E-Book, Deutsch, 624 Seiten
Maté Vom Mythos des Normalen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-30037-1
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung. New York Times Bestseller - New York Times und Spiegel Bestseller
E-Book, Deutsch, 624 Seiten
ISBN: 978-3-641-30037-1
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Gabor Maté nimmt uns mit auf eine epische Entdeckungsreise darüber, wie eng unser emotionales Wohlbefinden und unsere soziale Verbundenheit (kurz: die Art, wie wir leben) mit Gesundheit, Krankheit und Sucht verflochten sind ... fesselnd und großartig geschrieben.' Bessel van der Kolk (Autor des Bestsellers Das Trauma in dir)
Wir neigen dazu, 'Normalität' mit 'Gesundheit' gleichzusetzen. Doch was ist eigentlich die Norm in westlichen Gesellschaften? In seinem aktuellen Bestseller zeigt der renommierte Arzt Gabor Maté eindrucksvoll, dass unser Verständnis dessen, was als gesundheitlich 'normal' gilt, falsch ist, denn es vernachlässigt die Rolle von Trauma, Stress und Alltagsdruck auf Geist und Körper. Wir brauchen vielmehr eine neue Perspektive darauf, was Menschen krank macht und wie wir gängige körperliche, mentale und emotionale Beschwerden der Moderne lindern können.
In seinem lebensbejahenden Buch voller Fallgeschichten zeigt Gabor Maté, wie wahre Gesundheit möglich wird. Umfassend untersucht er die Ursachen von Krankheiten und verdeutlicht, wie unsere Gesellschaft diese hervorbringt und begünstigt. Und nicht zuletzt skizziert er, wie ein natürlicher Weg zu Gesundheit und Heilung aussehen kann.
'Dieses Buch ist eine Meisterleistung - ein Manifest darüber, wie sich Traumata nicht nur auf unseren individuellen Körper und unsere Psyche, sondern auf unsere gesamte Gesellschaft auswirken.' Lissa Rankin (Autorin von Mind over Medicine - Warum Gedanken stärker sind als Medizin)
Daniel Maté ist preisgekrönter Komponist sowie Theaterlyriker. Außerdem ist er Host des YouTube Programms 'Lyrics To Go' und als 'mental chiropractor' tätig.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Warum Normalität ein Mythos ist
(Und warum das von Bedeutung ist)
»Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster noch nicht zu Tugenden; die Tatsache, dass sie so viele Irrtümer gemeinsam haben, macht diese Irrtümer noch nicht zu Wahrheiten; und die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Formen psychischer Störungen aufweisen, heißt nicht, dass diese Menschen gesund seien.«1
Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft
In einer Gesellschaft, die gesundheitsbesessener ist als jemals zuvor, ist lange nicht alles gut.
Gesundheit und Wohlergehen sind zu einer modernen Fixierung geworden. Eine milliardenschwere Industrie baut auf die ständigen mentalen und emotionalen – ganz zu schweigen von den finanziellen – Investitionen der Menschen, die endlos danach streben, besser zu essen, jünger auszusehen, länger zu leben, mehr Elan zu haben oder einfach an weniger Krankheitssymptomen zu leiden. Zeitschriften, Fernsehsendungen, allgegenwärtige Werbeanzeigen und die tägliche Informationsflut im Internet überschütten uns ständig mit »bahnbrechenden News zur Gesundheit«, die uns allesamt zu dieser oder jener Methode der Selbstverbesserung drängen wollen. Wir tun unser Bestes, um Schritt zu halten: Wir nehmen Nahrungsergänzungsmittel ein, belegen Yogakurse, ändern immer wieder unsere Ernährung, zahlen viel Geld für Gentests, befolgen Strategien zur Vorbeugung von Krebs oder Demenz und suchen ärztlichen Rat oder alternative Therapien für körperliche, mentale und seelische Krankheiten.
Und doch wird unsere kollektive Gesundheit immer schlechter.
Was geschieht da? Wie ist es zu verstehen, dass in unserer modernen Welt, auf dem Höhepunkt medizinischer Entwicklung und Genialität, nicht nur chronische körperliche Krankheiten, sondern auch psychische Störungen und Suchterkrankungen immer mehr zunehmen? Wie ist es möglich, dass uns das, wenn wir es überhaupt bemerken, nicht in eine größere Alarmbereitschaft versetzt? Wie sollen wir den vielen Leiden, von denen wir geplagt werden, vorbeugen und sie heilen, selbst wenn man akute Katastrophen wie die Corona-Pandemie außer Acht lässt?
Das Spektrum meiner 30-jährigen Tätigkeit als Arzt reichte von der Entbindung von Säuglingen bis hin zur Leitung einer Palliativstation. Dabei war ich immer wieder beeindruckt von den Zusammenhängen zwischen dem Individuum und dem sozialen und emotionalen Kontext, in dem sich unser Leben abspielt und aus dem sich Gesundheit oder Krankheit ergeben. Diese Neugier, oder sollte ich besser sagen: diese Faszination, hat mich mit der Zeit dazu gebracht, mich intensiv mit dem neuesten Stand der Wissenschaft zu beschäftigen. Sie zeigt solche Zusammenhänge auf elegante Weise auf. In meinen früheren Büchern habe ich einige dieser Zusammenhänge erforscht. Sie äußern sich bei bestimmten Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Krebs- und Autoimmunerkrankungen aller Art sowie Suchterkrankungen. Ich habe darüber hinaus über die kindliche Entwicklung, die prägendste Zeit in unserem Leben, geschrieben.2
In diesem Buch, Vom Mythos des Normalen, geht es um etwas viel Umfassenderes. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass hinter der gesamten Epidemie chronischer physischer und psychischer Krankheiten, die uns momentan plagt, etwas in unserer Kultur selbst nicht stimmt. Es trägt nicht nur zu den vielen Krankheiten bei, unter denen wir leiden, sondern auch, und das ist entscheidend, zu ideologisch blinden Flecken. Sie halten uns davon ab, unsere missliche Lage klar zu erkennen und, besser noch, etwas dagegen zu unternehmen. Diese blinden Flecken sind in unserer gesamten Kultur weit verbreitet, aber in einem tragisch hohen Maße in meiner eigenen Berufssparte zu finden. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir keine Ahnung haben, wie unsere Gesundheit und unser soziales und emotionales Leben zusammenhängen.
Anders ausgedrückt: Chronische Krankheiten – ob psychischer oder physischer Natur – sind in hohem Maße ein Resultat oder ein Merkmal der bestehenden Umstände und keine Störung. Sie sind eine Folge unserer Lebensweise, kein mysteriöser Irrweg.
Spricht man von einer »toxischen Kultur«, kann sich das auf viele Dinge beziehen, zum Beispiel auf Umweltschadstoffe, die seit Beginn des Industriezeitalters so allgegenwärtig und der menschlichen Gesundheit so abträglich sind. Von Asbestpartikeln bis hin zu enormen Mengen schädigendem Kohlendioxid: An realen, physischen Giftstoffen in unserer direkten Umgebung mangelt es wirklich nicht. Wir könnten »toxisch« auch in seinem modernen und populär-psychologischen Sinn verstehen, wie es in der Verbreitung von Negativität, Misstrauen, Feindseligkeit und Polarisierung deutlich wird, die für die soziopolitische Gegenwart typisch sind. Wir können diese beiden Bedeutungen natürlich in unsere Diskussion einbeziehen, aber ich verwende den Begriff »toxische Kultur«, um etwas noch Umfassenderes und tiefer Verwurzeltes zu beschreiben: den gesamten Kontext aus sozialen Strukturen, Glaubenssystemen, Vermutungen und Werten, der uns umgibt und zwangsläufig jeden Aspekt unseres Lebens durchzieht.
Die Tatsache, dass sich unser soziales Leben auf unsere Gesundheit auswirkt, ist nicht neu, aber dieser Erkenntnis auch Beachtung zu schenken, war nie dringlicher erforderlich. Ich sehe darin das wichtigste und folgenreichste Gesundheitsrisiko unserer Zeit, das durch die Auswirkungen von zunehmendem Stress, Ungleichheit und die Klimakatastrophe, um nur einige Hauptfaktoren zu nennen, gefördert wird. Unser Konzept von Wohlbefinden muss sich vom Individuellen zum Globalen – in jedem Sinne dieses Wortes – wandeln. Das trifft vor allem in unserem Zeitalter des globalisierten Kapitalismus zu, der, um es mit den Worten des Historikers und Kulturkritikers Morris Berman auszudrücken, »zur totalen kommerziellen Umgebung geworden ist, die eine gesamte mentale Welt umfasst.«3 Angesichts der Einheit von Körper und Geist, die in diesem Buch besonders hervorgehoben werden soll, würde ich hinzufügen, dass er auch eine totale physiologische Umgebung ausmacht.
Meiner Meinung nach erzeugt unsere soziale und wirtschaftliche Kultur ihrem Wesen nach chronische Stressfaktoren. Sie untergraben das Wohlbefinden auf sehr ernsthafte Weise so zunehmend, wie wir es in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten.
Ich halte folgenden Vergleich für hilfreich: Eine Kultur in einem Labor ist eine biochemische Nährlösung, die speziell zur Förderung der Entwicklung eines bestimmten Organismus hergestellt wird. Vorausgesetzt, die betreffenden Mikroorganismen sind zu Beginn gesund und genetisch fit, ermöglicht eine passende und gut versorgte Kultur ihr glückliches, gesundes Wachstum und ihre Vermehrung. Wenn dieselben Mikroorganismen anfangen, in einem nie da gewesenen Ausmaß krank zu werden oder nicht mehr zu gedeihen, ist das entweder auf eine Verseuchung der Kultur zurückzuführen oder darauf, dass die Nährlösung von Anfang an falsch war. In beiden Fällen könnte man hier zu Recht von einer toxischen Kultur sprechen. Sie ist für die Lebewesen, die sie unterstützen soll, ungeeignet. Oder schlimmer noch: Sie gefährdet ihre Existenz. Mit menschlichen Gesellschaften verhält es sich ebenso. Der Rundfunkmoderator, Aktivist und Autor Thom Hartmann sagt dazu: »Kultur kann gesund oder toxisch, nährend oder mörderisch sein.«4
Unter dem Gesichtspunkt des Wohlergehens ist unsere gegenwärtige Kultur – als Laborexperiment – eine globalisierte Demonstration dessen, was aus den Fugen geraten kann. Inmitten aufsehenerregender wirtschaftlicher, technologischer und medizinischer Ressourcen führt sie dazu, dass zahllose Menschen an Krankheiten leiden, die durch Stress, Unwissenheit, Ungleichheit, Umweltzerstörung, Klimaveränderungen, Armut und soziale Isolation hervorgerufen werden. Sie lässt zu, dass Millionen Menschen vor der Zeit an Krankheiten sterben, die wir verhindern könnten, oder an Entbehrungen, für deren Beseitigung wir mehr als genug Ressourcen zur Verfügung haben.
In den Vereinigten Staaten, dem reichsten Land in der Geschichte der Welt und dem Epizentrum des globalisierten Wirtschaftssystems, leiden 60 Prozent der Erwachsenen an einer chronischen Störung wie Bluthochdruck oder Diabetes. Mehr als 40 Prozent weisen zwei oder mehr dieser Störungen auf.5 Nahezu 70 Prozent aller US-Amerikanerinnen und -Amerikaner nehmen mindestens ein Medikament, und mehr als die Hälfte zwei verschreibungspflichtige Medikamente ein.6 In meinem eigenen Land, in Kanada, wird in wenigen Jahren fast die Hälfte aller Babyboomer an Bluthochdruck leiden, wenn der derzeitige Trend anhält.7 Bei Frauen ist ein unverhältnismäßig hoher Anstieg von Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS), die möglicherweise zu Behinderungen führen, zu verzeichnen.8 Bei jungen Menschen scheinen Krebserkrankungen zuzunehmen, die nicht durch das Rauchen verursacht werden. Die Adipositas-Raten und die zahlreichen damit verbundenen...