Martini | Requiem für Tante Domenica | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

Martini Requiem für Tante Domenica


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-03855-100-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

ISBN: 978-3-03855-100-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tante Domenica ist gestorben. Die bigotte alte Jungfer hatte mit dem Pfarrer zusammen über die Moral im Dorf gewacht. An ihrem Totenbett sitzt der angereiste Neffe. Jugenderinnerungen steigen hoch, und im Leichenzug begegnet er Giovanna, seiner ersten Liebe wieder. Aus den Erinnerungen zwischen Zorn und Zärtlichkeit ersteht ein eindrückliches, realistisches Bild des alten Val Bavona, entwickelt sich die Geschichte einer glücklich-unglücklichen Kindheit und Jugend im engen Tal, geprägt von Katholizismus und Tradition. Dann erhält Tante Domenica eine feierliche Totenmesse, wird zu Grab getragen, ein jeder wirft eine Handvoll Erde ins Grab und geht seiner Wege. Libera me, Domine! 'Bilder, konzentriert und einprägsam, Bilder, die einem nicht mehr loslassen ...' Tessiner Zeitung 'Die Schilderungen sind voller Farben und trotz kritischer Härte des Blicks des Autors voll menschlicher Wärme. Der schmale Band ist ein Klassiker der Tessiner Literatur. Luzerner Zeitung 'Seine Romane sind Denkmäler einer Lebensweise und eines Lebensgefühls, das wohl bald niemand mehr verkörpern wird.' Vaterland

Plinio Martini, geboren 1923 in Cavergno, wuchs als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach seiner obligatorischen Schulzeit besuchte Martini das Lehrerseminar in Locarno und unterrichtete anschliessend in Cavergno und später in Cevio. Martini heiratete und wurde Vater von drei Kindern. In den 60er Jahren erkrankte er erstmals an einem Hirntumor, an welchem er nach jahrelangem Leiden 1979 im Alter von 56 Jahren erlag. Erste Erzählungen konnte Martini Anfang der 1950er Jahre im 'Giornale del popolo' veröffentlichen. 1951 und 1953 erschienen die Gedichtbände 'Paese così' und 'Diario forse d'amore'. 1970 folgte sein erster Roman 'Il fondo del sacco', der vier Jahre später in der deutschen Übersetzung unter dem Titel 'Nicht Anfang und nicht Ende' erschien. Sein zweiter Roman 'Requiem für Tante Domenica' erschien 1975 in deutscher Sprache. In seinem Werk hat Martini die klischierten Tessinbilder revidiert. Er gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur.
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In der geräumigen Küche von Tante Domenica wartete Marco inmitten der Verwandten, gleich ihm fast alle Brüder, Vettern oder Neffen väterlicherseits der Abgeschiedenen, die mit ihren Frauen oder Männern und Kindern zum Begräbnis zusammengeströmt waren, auf den Beginn der Leichenfeier. So zahlreich waren sie erschienen, daß er, der seit einigen Jahren in der Ferne lebte, ganz erstaunt war, als er sie nun alle beisammen sah, und, allerdings ohne viel Erfolg, eine Rechnung aufzustellen, die jüngeren Familienmitglieder ihrer Ähnlichkeit nach den betreffenden Eltern zuzuordnen versuchte. Wenn er bedachte, daß zu Ende des letzten Jahrhunderts der Großvater als einziger der Serazzi-Sippe im Dorf verblieben war, um den Namen der Familie lebendig zu erhalten, während alle anderen durch Unglücksfälle umgekommen oder ausgewandert waren, schien es ihm geradezu unmöglich, daß diese ganze Schar seinen patriarchalschen Lenden entsprossen sei, um zu der erschreckenden Bevölkerungszunahme der Welt das ihre beizutragen.

Männer, Frauen, Kinder drängten sich in der Küche und im Gang. Nur die Vorratskammer auf der anderen Seite blieb durch die Stille des Todes vor dem Lärm bewahrt. Dort war er kurz vorher eingetreten, um der Tante den letzten Gruß zu entbieten. Er war einen Augenblick lang neben dem schon verschlossenen Sarg gestanden, ohne daß es ihm gelang, irgendeinen Gedanken in sich zu entdecken, außer einem allgemeinen Gefühl der Traurigkeit über die verfließende Zeit, die vertraute und geliebte Erscheinungen auslöscht und andere, ebenso vergängliche entstehen läßt. Er war auch nicht imstande, ein Gebet, ein Requiem, in Worte zu fassen, wie es sicherlich die anderen, die vor ihm an der Bahre vorbeidefiliert waren, getan hatten und wie es eben jetzt auch einige Frauen taten, vermutlich entfernte Verwandte oder Kirchenfreundinnen der armen Tante, die in ihren dunklen Kleidern schweigend an der Wand standen, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, während Perle um Perle von Daumen und Zeigefinger ertastet wurde, um dann, wenn das Avemaria zu Ende war, gleichsam von einem winzigen Automaten verschluckt, in der Hand zu verschwinden. In dem herrschenden Halbdunkel war es kaum zu merken, daß sie beim Erscheinen jeder neuen Person die Lider aufschlugen und den Blick zur Tür schweifen ließen, um ihn, sobald sie den Namen, den Verwandtschaftsgrad und den Gesundheitszustand des Eingetretenen festgestellt hatten, gleich wieder zu senken und in ihre archaische Regungslosigkeit zurückzukehren.

Doch er fühlte sich von ihnen beobachtet und somit gezwungen, seine Ehrfurchtsbezeugung vor der sterblichen Hülle auszudehnen, sich in dieser unwirklichen Stille länger ihren verstohlenen Blicken auszusetzen. Er wußte, daß die schwarzen, silberbefransten Vorhänge, die ringsum drapiert waren, alte Lärchenholzregale verdeckten; um seine Gedanken zu beschäftigen, suchte er sich zu vergegenwärtigen, wie sie an den Wänden entlangliefen, vollgestopft mit allen möglichen Töpfen und Schüsseln aus Stein und Steingut, mit Säcken und Büchsen und anderen ausgedienten Gegenständen, die hier ordentlich verwahrt wurden. Da gab es vor allem Schöpfkellen und Löffel zum Abrahmen in allen möglichen Größen und altertümlichen Formen, Becken, Kannen, Buttermodeln, konzentrisch ineinandergesteckte Rahmen für die Käseformen, Butterfässer, Molke- und Pökelfäßchen aus Ahorn-, Eschen- und Eichenholz mit Maßeinteilung in präziser Einlegearbeit, alles wie es der Großvater vor vielen Jahren, nach seiner letzten Alpfahrt, mit weiß Gott welch bekümmerten Gedanken hier versorgt hatte und wie es seither treulich aufbewahrt wurde, als könnte es noch jemandem dienen – und vielleicht hatten sogar schon die Hände von Altwarenhändlern darin herumgewühlt, die es nicht erwarten konnten, in diesen Zeugnissen uralten Duldens zu stöbern und zu kramen. Jetzt hatte man diese Dinge verborgen, beinahe als wären sie des Mysteriums des Todes nicht würdig; doch sie waren mit dem ewigen Schlaf der Tante, die man gleichfalls mit geduldiger Sorgfalt in ihren Sarg gebettet hatte, inniger verbunden als die ringsum ausgespannte, fransengezierte Dekoration, die man vielleicht ursprünglich gar nicht in Aussicht genommen hatte, aber schließlich nicht umgehen konnte, aus Platzgründen und wahrscheinlich auch weil es jetzt, da der Dorftischler sich vornehm als Leichenbestattungsunternehmer etabliert hatte, eine Beleidigung gewesen wäre, ihn nicht heranzuziehen.

Der war in seiner neuen Würde gleichfalls erschienen, stolz auf die wohlgelungene Inszenierung und pünktlich in der Ausübung seiner Obliegenheiten. Er hatte sich einen schwarzen Anzug und das obligate Leichenbittergesicht, halbwegs zwischen dem Totengräber und dem Pfarrer, zugelegt, dazu einen krummen Rücken, was ihm die Verneigungen erleichterte, denn er hatte sich auch angewöhnt, seine Offerten, Ratschläge, Empfehlungen mit einer salbungsvollen, dienernden Bewegung, einem Zurückweichen des Hinterteils, zu begleiten. Eine wenig schätzenswerte Gewohnheit, die um so ungerechtfertigter erschien, als es sich bei seinen Kunden um Leute handelte, mit denen er normalerweise auf du und du stand; sie hatte ihn schon weit von seinem früheren redlichen Handwerkertum entfernt, als noch jeder Sarg von Fall zu Fall nach Maß zurechtgehobelt und zusammengenagelt wurde, und ihn zum Urbild der Nachkriegs-Tessiner umgeformt, die in der Tür der diversen Grand-Hotels und Kursäle bereitstehen, um vor jedem echten oder falschen Maharadscha und jedem großen Tier aus dem Norden ihre Katzenbuckel zu vollführen. Wobei dieses Zurückweichen oder Hinausrecken des Hintern eine Reflexbewegung war, die ihren Höhepunkt fand, oder besser gesagt geadelt wurde, als der ehrenwerte Vorsteher des Innendepartements und zugleich Chef des Kantonalen Fremdenverkehrsverbandes auf seiner Propagandareise nach Hamburg, im Nationalkostüm dienernd, eine Kamelie – das Lächeln unserer Seen, wenn dort oben alles noch vor Kälte klappert – überreichte: «Kennen Sie das Land, Madame, wo die Kamelien blühen?»

Ungeachtet der feierlichen Pompe-funèbre-Dekoration strömte das Steinpflaster der Vorratskammer aus alter Gewohnheit noch immer seinen Geruch nach unserer heimatlichen Nahrung, nach Wurst, Kastanienmehl, Käse, Kartoffeln aus, den die Verwandten durch Versprengen von billigem Kölnischwasser vergeblich zu vertreiben versucht hatten. Mitten im Raum stand der nackte Fichtensarg, vier Kandelaber und ein Kruzifix, aber entsprechend dem letzten Willen der Verstorbenen ohne allen Blumenschmuck. Wohltätige Spenden hingegen ja. Auf ihrem Totenbett hatte die arme Tante wiederholt den Wunsch geäußert, man solle sich über das hinaus, was zur Wahrung der religiösen Würde unbedingt notwendig wäre, keine Kosten machen, um das belanglose Ereignis ihres Hinscheidens aus dieser Welt feierlich zu gestalten, und das so ersparte Geld den kirchlichen Hilfswerken, den Missionen und dem Pfarrer für das Lesen von Seelenmessen zukommen lassen.

Über diese ausdrücklichen letztwilligen Verfügungen und ihre Durchführung wurde er von Margherita informiert, die ihn beiseite zog und mit Beschlag belegte, sobald er nur die Vorratskammer verlassen und die von Menschen wimmelnde Küche betreten hatte; so als ob die würdevolle, saubere Armut seiner Verwandten sich schämte, nicht mehr getan zu haben, und es daher notwendig sei, ihn unter vier Augen aufzuklären. Gleichzeitig mit dieser ausführlichen Auskunft nahm er das Stimmengewirr der Anwesenden in sich auf wie einen Klang, der nicht der Gegenwart entstammte, sondern aus der Tiefe seiner Jugenderinnerungen oder noch ferneren Tagen wieder emportauchte: das Durcheinander zwitschernder Frauenstimmen, von männlichen Einzellauten kontrapunktiert, das übliche Geplauder von Leuten, die nichts Rechtes anzufangen wissen und sich die Zeit mit Reden vertreiben, über das Wetter, die Gesundheit, die Arbeit, die Kinder, alles, was bei einem solchen Anlaß nicht unpassend erscheint, da ja eine Leichenfeier eine der wenigen Gelegenheiten ist, bei denen sich wieder einmal alle zusammenfinden; oder auch Erinnerungen an die Selige, was sie gesprochen, ehe sie für immer die Augen schloß, wieviel sie gelitten und wie sie, fromm wie sie war, ihr eigenes Ende vorausgesagt hatte.

Mit ihrem Gesicht, das von einer überlangen Nase bis zum schmalen Schlitz des Mundes in zwei asymmetrische Hälften geteilt war und kein Lächeln zustande brachte, war Tante Domenica nach siebzig Jahren irdischer Mühsal und endlosen, von Darmkrebs verursachten Todesqualen Montag, den 19.März 1962, am Tag des heiligen Joseph, in ein besseres Dasein eingegangen. Dies war, wenn man Margherita glauben wollte, ein bedeutsamer Umstand; weil besagtem Heiligen bei der Aufteilung der himmlischen Hilfeleistungen just die Pflicht zugefallen ist, den Christen in ihrer Todesstunde beizustehen; und der Tod der Tante wäre auch wahrhaft erbaulich gewesen, ein Tod im Geruch der Heiligkeit, wie Don Luigi ausdrücklich erklärt hatte.

Als der Pfarrer in jener Nacht nach dem Beten des Proficiscere das Ritualbuch zuklappte und in achtungsvollem Schweigen dem Sichschneuzen der anwesenden Frauen lauschte, hatte er sich, durchdrungen und erleuchtet von jener Atmosphäre, die eigentlich nichts anderes ist als Duft und Licht der soeben von den Engeln in den Himmel entführten Seele – und in seiner frommen Begeisterung erkühnte er sich sogar zur Hypothese von einem vagen Echo der himmlischen Harmonien –, hatte er sich also trotz der späten Stunde offenbar nicht recht zum Schlafengehen entschließen können und war noch ein Weilchen geblieben, um weitere schöne Worte von sich zu geben. Marco suchte ihn sich vorzustellen, den dicken, frommen Mann in Chorhemd und Stola zu...



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