that, I submit, a phenomenology of anorexia demands a phenomenology of hunger.« Katherine Morris: Anorexia1 1.Essstörungen im Rahmen einer Phänomenologie des Hunger(n)s
Das leibliche Spüren von Hunger ist zentral für ein adäquates Verständnis der Essstörungen Anorexia nervosa (Anorexie) und Bulimia nervosa (Bulimie). Essstörungen sind zwar Objekte vielfältiger diskursiver Bedeutungszuschreibungen,2 der Stellenwert der Erfahrung von Hunger wird jedoch meist unterschätzt: In der sozial- und humanwissenschaftlichen Forschung zur Anorexie finden sich zwar vereinzelt Hinweise zur möglichen Relevanz des Hungererlebens für die Fortdauer der Krankheit, allerdings wurde dies bisher noch nicht systematisch ausgearbeitet. Hilde Bruch schildert beispielsweise, ihre Patientinnen hätten das Hungern durchaus genossen.3 Die Psychoanalytiker Hans Willenberg und Helmut Thomä verweisen sogar auf ein besonders sensibles Spüren von inneren Regungen wie dem Hunger. Anders ließe sich nicht erklären, warum Anorektiker_innen jahrelang einen kritischen Zustand aufrechterhalten können, bei dem sie an der Grenze des Verhungerns balancieren.4 Neben Joan Jacobs Brumberg, die die Anorexie in ihrer historischen Darstellung als »addiction to starvation«5 charakterisiert, also als eine Hungersucht, ist schließlich noch Susan Bordo zu nennen, die in ihrer feministischen Analyse betont, Anorektiker_innen seien vom Hunger wie besessen – eine Tatsache, die von der Forschung noch zu wenig thematisiert werde.6 Die vorliegende phänomenologische Beschreibung der Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa als »Hungerkrankheiten«,7 bei denen das Spüren von Hunger grundlegend ist, möchte diese Lücke schließen. Die Annahme, Essstörungen seien nur zu verstehen, wenn die konstitutive Bedeutung des Spürens von Hunger einbezogen wird, führt zu ihrer Situierung im Rahmen einer Geschichte der freiwilligen Selbstaushungerung. Dabei wird sich zeigen, dass die divergenten Praktiken des Nicht-Essens jeweils andere Modi der Foucaultschen »Sorge um sich« bilden und mit unterschiedlichen Subjektivierungsweisen einhergehen. Subjektivierung verstehe ich dabei, wie auch Ulrich Bröckling, in Anlehnung an Foucault als: »Ensemble der Kräfte, die auf die einzelnen einwirken und ihnen nahelegen, sich in einer spezifischen Weise selbst zu begreifen, ein spezifischen Verhältnis zu sich selbst zu pflegen und sich in einer spezifischen Weise selbst zu modellieren und zu optimieren. Der Topos beschreibt weniger eine tatsächlich vorfindbare Entität als ein Kraftfeld: (1) ein Telos, nach dem die Individuen streben, (2) einen Maßstab, an dem sie ihr Tun und Lassen beurteilen. (3) ein tägliches Exercitium, mit dem sie an sich arbeiten, und schließlich (4) einen Wahrheitsgenerator, in dem sie sich selbst erkennen sollen.«8 Die Anorexie ebenso wie die Bulimie stellen schließlich Krankheitspraktiken bereit, über die ein spezifisches Selbstverhältnis etabliert werden kann. Dieses Selbstverhältnis zeichnet sich durch ein besonders intensives leibliches Spüren aus. Zudem ist es fundiert in gegenwärtigen Subjektivierungsweisen, bei denen der gesunde Körper und die Ernährung zentral sind. Eine Phänomenologie des Hunger(n)s muss das Erleben des Hunger(n)s bei Essstörungen in Bezug setzen zu einer Reihe weiterer verwandter Phänomene, zu denen die Selbstaushungerung bei den Mystikerinnen des Mittelalters, die Fastenwunder, die Hungerkunst und der Hungerstreik zählen, ebenso wie der zeitgenössische Trend zu einer gesunden Ernährungsweise. Da diese Phänomenologie des Hunger(n)s soziale, politische, kulturelle, mediale und historische Faktoren, also Praktiken, Normen, Institutionen und Diskurse in die Beschreibungen des leiblichen Erlebens einbezieht und systematisch in ihrer Wirkung untersucht, ist sie eine kritische Phänomenologie, d.?h. sie wendet sich gegen die ahistorischen Tendenzen der traditionellen Phänomenologie. Die vorliegende kritische Phänomenologie ist schließlich praxeologisch gewendet, da sie nach der Verschränkung von leiblichem Spüren und normativen Praktiken fragt. Am konkreten Beispiel von Essstörungen wird eine Verbindung von Phänomenologie und Praxistheorie vorgeschlagen, wie sie auch Thomas Bedorf in einem programmatischen Aufsatz einfordert.9 Das Buch unternimmt somit eine kritisch phänomenologisch orientierte Beschreibung des leiblichen Erlebens bei den Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. Am Beispiel von Essstörungen soll nach der sozialen Genese des leiblichen Erlebens gefragt werden: Wie greifen gesellschaftliche Entwicklungen und Anforderungen, soziokulturelle Normen und Techniken, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Diskurse in das leibliche Selbsterleben ein und prägen dieses? Wie sind Leiberfahrungen mit Kulturtechniken im Sinne kulturell spezifischer Körper- und Selbstpraktiken verschränkt?10 Das Phänomen der Essstörungen verweist auf die historische und soziokulturelle Gebundenheit konkreter Leiberfahrungen. Gesellschaftliche Anforderungen, wissenschaftliche Diskurse, soziokulturelle (Geschlechter-)Normen, kulturell verfügbare Körper- und Selbsttechniken prägen das leibliche Erleben und die Narrationen der Betroffenen über ihre Krankheit. Damit dienen die Essstörungen als empirisches Beispiel, um für eine kritische Erweiterung der Phänomenologie zu plädieren, die am konkreten Material zeigt, dass der Leib ebenso historisch und von Machtwirkungen durchzogen ist wie der Körper und das Selbst. In der gegenwärtigen Forschung zu Essstörungen dominieren human- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, die sich auf körperliche und psychische Symptome konzentrieren. Dabei ist der Bezug auf die Diagnosekriterien der für die Psychiatrie und Psychotherapie geltenden Diagnosemanuale des ICD-10 und DSM-V bestimmend. Die Anorexie, die bereits 1873 als klinische Entität eingeführt wurde, wird darin gekennzeichnet durch einen selbst herbeigeführten massiven Gewichtsverlust und entsprechendes Untergewicht. Als zentrale Symptome werden genannt: das Streben nach Schlankheit, die Angst vor dem Dicksein, Hyperaktivität sowie eine Körperschema- und Körperbildstörung. Die Bulimia nervosa, bei der sich das Hungern mit Essanfällen und anschließendem Erbrechen sowie der Einnahme von Abführtabletten und Appetitzüglern abwechselt, wurde 1979 als eine eigenständig auftretende Essstörung definiert. Für beide Diagnosen existiert bisher noch keine wirksame Behandlung, sei diese psychotherapeutisch oder medikamentös ausgerichtet. Zudem besteht eine sehr hohe Rückfall- und Chronifizierungsquote von bis zu 50 Prozent. Die psychiatrischen Diagnosen versuchen die in den letzten Jahren zunehmende Vielfalt von normabweichenden Ernährungspraktiken zu fassen. So kommen ständig neue Diagnosen hinzu und das Spektrum möglicher Essstörungen differenziert sich weiter aus. Neben der Bulimia nervosa wurde im aktuellen DSM-V die Binge-Eating-Störung aufgenommen, bei der Betroffene nur Essanfälle ohne entsprechende kompensatorische Maßnahmen aufweisen. Die Kategorie der atypischen Essstörungen soll darüber hinaus alle als pathologisch geltenden Praktiken fassen, die nicht von den bisherigen Diagnosen abgedeckt werden.11 Mit leibphänomenologischen Ansätzen in der Philosophie lässt sich nach der subjektiven Erfahrung der von Essstörungen Betroffenen fragen, die bisher ein Forschungsdesiderat bildet. Anhand von Schilderungen in autobiographischen Texten soll das leibliche Erleben rekonstruiert und nachgewiesen werden, dass es grundlegend ist für die Etablierung und Aufrechterhaltung des anorektischen und bulimischen Krankheitsbildes.12 Dabei kann und soll die Phänomenologie allerdings keine Ursachen erklären, vielmehr liegt ihre Kompetenz in der Beschreibung der mit den Krankheitspraktiken bei Essstörungen einhergehenden Veränderungen des leiblichen Erlebens sowie des spezifischen Verhältnisses zu sich selbst, der Welt und Anderen. In klassischen phänomenologischen Ansätzen findet...



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