E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Mathieu Connemara
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-446-27550-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-446-27550-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hélène ist fast vierzig Jahre alt. Sie hat Karriere gemacht, geheiratet, zwei Töchter bekommen und lebt in einem Architektenhaus in der Nähe von Nancy. Sie hat sich den Traum ihrer Jugend erfüllt: abhauen, das Milieu wechseln, erfolgreich sein. Christophe hingegen hat die kleine Stadt im Osten Frankreichs, in dem er und Hélène aufgewachsen sind, nie verlassen. Er verkauft Hundefutter und führt ein unentschlossenes kleines Leben. Bis er Hélène wiedertrifft.
'Connemara' ist eine Geschichte über das tiefe Unbehagen der Klassenaufsteiger und über unsere moderne Arbeitswelt zwischen PowerPoint und Open Space. Es ist auch eine Geschichte über das Zittern in der Mitte des Lebens, und über die Sehnsucht, noch mal von vorne zu beginnen. Nur dass bei Nicolas Mathieu das Politische immer im Privaten verborgen liegt.
Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Seit 2014 arbeitet er als Schriftsteller. Mit seinem zweiten Roman 'Wie später ihre Kinder' gewann er 2018 den Prix Goncourt. 2020 erschien von ihm der Roman 'Rose Royal' und zuletzt sein Roman 'Connemara' (2022).
Weitere Infos & Material
1
Die Wut kam gleich mit dem Aufwachen. Allein der Gedanke an die Verpflichtungen, die fehlende Zeit brachte sie in Rage.
Dabei war Hélène eine organisierte Frau. Sie erstellte Listen, plante die Wochen durch, hatte in ihrem Kopf, in ihrem ganzen Körper die Zeiten abgespeichert, die es brauchte, um Wäsche zu machen, die Kleine zu baden, Nudeln zu kochen, den Frühstückstisch zu decken, die Mädchen zur Schule zu bringen und sich die Haare zu waschen. Und was die Haare anging, hatte sie schon zigmal vorgehabt, sie abzuschneiden, um die zwei Stunden zu sparen, die ihre Pflege pro Woche beanspruchte, hatte sich aber ebenso oft dagegen entschieden, musste sie wirklich so weit gehen, selbst die Haare zu opfern, die sie seit ihrer Kindheit wie einen Schatz hegte?
Hélène war voller begrenzter Zeit, voller Alltagsstücke, die das Puzzle ihres Lebens bildeten. Manchmal dachte sie an ihre Jugend zurück, die erlaubte Faulheit mit fünfzehn, lange, träge Sonntage und später die Katerstimmung nach durchfeierten Nächten. Eine untergegangene Epoche, eine Ewigkeit, die im Nachhinein so kurz erschien. Damals schnauzte ihre Mutter sie an, weil sie stundenlang im Bett herumlag, statt draußen die Sonne zu genießen. Mittlerweile klingelte ihr Wecker wochentags um sechs, und auch am Wochenende wachte sie um sechs auf, wie ein Automat, eine präzise eingestellte Maschine.
Hélène kam es manchmal so vor, als hätte man ihr etwas genommen, als gehörte sie nicht mehr ganz sich selbst. Ihr Schlaf gehorchte äußeren Zwängen, ihr Rhythmus war der von Familie und Arbeit; ihr Takt folgte kollektiven Zielen. Ihre Mutter konnte zufrieden sein. Hélène sah nun den gesamten Lauf der Sonne, endlich nützlich, selbst Mutter, vollends eingespannt.
»Schläfst du?«, fragte sie leise.
Philippe lag auf dem Bauch, massig und nah, einen Arm unter dem Kopfkissen. Man hätte ihn für tot halten können. Hélène schaute auf die Uhr. 6:02 Uhr. Es ging los.
»Hey«, flüsterte sie lauter, »geh die Mädchen wecken. Beeil dich. Sonst sind wir wieder zu spät dran.«
Mit einem Seufzer drehte Philippe sich um, und der schwere, feuchtwarme, vertraute Geruch drang unter der Decke hervor, das Gewicht einer Nacht zu zweit. Hélène stand schon mit beiden Beinen in der beißenden Morgenkälte des Schlafzimmers und suchte ihre Brille auf dem Nachttisch.
»Verdammt, Philippe …«
Ihr Mann grummelte und wendete ihr den Rücken zu. Hélène war im Kopf schon bei den Pflichtübungen des Tages.
Sie duschte, ohne den Kiefer zu entspannen, und checkte auf dem Weg in die Küche ihre Mails. Schminken würde sie sich später im Auto. Die Mädchen brachten sie jeden Morgen ins Schwitzen, da wartete sie mit dem Make-up lieber, bis sie in der Schule waren.
Mit der Brille auf der Nasenspitze machte sie die Milch warm und schüttete Frühstücksflocken in die Schalen der Kinder. Im Radio redeten schon wieder die beiden Journalisten, deren Namen sie sich nicht merken konnte. Sie hatte noch Zeit. Die Morgensendung von France Inter lieferte ihr jeden Tag dieselben einfachen Orientierungspunkte. Jetzt lag die nächtliche Stille noch über dem Haus, und die Küche war eine Insel, auf der Hélène einen seltenen einsamen Moment genießen konnte, eine Urlauberin vor einer Tasse Kaffee. Es war 6:20 Uhr, und sie brauchte eine Zigarette.
Sie legte sich ihre Strickjacke um die Schultern und trat auf den Balkon. Dann lehnte sie rauchend an der Brüstung und sah auf die Stadt hinunter, sah das erste rote und gelbe Aufflackern des Verkehrs, den Lichtschein vereinzelter Straßenlaternen. Ein Müllauto arbeitete sich schnaufend und blinkend durch eine Nebenstraße. In einiger Entfernung stand zu ihrer Linken ein Hochhaus mit seinen hellen Rechtecken, in denen hin und wieder ein vager Umriss auftauchte. Da drüben eine Kirche. Rechts daneben der geometrische Block der Krankenhäuser. Das Zentrum von Nancy mit seinen gepflasterten Gassen, seinen reizvollen Boutiquen war fern. Die Stadt streckte sich und erwachte zu neuem Leben. Für einen Oktobermorgen war es nicht sehr kalt. Der Tabak knisterte geräuschvoll, Hélène warf einen kurzen Blick über die Schulter und schaute dann auf ihr Telefon. Ein Lächeln huschte über ihr vom Bildschirm erleuchtetes Gesicht.
Sie hatte eine neue Nachricht.
Einfache Worte, die sagten, ich kann es kaum erwarten, ich freue mich schon. Ihr Herz machte einen Satz, sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und fröstelte. Es war 6:25 Uhr, sie musste sich noch anziehen, die Mädchen zur Schule bringen und lügen.
»Hast du an alles gedacht?«
»Ja.«
»Mouche, hast du die Schwimmsachen eingepackt?«
»Nein.«
»Die darfst du nicht vergessen.«
»Ich weiß.«
»Das habe ich dir gestern gesagt, hast du nicht zugehört?«
»Doch.«
»Und warum hast du sie nicht eingepackt?«
»Das war keine Absicht.«
»Du musst aber mit Absicht daran denken.«
»Man kann nicht alles können«, erwiderte Mouche und machte mit ihrem Nesquik-Bart eine gelehrte Miene.
Die Kleine war gerade sechs geworden und wurde schneller groß, als man gucken konnte. Clara hatte auch so eine plötzliche Wachstumsphase gehabt, aber Hélène wusste schon nicht mehr, wie es sich anfühlte, wenn auf einen Schlag Leute aus ihnen wurden. Also erlebte sie den Moment noch einmal neu, in dem ein Kind die Benommenheit der ersten Jahre ablegt, die Verhaltensweisen eines gierigen Tierchens hinter sich lässt und plötzlich nachdenkt, Witze reißt und Sprüche macht, die die Stimmung bei Tisch verändern und die Erwachsenen sprachlos zurücklassen.
»Gut, ich muss los. Tschüs zusammen.«
Philippe war in der Küche aufgetaucht und richtete sich das Hemd auf eine Art, die ihr sehr vertraut war, indem er eine Hand in den Hosenbund schob und es vom Bauch bis zum Rücken glattzog.
»Willst du nicht frühstücken?«
»Ich esse im Büro.«
Flüchtig küsste der Vater seine Töchter und dann Hélène.
»Heute holst du die Mädchen ab, denkst du daran?«, sagte sie.
»Heute?«
Philippe hatte nicht mehr so viele Haare wie früher, aber er war nicht übel, herb duftend, robust und gut gebaut, in den Augen immer noch dieses Leuchten, der kleine Schlaumeier aus der Classe Prépa, der sich kein Bein ausreißt, der Schummler, der weiß, wo es langgeht. Es war nervtötend.
»Darüber reden wir seit einer Woche.«
»Kann aber sein, dass ich noch Arbeit mit nach Hause bringe.«
»Dann rufst du eben Claire an.«
»Hast du ihre Nummer?«
Hélène gab ihm die Nummer der Babysitterin und drängte ihn, sie rasch anzurufen, damit sie Bescheid wusste.
»Okay, okay«, sagte Philippe, während er die Nummer in seinem Handy speicherte. »Wird es spät bei dir?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Hélène.
Hitze stieg ihr in die Wangen, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Bluse zwei Nummern kleiner wurde.
»Ist trotzdem ungünstig.« Philippe scrollte mit dem Daumen durch seine Mails.
»Es ist ja nicht so, dass ich ständig unterwegs wäre. Ich darf dich daran erinnern, dass du gestern erst um neun zu Hause warst und vorgestern auch.«
»Arbeit, Arbeit, Arbeit. Was soll ich sagen?«
»Und bei mir ist es ein Ehrenamt, oder was?«
Philippe schaute auf und zeigte sein seltsam horizontales Lächeln, die schmalen Lippen, den leichten Spott in seinen Augen.
Seit sie wieder in der Provinz lebten, schien Philippe zu denken, dass er das Seine getan hätte. Schließlich hatte er ihretwegen einen vielversprechenden Posten bei AXA, seine Badmintonfreunde und überhaupt eine Reihe Perspektiven aufgegeben, die mit den hiesigen nicht zu vergleichen waren. Und das bloß, weil seine Frau nicht klargekommen war. Ging es ihr jetzt etwa besser? Dieser erzwungene Umzug stand zwischen ihnen wie eine Schuld. Das war jedenfalls Hélènes Eindruck.
»Na dann bis heute Abend«, sagte er.
»Bis heute Abend.«
Hélène wandte sich an die Mädchen:
»Hopp, hopp, jetzt, Zähne putzen, anziehen, und los geht’s. Ich muss noch meine Kontaktlinsen einsetzen. Und ich sage...