Martin | Die Anwendung moralischer Normen und Regeln | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 166 Seiten

Martin Die Anwendung moralischer Normen und Regeln


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-045699-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 166 Seiten

ISBN: 978-3-17-045699-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Zeiten der Veränderung, der Unruhe und des Konflikts sucht man verstärkt nach Orientierung, Selbstvergewisserung und der Bestätigung, auf der richtigen Seite zu stehen. Sich auf die Moral zu besinnen, kann als Versuch gelten, den Halt zurückzugewinnen, der angesichts der Unbestimmtheit und Komplexität der Verhältnisse verloren zu gehen droht. Wenn es allerdings beim Einklagen moralischer Postulate bleibt, ist wenig gewonnen. Die Vorstellung einer reinen Morallehre, die sich ohne Weiteres in konkretes Handeln umsetzen lässt, ist nicht nur intellektuell unterkomplex, sondern auch moralisch bedenklich. Denn die moralischen Regeln und Normen selbst sind oft wenig strittig, Probleme entstehen primär bei ihrer Konkretisierung, bei der Abwägung der Mittel, der Vermittlung von Interessenlagen, der Einbindung moralischer Ideale in Strukturzusammenhänge. Das vorliegende Buch befasst sich mit dieser Anwendungsproblematik und behandelt verschiedene Lösungsansätze zum Umgang mit den sich dabei stellenden Herausforderungen. Veranschaulicht werden die Überlegungen durch zahlreiche Alltagsbeispiele aus den Bereichen der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik.

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Moral hat keinen guten Ruf. Denn sie macht uns Vorschriften, schreibt uns also vor, wie wir uns zu verhalten oder gar zu denken haben. Sie schränkt uns ein und verlangt, nicht alles zu tun, was immer wir wollen könnten. Wer sich unmoralisch verhält, muss mit der Missbilligung seiner Mitmenschen rechnen, im schlimmsten Fall gilt er als Sünder und fühlt sich dann auch so. Und selbst wenn man sich an die gängigen moralischen Standards hält, lässt einen die Moral nicht frei, denn sie ist anspruchsvoll, sie fordert nicht nur Gehorsam, sondern propagiert darüber hinaus Ideale, denen niemand vollumfänglich genügen kann, was uns unsere Mittelmäßigkeit unerbittlich vor Augen führt. Die negativen Emotionen, die sich mit dem moralischen Imperativ verbinden, bestimmen die Einstellungen gegenüber der Moral aber nur zum Teil. Schließlich halten sich die Menschen im Großen und Ganzen an moralische Regeln und, wenngleich die Zustimmung oft unterkühlt ausfällt, sie halten sie (zurecht) für unentbehrlich. Ohne Moral würden wir nicht existieren. Zu ihren Vorzügen gehört, dass sie keine gesetzte Himmelsmacht, sondern von den Menschen selbst ersonnen ist. Sie haben es daher auch selbst in der Hand, sich eine Moral zu schaffen, die ihren Zweck erfüllt. Und dieser Zweck besteht darin, ein gutes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Auch wenn man, wie eingangs beschrieben, seine Probleme mit ihr haben mag, tatsächlich ist die Moral nicht mehr und nicht weniger als eine durch und für die Gesellschaft geschaffene eminent wichtige Problemlösung. Wenn sich alle moralisch angemessen verhielten, dann funktionierten das Zusammenleben und die Zusammenarbeit erfreulich und reibungslos, dann ließen sich Konflikte im Einvernehmen lösen und die Lebensprobleme gemeinschaftlich bewältigen. Das ist natürlich nur eine Wunschvorstellung, weil jede Moral ihre problematischen Seiten hat, denn schließlich ist nichts perfekt. Üblicherweise versteht man unter Moral einen Verhaltenskodex, einen Katalog von Pflichten und Verfahrensweisen, von moralischen Regeln und moralischen Idealen. Im Laufe der Philosophiegeschichte wurden zahlreiche Regelsysteme entwickelt. Formal findet man zwar unterschiedliche Systematisierungsansätze, inhaltlich gesehen gibt es jedoch, was die grundlegenden moralischen Normen angeht, eine große Übereinstimmung. So gut wie jedes philosophisch-ethische System enthält beispielsweise das Verbot, andere zu schädigen, man soll nicht betrügen, niemand soll seiner Freiheit beraubt werden, die sozialen Verhältnisse sollen gerecht sein usw.1 Allerdings machen die moralischen Normsetzungen nur die Hälfte der Moral aus. Eine gute Moral muss nicht nur auf guten Grundsätzen beruhen, sie muss auch das Anwendungsproblem lösen. Das Anwendungsproblem stellt sich aus zwei Gründen. Erstens genügt es nicht, gute Absichten sowie einen guten Plan zu haben, man braucht daneben auch die Fähigkeiten und die Mittel, um Absichten auch umzusetzen und den Plan in moralisch gebotener Weise auszuführen. Und zweitens, und darum geht es hauptsächlich in diesem Buch, lassen sich moralische Normen nicht ohne Zusatzüberlegungen auf den durch Zeit, Ort und Umstände gegebenen, spezifischen Handlungskontext anwenden. Moralische Normen sind nämlich zunächst immer abstrakt und müssen »operationalisiert«, also in konkrete Verhaltensweisen überführt werden. Dazu genügt manchmal ein Standardverfahren, aber oft bedarf es einer situationsgerechten Ausgestaltung des jeweiligen Handelns, damit dem Sinn der Norm angesichts der immer besonderen Gegebenheiten Rechnung getragen wird. Gerechtigkeit ist im Leistungswettbewerb z.B. etwas anderes als bei der Armenfürsorge, Hilfeverweigerung in einer Notsituation ist nicht das gleiche wie die Weigerung, sich an der Organisation eines Straßenfests zu beteiligen usw. Außerdem sind die Anforderungen, die an ein Handeln gestellt werden, selten eindimensional, es muss oft mehreren Normen gleichzeitig genügen und diese können – und tun dies nicht selten – jeweils ein anderes Verhalten einfordern. Es muss also geklärt werden, welcher Norm der Vorrang gebührt und auch diese Frage kann nicht allgemein entschieden werden, denn in einem Fall gebührt möglicherweise der Norm A der Vorzug vor Norm B und in einer anderen Handlungskonstellation kann es umgekehrt sein. Nicht selten müssen auch Kompromisse gemacht, also z.B. gewisse Einschränkungen einer Norm hingenommen werden, um einer anderen Norm Geltung zu verschaffen. Wenn man die Kontextbetrachtung weit treibt, kann man zu der Auffassung gelangen, dass es eines speziellen Normbezugs gar nicht mehr bedarf, dass sich die richtige Art des Handelns gewissermaßen induktiv aus den Erfordernissen der Situation ergibt. Das wäre allerdings ein Trugschluss, weil sich aus einer rein deskriptiven Beschreibung keine Verhaltensvorschrift ableiten lässt, hierzu bedarf es immer einer Verknüpfung mit mindestens einem normativen Statement. Man braucht beides: Eine moralische Regel ohne Kontext bleibt handlungsbezogen abstrakt, der Kontext ohne moralische Regel bleibt handlungsbezogen unbestimmt. Ebenso wie die Wissenschaft strebt auch die Ethik nach möglichst allgemeinen Aussagen. Was die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem angeht, gibt es daher Ähnlichkeiten, es gibt aber auch Unterschiede. Eine erste Gemeinsamkeit betrifft das Operationalisierungsproblem. Es muss geklärt werden, in welcher Beziehung die Größen, die mit den theoretischen Konstrukten bezeichnet werden, zu den konkreten empirischen Phänomenen stehen, die sie beschreiben sollen (und warum). Um festzustellen, ob und in welcher Ausprägung die theoretisch gemeinten Phänomene vorliegen, um sie zu beobachten (richtig einzuordnen, zu messen), muss es gelingen, sie durch geeignete Methoden adäquat abzubilden. So muss z.B. zur Bestimmung der Stärke eines Magnetfeldes ein leistungsfähiges Messinstrument konstruiert, gebaut und justiert werden. Zur Erfassung einer Persönlichkeitseigenschaft (z.B. der emotionalen Stabilität) können sehr verschiedene, sich teilweise ergänzende Verfahren eingesetzt werden (Selbstbeschreibungen, Tests, Tiefeninterviews, Beobachtungen). Bei der Operationalisierung des normativen Konstrukts der Lohngerechtigkeit muss ein ganzes Set von Variablen betrachtet werden (Lohnhöhe, Lohnsicherheit, Produktivität, Arbeitsbelastungen, vorauslaufende Bildungsinvestitionen, Verantwortung, Vergleichstätigkeiten usw.). Dass die Inbeziehungsetzung gelingt, ist keineswegs gesichert. Probleme stecken sowohl in den logischen Ableitungsbeziehungen zwischen Theorie und Empirie (die oft mehrere Stufen umgreifen) als auch bei der Vermeidung von Beobachtungs-, Zuordnungs- und Messfehlern. Eine zweite Gemeinsamkeit besteht in der Mehrfachverursachung. Eine konkrete Naturerscheinung wird nur im Ausnahmefall von einer einzelnen Größe bestimmt. So wird die Zeit, die ein sich auf einen Planeten zubewegendes Objekt braucht, bis es dessen Oberfläche erreicht, nicht nur von der Masse des Planeten (und des Objektes) bestimmt, sondern auch von der bisherigen Flugbahn und der vorgängigen Eigengeschwindigkeit des Objekts, der Dichte der Atmosphäre, der Windgeschwindigkeit und der Windrichtung (und der Angriffsfläche, die das Objekt dem Wind bietet). Die konkrete Angstreaktion einer Person wird möglicherweise stark von deren emotionaler Stabilität bestimmt, denkbar ist aber auch, dass andere Faktoren bedeutsamer sind, z.B. die objektive Gefahr, die körperliche Verfassung, das herrschende Angstklima, die Existenz von Fluchtmöglichkeiten und Schutzvorrichtungen.2 Und inwieweit ein Arbeitgeber gerechte Löhne bezahlt (und bezahlen kann und sollte), bestimmt sich nicht nur nach dessen Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch nach der Leistungsfähigkeit des Unternehmens, dem Handeln der arbeitspolitischen Institutionen, der Sondersituation oder den Sonderinteressen bestimmter Belegschaftsgruppen usw. Eine dritte Gemeinsamkeit betrifft die Bedeutung der Situation. So hängen die Gravitationswirkungen, denen Himmelsobjekte ausgesetzt sind, nicht allein von der Masse dieser Objekte ab (und von deren Anordnung im Raum), sondern auch von deren Gestalt, d.h. der Verteilung der Massepunkte in den einzelnen Objekten. Wie komplex sich Wirkgrößen und Situationsvariablen verknüpfen können, zeigen beispielhaft die Klimamodelle, die zahlreiche Einflussgrößen der Atmosphäre, der Biosphäre, der Hydrosphäre, der Anthroposphäre usw. umfassen.3 Ein deutlicher Unterschied zwischen der deskriptiven und der normativen Betrachtung betrifft die Geltung. Naturgesetze gelten immer und überall, sie lassen sich nicht ausschalten. Für eine moralische Regel (z.B. »Du sollst andere Personen keinen Schaden zufügen!«) gilt dies empirisch bekanntlich nicht, sie kann jederzeit verletzt werden. Und auch normativ gilt eine moralische Regel nicht »kategorisch«, d.h. nicht immer und überall, weil es Situationen geben kann, in denen ein gewisses Ausmaß an Schädigung akzeptabel ist, weil z.B. damit ein noch größeres Übel verhindert werden kann. Eine gewisse Strukturähnlichkeit scheint es mit dem verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Bereich zu geben, weil dort die Zusammenhänge weder einem strikten Determinismus unterliegen noch mit mathematischer Präzision abgebildet werden können. Der am häufigsten anzutreffende Aussagetyp der empirischen Sozialwissenschaften ist die empirische Verallgemeinerung. Beispiele sind »Frustration führt zu Aggression« und »Männer finden für ihre Arbeit mehr Anerkennung als Frauen.« Als Beleg für die Gültigkeit derartiger Aussagen werden in der Regel empirische Resultate herangezogen, die zeigen, dass sich die relativen Häufigkeiten der...


Prof. Dr. Albert Martin, Institut für Management und Organisation, Leuphana Universität Lüneburg. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Entscheidungstheorie, die Organisationsentwicklung und die Wissenschaftslehre.



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