Marcus | Über Bob Dylan | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 640 Seiten

Marcus Über Bob Dylan

Schriften 1968-2010
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8419-0264-1
Verlag: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Schriften 1968-2010

E-Book, Deutsch, 640 Seiten

ISBN: 978-3-8419-0264-1
Verlag: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Greil Marcus verfolgt Bob Dylans Werk mit der Intensität eines Fans und der Hartnäckigkeit eines Detektivs - von Dylans Anfängen bis heute. Die Beiträge in diesem Buch reichen von Artikeln im amerikanischen Rolling Stone wie jedem berühmt berüchtigten über SELF PORTRAIT 1970, der vielleicht verschriensten Plattenkritik aller Zeiten, bis hin zu einer 30 Jahre später erschienenen Würdigung der Tiefen von OUT OF MIND. Das Ergebnis ist eine funkelnde und beständige Chronik einer über 40 Jahre andauernden Beziehung zwischen einem unvergleichlichen Sänger und seinem aufmerksamsten Zuhöhrer.GREIL MARCUS veröffentlichte zahlreiche Bücher, u. a. When That Rough God Goes Riding, Like a Rolling Stone, The Old, Weird America, The Shape of Things to Come, Mystery Train, Dead Elvis, In the Fascist Bathroom; 2009 erschien anlässlich des 20-jährigen Jubiläums eine Neuauflage seines Buchs Lipstick Traces. Seit 2000 lehrt er in Berkeley, Princeton und an der New School in New York; seine Kolumne»Real Life RockTop 10« erscheint regelmäßig im Believer. Er lebt in Berkeley.
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Wo ich ins Spiel kam

Im Sommer 1963 pilgerte ich zu einem Feld in New Jersey, um mir Joan Baez anzuschauen, ein vertrautes Gesicht in meiner kalifornischen Heimatstadt Menlo Park und mit einem Mal auch überall sonst – sie war auf dem Titelblatt des Time Magazine gewesen. An jenem Tag trat sie in einer dieser alten, mit einem Zelt überdachten Freiluftarenen auf. Nachdem sie eine Weile gesungen hatte, sagte sie: »Ich möchte Ihnen nun einen Freund von mir vorstellen« – woraufhin ein abgerissener Typ mit Gitarre auf die Bühne stieg. Er sah staubig aus. Seine Schultern hingen herab und er wirkte ein wenig verlegen. Er trug ein paar Songs vor, allein, dann sang er noch ein oder zwei mit Joan Baez im Duett und danach verschwand er wieder.

Das Ende der Show bekam ich kaum mit. Ich war wie vor den Kopf geschlagen – war perplex. Dieser Typ war da einfach auf die Bühne von jemand anderem gekommen, und obgleich er auf gewisse Weise so gewöhnlich wirkte wie die Leute im Publikum, lag etwas in seinem Gebaren, das einen dazu herausforderte, ihn einzuordnen, ihn zu bewerten und abzuschreiben, und doch war das unmöglich. Die Art und Weise, wie er sang und wie er sich bewegte, verriet einem nicht, woher er kam, wo er gewesen war oder wohin er gehen würde – doch sie weckte irgendwie den Wunsch in einem, all diese Dinge wissen zu wollen. »Oh my name it is nothin’, my age it means less«, sang er an jenem Tag, zu Beginn seines Songs »With God on Our Side«, der das Kernstück seines im folgenden Jahr erscheinenden Albums The Times They Are A-Changin’ sein sollte – und während sich das komplette Buch der amerikanischen Geschichte in diesem Song aufzublättern schien, die Geschichte des Landes, wie sie sich auf eine neue Weise selbst erzählte, hielt der Song gleichzeitig das Versprechen des Sängers, denn als er sang, konnte man nicht sagen, wie alt er war. Er hätte siebzehn sein können, genauso gut aber auch siebenundzwanzig – und für einen Achtzehnjährigen wie mich war das schon ziemlich alt.

Als die Show vorbei war, sah ich diesen Typen, dessen Namen ich nicht mitbekommen hatte, hinter dem Zelt kauern – es gab keinen Backstagebereich, keine Securityleute, kein Protokoll – und so schlenderte ich zu ihm hinüber. Er war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. Es war windig und seine Hände zitterten; das Streichholz beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Ich war gerade benommen genug, um ihn anzusprechen: »Sie sind fantastisch gewesen«, sagte ich, nie um eine originelle Formulierung verlegen. »Ach was, ich bin scheiße gewesen«, sagte er, »ich bin echt scheiße gewesen.« Darauf wusste ich wiederum nichts zu erwidern und trollte mich davon. Ich fragte jemand aus dem Publikum nach dem Namen dieses Typen, der gerade mit Joan Baez in ihren schwarzen Jaguar XK-E stieg – damals der heißeste Schlitten der Welt. Zurück in Kalifornien ging ich schnurstracks in den nächsten Plattenladen und kaufte mir The Freewheelin’ Bob Dylan, sein zweites Album und das einzige von ihm, das im Laden vorrätig war. Zu Hause wunderte ich mich darüber, dass manche der Songs – einer über die John Birch Society, einer über einen »ramblin’ gamblin’ Willie« sowie eine mit einer Band eingespielte Nummer, die ich »Make a Solid Road« taufte – nicht mit den in den Liner Notes beschriebenen Songs übereinstimmten. Ich ging mit der Platte in den Laden zurück und erklärte dem Besitzer, dass damit etwas nicht stimme. »Ja, ich weiß, die sind alle so«, sagte er. »Ich habe deswegen schon jede Menge Reklamationen gehabt. Kommen Sie nächste Woche wieder, dann habe ich ein korrektes Exemplar für Sie.« Doch ich ging nicht wieder hin. Ich war ganz hin und weg von »Don’t Think Twice«. Ich spielte diesen Song den ganzen Tag lang ab. Ich befürchtete, er könnte auf dem korrekten Exemplar fehlen, wenn ich mein »fehlerhaftes« dafür eintauschte.

Für mich, für viele andere Leute und auf gewisse Weise vielleicht sogar für Bob Dylan selbst gingen sein Leben und sein Werk genau zu jener Zeit auf. Mit Nummern wie »Blowin’ in the Wind«, »Masters of War«, »A Hard Rain’s A-Gonna Fall« und »The Lonesome Death of Hattie Carroll« sowie einem Dutzend weiterer Songs über Konflikte und Gerechtigkeit, über Wahrheit und Lüge, Songs, die episch und zugleich völlig alltäglich sein konnten und die von nichts weiter untermalt wurden als der schlichten Gitarre und der Mundharmonika des Sängers, und dann mit seinen Alben der Mittsechzigerjahre, Bringing It All Back Home, Highway 61 Revisited und Blonde on Blonde, Platten voller visionärer Darbietungen und, in der Regel, mit einem nicht minder visionären Rock ’n’ Roll, der nicht auf die Songs aufgesetzt war, sondern diese vollkommen durchdrang – mit diesen Veröffentlichungen avancierte Bob Dylan in der allgemeinen Vorstellungskraft binnen Kurzem zu sehr viel mehr als einem Sänger, dem es zufällig gelungen war, seine Zeit einzufangen. Um das zu schaffen, was ihm gelungen war, so schrieb Dylan Jahre später, musste man jemand sein, »der die Dinge bis auf den Grund durchschauen konnte, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich – als bringe man Metall mit dem Blick zum Schmelzen – jemand, der ihr wahres Wesen erkannte und es in ungeschönter Sprache und mit unbarmherziger Klarsicht enthüllte.« In den frühen 1950er-Jahren verfolgten Kids wie Bob Dylan wöchentlich im Fernsehen, wie jemand in der Serie The Adventures of Superman Metall fixierte und es zum Schmelzen brachte. Im darauffolgenden Jahrzehnt »weckte Dylan«, wie Paul Nelson es an anderer Stelle in diesem Buch formuliert, »bei seinen Anhängern wie bei seinen Kritikern ein so intensives persönliches Interesse, dass sie bei ihm nichts mehr als einen Zufall gelten lassen wollten. Begierig auf ein Zeichen verfolgten sie ihn auf Schritt und Tritt und warteten nur darauf, dass er einen Zigarettenstummel fallen ließ. Wenn er es tat, prüften sie die Überreste sorgfältig und suchten nach einer Bedeutung. Das Beängstigende daran ist, sie fanden diese auch – für sie waren derlei Dinge tatsächlich von Belang.«

Dies war die Zeit, wo ich ins Spiel kam, als Autor – fünf Jahre nach der Show in New Jersey, am Ende von Dylans Abenteuer als ein Orakel auf der Flucht, kurz nachdem er sein karges, kryptisches Album John Wesley Harding herausgebracht hatte, ein Album, angefüllt mit Parabeln über die Republik, mit Rätseln über deren Räuber und Gendarmen, und mit Lovesongs, die dem Ganzen den Stachel nahmen.

Als Bobby Darin auf drei Hits zurückblicken konnte, verkündete er sein Lebensziel: »Mit fünfundzwanzig will ich eine Legende sein.« Das gelang ihm nicht, Bob Dylan aber schaffte es.

Das sind die Einleitungszeilen eines 1968 von mir verfassten Artikels, der nicht in diesen Sammelband aufgenommen wurde, doch mit Ausnahme zweier früherer Bücher (eins über den Song »Like a Rolling Stone«, eins über die sogenannten Basement Tapes) enthält er so gut wie alles, was ich im Laufe der Jahre über Bob Dylan geschrieben habe. 1969 war Dylan achtundzwanzig. Er war mindestens seit 1964 eine Legende, eine Geschichte, die die Leute weitergaben, als hätte sie sich vielleicht tatsächlich zugetragen. Doch die Zeit raste damals dahin – Bobby Darin, so kann man sich vorstellen, wollte mit fünfundzwanzig eine Legende sein, weil es danach womöglich zu spät gewesen wäre.

Da dieses Buch im Wesentlichen aus Rezensionen, Reportagen, Entdeckungen oder Kommentaren besteht, die in monatlich oder vierzehntägig erscheinenden Magazinen und in Tages- und Wochenzeitungen publiziert wurden, ist es bis zu einem gewissen Grad eine Chronik von Ereignissen, die sich praktisch zu dem Zeitpunkt zugetragen haben, als über sie berichtet wurde, und daher schwebt der Geist jener heroischen Epoche über dem, was ich geschrieben habe. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass ich über jemanden schreibe, der Außergewöhnliches geleistet hat, der eine Musik erschaffen hat, die schon bei ihrem ersten Erscheinen den Eindruck erweckte, womöglich unberührbar zu sein, nicht bloß für andere, sondern auch für Dylan selbst. Es war eine gewaltige Leistung: die Neufassung der volkstümlichen Musik Amerikas, in jedem erdenklichen Sinn, von den Fiddlespielern, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts »Springfield Mountain« ertönen ließen, bis zu Little Richard; eine Rückgewinnung der Vergangenheit, bei der gleichzeitig eine Tür zu etwas aufgestoßen wurde, das vorher noch nie gehört und noch nie gesagt worden war. All dies ist in diesem Buch enthalten. Doch zumindest in der ersten Hälfte ist es nur als ein Schatten präsent, ein Schatten, geworfen von einem Performer, der, als ich über ihn zu schreiben begann, selbst in diesem Schatten verschwunden war.

Die Geschichte, der ich nachging, war zu Anfang die Geschichte von Bob Dylan, wie er versuchte, sein bisheriges Schaffen zu transzendieren, ihm zu entsprechen, ihm auszuweichen, es zu verleugnen oder ihm zu entkommen. Ich war ein Fan; ich suchte nach jenen weggeworfenen Zigarettenstummeln. Doch wenn Dylans Leistung der vorausgegangenen Jahre eine unbestreitbare Tatsache war, als ich über ihn zu schreiben begann, so stand damals keineswegs fest, wie sich die Geschichte weiterentwickeln und welchen Ausgang sie nehmen würde. Diese Chronik beginnt im Grunde erst mit Dylans 1970...


Marcus, Greil
Greil Marcus, 1945 in San Francisco geboren, ist Kulturkritiker und befasst sich mit dem Einfluss der Popkultur auf die Gesellschaft. Auf Deutsch ist von ihm bereits das Dylan-Buch Like a Rolling Stone: Die Biographie eines Songs erschienen. Seit 2000 lehrt er in Berkeley, Princeton und an der New School in New York; seine Kolumne „Real Life Rock Top 10“ erscheint regelmäßig im Believer. Er lebt in Berkeley.

Greil Marcus, 1945 in San Francisco geboren, ist Kulturkritiker und befasst sich mit dem Einfluss der Popkultur auf die Gesellschaft. Auf Deutsch ist von ihm bereits das Dylan-Buch Like a Rolling Stone: Die Biographie eines Songs erschienen. Seit 2000 lehrt er in Berkeley, Princeton und an der New School in New York; seine Kolumne „Real Life Rock Top 10“ erscheint regelmäßig im Believer. Er lebt in Berkeley.



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