Marusek / Riffel / Schlögl Wir waren außer uns vor Glück
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-942396-34-9
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 223 Seiten
ISBN: 978-3-942396-34-9
Verlag: Golkonda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Zukunft, in der ein Teil der Menschheit länger lebt, als wir uns das überhaupt vorstellen können; eine Zukunft, in der Kinder zu Objekten der Begierde einer ganzen Nation geworden sind; eine Zukunft, in der Nanotechnologie das Leben maßlos bequem, aber auch maßlos gefährlich gemacht hat ...
Unter dem Titel Getting to Know You erschien 2007 in dem US-amerikanischen Verlag Subterranean Press ein Sammelband mit Erzählungen des in Alaska lebenden Schriftstellers David Marusek. SF-Lesern war Marusek zu dem Zeitpunkt bereits ein Begriff. Seit seiner ersten Geschichte 'The Earth Is on the Mend', im Mai 1993 in der Zeitschrift Asimov's Science Fiction publiziert, wurden seine Storys und Novellen regelmäßig in 'Best of'-Anthologien nachgedruckt und für zahlreiche Literaturpreise nominiert.
Inzwischen hat David Marusek zwei Romane vorgelegt. Mit Counting Heads (2005) und Mind Over Ship (2009) hat er sich endgültig als herausragender und in vieler Hinsicht bahnbrechender SF-Autor etabliert. Seine Novelle 'The Wedding Album' wurde im Jahr 2000 mit dem 'Theodore Sturgeon Memorial Award' ausgezeichnet.
Im Golkonda Verlag erscheint nun ein Sammelband mit fünf Erzählungen und Novellen, die alle vor dem Hintergrund desselben Zukunftsentwurfs spielen wie Maruseks Romane. Darin enthalten sind unter anderem seine beiden Meisternovellen 'We Were Out Of Our Minds With Joy' und 'The Wedding Album', die im englischsprachigen Raum zu den am häufigsten nachgedruckten SF-Texten überhaupt zählen.
David Marusek (Jahrgang 1951) hat bisher einen Band mit Erzählungen und zwei Romane vorgelegt. Mit Counting Heads (2005) und Mind Over Ship (2009) hat er sich endgültig als herausragender und in vieler Hinsicht bahnbrechender SF-Autor etabliert. Seine Novelle 'The Wedding Album' wurde im Jahr 2000 mit dem 'Theodore Sturgeon Memorial Award' ausgezeichnet. Für weitere Informationen verweisen wir auf den David Marusek-Artikel in der Science Fiction Encyclopedia.
Weitere Infos & Material
- Wir waren außer uns vor Glück ("We Were Out of Our Minds with Joy" / Asimov's, November 1995)
- Kraut und Kohl, oder: Wie wir Amerika gesundschrumpften ("Cabbages and Kale or: How We Downsized America" / Asimov's, Februar 1999)
- Das Hochzeitsalbum ("The Wedding Album" / Asimov's, Juni 1999)
- Ein Junge in Cathyland ("A Boy in Cathyland" / Asimov's, Mai 2001)
- Wie wir uns kennenlernten ("Getting to Know You" / future histories, Juni 1997)
WIR WAREN AUSSER UNS VOR GLÜCK Bei dieser Novelle handelt es sich um meine zweite veröffentlichte Science-Fiction-Geschichte und meine erste längere. Da mein Name der SF-Leserschaft noch unbekannt war, schien die Geschichte aus dem Nichts zu kommen und veranlasste einen Rezensenten des einflussreichen SF-Magazins LOCUS zu der Vermutung, sie sei vielleicht von einem »großen Namen« unter Pseudonym verfasst worden. Die Idee für die Geschichte kam mir, als ich meine grünen Notizbücher durchstöberte. Auf zwei verschiedenen Seiten stolperte ich über zwei Einfälle, die eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, die aber irgendwie zusammenzugehören schienen. Bei der ersten Idee ging es um ein Paar, das eine »Retro-Empfängnis« durchführte. Damit ist gemeint, dass die DNS eines lebenden Babys mit ihrer rekombinierten DNS überschrieben wurde, um es genetisch zu dem ihren zu machen. Bei der zweiten Idee handelte es sich um das Bild eines Mannes, der mitten in der Stadt auf offener Straße niedergeschlagen und gefesselt wird, während die Passanten um ihn herum, einschließlich seiner Frau, entsetzt fliehen. Das Zusammentreffen dieser beiden Ideen brachte nicht nur diese Novelle hervor, sondern ein ganzes Universum, in dem ich vier weitere Geschichten und letztlich auch meinen Debütroman Counting Heads (2005) ansiedelte. I Am 30. März 2092 stellte das Gesundheitsministerium Eleanor und mir eine Genehmigung aus. Der Staatssekretär für Bevölkerungsfragen rief an, um uns die Nachricht zu überbringen und zu gratulieren. Wir freuten uns wahnsinnig. Der Sekretär erklärte uns, dass wir uns mit der staatlichen Krippe in Verbindung setzten sollten. In einem Fach in Jersey wartete ein Baby auf uns. Wir waren außer uns vor Glück. Eleanor und ich waren damals seit einem Jahr zusammen – ein Freund von mir hatte uns einander auf einer Party in Manhattan vorgestellt. Ich war körperlich anwesend, während die meisten anderen Gäste als Holo gekommen waren. Mein Freund sagte: »Sam, da ist jemand, den du unbedingt kennenlernen musst.« Mir war nicht danach, jemanden kennenzulernen. Eigentlich hätte ich nicht mal auf der Party sein sollen, weil ich mich von einer langen Arbeitswoche in meinem Atelier in Chicago erholen musste. Damals hatte ich noch die Angewohnheit, die Tür abzuschließen und mich in meiner Arbeit zu vergraben. Oft vergaß ich sogar, zu essen und zu schlafen. Henry wusste, dass er dann keine Anrufer zu mir durchstellen durfte. Er war der Einzige, den ich an mich ran ließ. Nach ein oder zwei Wochen tauchte ich normalerweise ausgehungert und vereinsamt wieder aus der Versenkung auf und schleppte mich auf die nächstbeste Party, um mich mit Canapés, Käsehäppchen und winzigen eingelegten Maiskolben vollzustopfen. Da stand ich also, unrasiert und ungewaschen, beugte mich über das Buffet und stellte dabei eine verdrossene und abweisende Miene zur Schau. Ich war nicht hier, um mich mit jemandem zu unterhalten, und schon gar nicht, um jemanden kennenzulernen. Ich wollte einfach nur für eine Weile unter Menschen sein, ihnen zuschauen, ihrem Geplauder lauschen. Doch mein Freund tippte mir auf die Schulter. »Sam Harger«, sagte er, »das ist Eleanor Starke. Eleanor, Sam.« Auf einem Stück Teppich, der aus einem anderen Zimmer in den Raum ragte, stand eine Frau und trank aus einer Porzellantasse Kaffee. Wir lächelten einander an, während unsere Butler uns übereinander informierten. »Ach«, sagte sie fast sofort, »natürlich, Sam Harger, der Künstler. Ich bewundere Ihre Arbeiten schon seit Langem, besonders die frühen Sachen. Ein paar von ihren Spritzgemälden habe ich sogar gerade im Museum hier gesehen.« »Und wo ist hier?«, fragte ich. Die Frau, sie hatte wirklich ein bemerkenswertes Gesicht, runzelte kurz die Stirn, doch ihr Lächeln kehrte sofort zurück. Sicher wunderte sie sich über die offenkundige Unzulänglichkeit meines Gürtelsystems. »Budapest«, antwortete sie. Budapest, sagte Henry in meinem Kopf. Tut mir leid, Sam, aber ihr System redet nicht mit mir. Ich bin jetzt auf öffentliche Quellen umgestiegen. Sie ist irgendeine wichtige, international agierende Anwältin, die im Moment freiberuflich tätig ist. Ich suche nach biografischen Daten. »Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt«, sagte ich zu der Frau, die auf der anderen Seite des Erdballs stand. »Mit Recht, Wirtschaft oder Politik kenne ich mich nicht aus. Und mein Butler ist nur der Assistent eines Künstlers, kein Spion.« Falls sie nicht einen Stellvertreter projizierte, handelte es sich bei Eleanor Starke um eine schlanke, hübsche Frau mitte zwanzig. Sie hatte rotblondes Haar, ein entzückendes rundes und entwaffnend sommersprossiges Gesicht, volle Lippen und sehr dichte Augenbrauen. Für eine Anwältin sah sie viel zu nett aus. Ihre Augen jedoch waren alles andere als nett. Sie spähten unter ihren Wimpern hervor wie Muränen in einem Korallenriff. »Und außerdem«, sagte ich, »wollte ich gerade gehen.« »Jetzt schon? Wie schade.« Enttäuscht zog sie die buschigen Brauen zusammen. »Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben?« Sam, flüsterte Henry. Keine der öffentlich zugänglichen Biografien über sie stimmen auch nur hinsichtlich der grundlegendsten Daten überein, nicht einmal bei ihrem Geburtsdatum. Ihr Alter liegt irgendwo zwischen 180 und 204. Mir wurde klar, dass sie eine mächtige Frau sein musste, wenn sie geschützte öffentliche Datenbanken manipulieren konnte. Allerdings hat sie der People Channel als zukünftige Celebrity getaggt. Und in den vergangenen zwölf Monaten hat man sie mit einer ganzen Reihe von Künstlern gesehen: Schriftsteller, Tänzer, Dirigenten, Holografiker, Komponisten. Eleanor knabberte an einer Pastete. »Das ist mein Frühstück. Ich wünschte, Sie könnten es probieren. In den Staaten gibt es nichts Vergleichbares.« Sie wischte sich die Krümel von den Lippen. »Übrigens, Ihr Butler, Ihr ... Henry ... ist wirklich putzig. Ich habe also eine Schwäche für Künstler. Und wenn schon.« Das verblüffte mich. Sie hatte mein System belauscht. »Schauen Sie nicht so überrascht«, sagte sie. »Ihr Zugang ist fast überhaupt nicht abgeschirmt. Er könnte Ihre Gedanken genauso gut gleich durch die Netze jagen. Wann haben Sie Ihre Sicherheitseinstellungen zum letzten Mal auf den neuesten Stand gebracht?« »Sie wissen wirklich, wie man einen Mann um den Finger wickelt.« »Darum geht es mir nicht.« »Worum geht es Ihnen dann?« »Um ein Abendessen, für den Anfang. Morgen bin ich in New York.« Ich dachte über ihre Einladung nach und darüber, dass mir ein wenig Ablenkung guttun würde. Ich hatte meine ständig um sich selbst kreisenden Gedanken satt. Es wäre auch ganz nett, mal wieder flachgelegt zu werden, wenn auch nicht von dieser knallharten Trophäenjägerin Eleanor Starke. Ich kannte ein halbes Dutzend andere Frauen in der Stadt, mit denen ich lieber meine Zeit verbringen würde. Ich nahm die Einladung an, weil mich ihre Augenbrauen interessierten. Ganz ohne Zweifel war Eleanor Starkes Gesicht von einem Profi umgestaltet worden. Sie hatte daraus eine heimtückische Waffe gemacht, um ihr Arsenal schmutziger Anwaltstricks zu bereichern. Mit ihrem unbedeutenden und verletzlichen Äußeren konnte sie die Geschworenen für sich einnehmen oder Firmenvorstände zum Narren halten, Männer und Frauen gleichermaßen. Aber warum diese Augenbrauen? Sie waren gewaltig. Wenn Eleanor sprach, bewegten sie sich im Takt ihrer Worte auf und ab. Sie zogen den Blick auf sich, insbesondere den eines Künstlers. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte. Als Grafikdesigner und klassischer Maler juckte es mich in den Fingern, diese Augenbrauen zu stutzen und auszudünnen. In den fünf Minuten, die wir uns unterhielten, nahmen sie meine Aufmerksamkeit ganz und gar in Beschlag. Ich selbst hätte niemals solche Augenbrauen entworfen. Dann kam mir der Gedanke, dass es sich um ihre natürlichen, unveränderten Brauen handeln musste, da kein staatlich geprüfter Gesichtsgestalter, der einen Ruf zu verlieren hatte, den Mut zu einem solchen Design gehabt hätte. Eleanor Starke, ein Raubfisch im Dienste multinationaler Konzerne, hatte ihre übrigen Gesichtszüge vielleicht zu ihrem Vorteil verändert und sich sogar Sommersprossen zugelegt, aber – davon war ich mehr und mehr überzeugt – sie war schon mit buschigen Brauen zur Welt gekommen. Wie zahlreiche andere Künstlertypen vor mir schluckte ich den Köder. »Nicht zum Abendessen«, antwortete ich. »Aber wie wär’s mit Lunch?« Wie so oft führte das Mittagessen zu einem Abendessen. Die Augenbrauen waren echt, selbst ihre Farbe. Im Laufe der nächsten Wochen probierten wir die Betten in unseren diversen Wohnungen entlang der Ostküste durch. Der Reiz des Neuen war jedoch schon bald verflogen. Irgendwann rief sie mich nicht mehr an, und ich rief sie nicht mehr an. Wir hatten genug voneinander – oder zumindest glaubte ich das. Sie ging auf eine lange Reise, die sie aus dem Protektorat hinausführte. Ein Monat war vergangen, als ich einen Anruf aus Peking erhielt. Ihre Terminplanerin erkundigte sich, ob ich Lust hätte, sie am nächsten Tag zum Holomittagessen zu treffen. Ihr spätes Mittagessen in China würde mit meinem Mitternachtsbrandy in Buffalo zusammenfallen. Klar, warum nicht? Zur verabredeten Zeit schickte ich mein Holo auf den Weg. Sie hatte bereits mit dem Essen angefangen. Als sie mich bemerkte,...