E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Masci Die Ordnung herrscht in Berlin
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88221-411-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-88221-411-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berlin ist keine Stadt, Berlin ist eine Verheißung. Menschen von überall her strömen in die angesagteste Metropole der Welt, um dem Versprechen von Hedonismus, Kreativität und Freiheit nachzujagen. Doch dieses Zentrum lebenskünstlerischer Avantgarde bildet in Wirklichkeit nur den Vorposten einer neuen Herrschaftsform, kritisiert der italienische Philosoph Francesco Masci in seinem streitbaren Essay: Eine absolut gewordene Kultur assimiliert jedes politische Denken und Handeln; die von der Vergangenheit so gezeichnete Stadt verabschiedet sich aus der Geschichte. Was bleibt, sind leere Individuen, die ihre fi ktiven Subjektivitäten feiern - und sich umso leichter beherrschen lassen. Ein Theorie-Projektil gegen den Berlin-Hype. Und ein Signal an alle Berghain-Gänger, 1. Mai-Randalierer und Offspace-Künstler: Die Party ist vorbei.
Francesco Masci, Philosoph, geboren 1967 in Perugia, hat sich in Frankreich durch seine scharfe Kritik an der llusionären Freiheit unter der Herrschaft des Entertainment einen Namen gemacht.
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Raum ohne Territorium
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gilt die Großstadt als unerschöpflicher Quell zukunftsorientierter Erfahrungen. Die »Steigerung des Nervenlebens«, von der Simmel spricht, ist eng mit der allgemeinen Beschleunigung verknüpft, die alle westlichen Großstadtbewohner erfasst. Literatur und später auch Film haben diesen rhetorischen Topos eines immer stärker mechanisierten und entfremdeten Stadtlebens in seiner ganzen Breite ausgeleuchtet. Das Berlin der zwanziger Jahre verkörperte dies perfekt: Vom Potsdamer Platz »ist vor allem zu sagen, dass er kein Platz ist«, schreibt Franz Hessel in einer seiner Berlinskizzen, sondern »eine Wegkreuzung«, über die der »berühmte Verkehrsturm [...] wacht«, jene kleine Ding-Persönlichkeit und Ikone des Berlins dieser Zeit, die man in Walter Ruttmanns Film Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927) inmitten des unablässigen Stroms von Pkws und Doppeldeckerbussen ausharren sehen kann. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war Berlins Bilderwelt, wenngleich wie die Stadt selbst in zwei Versionen gespalten, von zukunftsorientierten Ereignissen beseelt. Auf der einen Seite die apokalyptische Vision einer unmöglichen Zukunft, die folgerichtige Strafe für eine Gegenwart, die ebenso karg schien wie die Brache, in die sich der Potsdamer Platz inzwischen verwandelt hatte. Auf der anderen Seite die sichere Zukunft der Kommunistischen Partei: redundant, bürokratisch und unbeirrbar optimistisch. Das too much future der Ostberliner Punks antwortete posthum auf das berühmte no future der Punks aus dem Westen. Beide Slogans teilen das Gefühl von Abscheu, das fehlender Hoffnung entspringt. Im Westen war diese Hoffnungslosigkeit mit einer ganz der Kontingenz überantworteten Welt verknüpft, im Osten mit einem erstickten Leben, dessen Schicksal vollkommen von der Partei geplant und der rohen Notwendigkeit unterworfen war. Mit ihrem asozialen Verhalten übersteigerten die Punks des Westens nur die ohnehin übermäßige Unordnung einer als unsinnig und verabscheuungswürdig wahrgenommenen Welt, gerade weil sie unsinnig war. Der anarchistische Krimskrams konnte im Schaufenster ganz gut neben den tabuisierten Zeichen der Macht (dem Hakenkreuz) existieren, weil sich im symbolischen Chaos am besten der Widerspruch ausdrückte, der aus der nostalgischen Sehnsucht nach einer unmöglichen Ordnung hervorbrach. Im Osten trieb diese Wut einen Teil der Jugend zur Konfrontation und transformierte sich in einen Angriff auf die Ordnung eines nur zu wirklichen diktatorisch-bürokratischen Systems. Die absolute Kultur hat der wiedervereinigten Stadt einen sich zyklisch wiederholenden Zeitrhythmus von Erwartung und Eintritt des Ereignisses aufgezwungen und vermochte es so, die scheinbar unversöhnlichen Sehnsüchte der Punks beiderseits der Mauer zu befriedigen und miteinander zu versöhnen: der nach Ordnung im Westen und der nach Unordnung im Osten. Die Zukunft stellt sich den Individuen, die bisher nichts anderes kannten als die Alternative zwischen einem Regime der freien und permanenten Konkurrenz um Bild-Kapital und einer staatlich-bürokratisch kontrollierten Bildzirkulation, nun nicht mehr als ein Richtung Fortschritt strebendes Feld von Zufällen dar. Auf ihrem Höhepunkt bringt die Zeit der absoluten Kultur nichts weiter hervor als Wiederholung. Der entfesselte Individualismus mit seinen libertären Erscheinungsformen nimmt, gleich ob von spielerischen oder feindseligen Motiven getragen, nur noch die Gestalt unnötiger Wiederholungen von Bildern und Events an, die schon bei ihrem ersten Erscheinen dazu dienten, den Subjekten in einer instabilen Wirklichkeit Halt zu geben. Berlin verkörpert heute die letzte Phase in der Entwicklungsgeschichte der absoluten Kultur. Hier haben die Bilder und Ereignisse mitsamt ihrem Nebenprodukt, den fiktiven Subjektivitäten, eine Entwicklungsstufe erreicht, auf der sie von ihrer Hauptaufgabe, die Gewalt der gesellschaftlichen Beziehungen zu überspielen, teilweise entbunden sind. Die Fiktionen haben sich hier gleich doppelt von einer Wirklichkeit entfernt, die ihnen gegenüber jeden Widerstand fallengelassen hat. Daher müssen sie sich auch nicht mehr darauf beschränken, eine »Praxis der Selbstdisziplinierung« in Gang zu setzen, durch die die Individuen die Verpflichtungen, die ihnen in Wirklichkeit durch ihre sozialen Beziehungen aufgezwungen werden, als freie Handlungen wahrnehmen. In Berlin stellt das Wirkliche keine Bedrohung mehr für die Stabilität des Subjekts dar, weil es in seiner politischen Gestalt, wie auch in seinen ökonomischen und moralischen Ersatzformen vollkommen entleert worden ist. Die Bilder und Ereignisse, die in einem fort den Automatismus der Unterwerfung exerzieren, sind nun endlich als Produkte der reinen Unterhaltung verfügbar. Genau wegen dieses erlaubten »Loslassens« erscheint Berlin den fiktiven Subjektivitäten, die sich andernorts diese selbstvergessenen Augenblicke nur zeitlich und örtlich streng reglementiert zugestehen, als Gelegenheit zur Rückkehr in die Kindheit. Dem Flaneur, der einen Augenblick die doppelte Abwesenheit des Selbst und des Wirklichen ignoriert, eröffnet sich die Stadtlandschaft als vorübergehende Ausgrabungsstätte, in der sich die lebensechten Darstellungen all der Hoffnungen, Praktiken und Täuschungen perfekt erhalten haben, auf die sich die Moderne einst gegründet hat. Berlin ist ein modernes Pompeji ohne Vesuv: das Territorium, der von Machtbeziehungen durchzogene Raum, bleibt hier unter einer undurchdringlichen Schicht von Kultur verschüttet und verborgen. Weder das Treiben in den Straßen noch die Ruinen der Geschichte geben heute noch Aufschluss über die Identität der Stadt. Die Machtbeziehungen, die sich einst einem Territorium einschrieben und es in einem komplexen Spiel der Spaltungen und Widerstände maßgeblich gestalteten, sind in Berlin vollkommen der absoluten Kultur und ihren instabilen Verknüpfungen inhaltsloser, allgemeiner und ahistorischer Bilder unterworfen worden. Während das Territorium außer Kraft gesetzt wurde, gelang es zugleich, die Weitergabe autochtoner Bilder und lebendiger Erfahrungen, denen die wahre Substanz einer Stadt innewohnt, zu unterbinden. Diese Operation darf jedoch nicht mit dem Abstraktionsprozess verwechselt werden, der seit Langem ein Charaktermerkmal westlicher Städte darstellt. Bereits in den zwanziger Jahren des vergangen Jahrhunderts bedauerte Oswald Spengler, dass »Weltstädte reiner Geist« seien. Nichts anderes, wenngleich ganz unberührt von Spenglers Sorgen, schrieb einige Jahrzehnte später der Architekt Arata Isozaki in seinem avantgardistischen Aufsatz Institut für Stadtzerstörung GmbH von 1962: »Aber eine Stadt mit physischer Substanz – vielleicht hat es das auf Erden nie gegeben. Sind Städte nicht bloß abstrakte Ideen? Nichts als mentale Bilder, die von Bürgern aufgrund wechselseitiger Vereinbarung für ihre praktischen Zwecke aufgebaut wurden?« Doch die »Phantombilder« des neuen Berlin sind nicht mehr von den Bewohnern selbst geschaffen, sie sind übernommen wie Waren aus zweiter Hand. Nirgends mit der Wirklichkeit konfrontiert, offenbaren sie ihr belangloses Wesen. Isozaki selbst hat das Missverhältnis zwischen Geist und Materie der Stadt unterstrichen, als er einwilligte, eines der Bauprojekte am neuen Potsdamer Platz zu realisieren, und damit dazu beitrug, ein ganzes Stück Berliner Erinnerung zu beerdigen. Eine Stadt verschwindet nicht, eine Stadt verwandelt sich auch nicht. Ihre Wirklichkeit ist von einer Beständigkeit, die alle ihre Erscheinungen beherrscht. Und diese Wirklichkeit bestätigt sich darin, dass sie die Bilder, aus denen sie ihre Identität schöpft, bewahrt und weiterreicht. Diese Weitergabe kann allerdings dadurch ausgehebelt und unterbrochen werden, dass die Stadt zum Gegenstand einer monumentalen Entwendung wird, die ihre gesamte physische Existenz einschließt. Das Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre existiert nicht mehr. Die Kabaretts, der Expressionismus, die verqualmten Literatur-Cafés und die Bonmots eines noch jungen zynischen Brecht, alle diese lebendigen Bilder der Weimarer Dekadenz, die die physische Zerstörung des »Ortes« überlebt hatten, sind aus der lebendigen Erinnerung der Stadt verschwunden und auf der gigantischen universellen Müllhalde vergangener Bilder und Ereignisse entsorgt, auf der sich die allgemeine fiktive Subjektivität in ihren nostalgischen Augenblicken bedient. Der Rhetorik des neuen Hypes, von der sich Schwärmer und Verächter des heutigen Berlin gleichermaßen begeistern lassen, ist jede konkrete historische Herkunftsbeziehung fremd, wenn es sich nicht um die abgespaltene Geschichte autonomer Bilder handelt. Die fiktiven Subjektivitäten unterhalten sich übereinander in den Fragmenten einer selbstbezüglichen Sprache, die in radikaler Immanenz nur noch um sich selbst kreist und die nichts anderes zum Inhalt hat als das Zitat eines anderen Zitates. Doch um eine Stadt der Erfahrung zugänglich zu machen, bedarf es der Unterstützung einer ihr adäquaten unbewussten Phantasmagorie. Nur was diese uns zu suchen weist, können wir auch finden. Seit die Bilder jedoch in der Leere eines »Ortes« zu treiben beginnen, dessen Substanz von der Kultur restlos aufgesogen worden ist, hat die Stadt nichts mehr...