E-Book, Deutsch, 320 Seiten
McBride Der Spielzeug-Sammler
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-24185-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-24185-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Spielzeug-Sammler, der im Haus eines armen Predigers eine sensationelle Entdeckung macht. Ein Waisenjunge, der über die Schlachtfelder des amerikanischen Bürgerkriegs wandert und glaubt, der Sohn Abraham Lincolns zu sein. Fünf junge Musiker einer Band aus einem Vorort von Pittsburgh, die feststellen müssen, dass überall in ihrem Viertel dunkle Geheimnisse lauern. Ein Löwe im Zoo, der eine plötzliche Ahnung bekommt von der Schönheit des Lebens. Ein Schwergewichtsboxer, der boxt wie Muhammad Ali, als es darum geht, den Torwächter der Hölle zum Kampf gegen die ewige Verdammnis herauszufordern...
Was macht den Mensch zum Menschen? James McBride erzählt von Krieg und Geschichte, von Herkunft und Identität, vom Versuch, die Welt zu verstehen und sich selbst - fantasievoll, skurril, berührend und immer überraschend.
James McBride - Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist - wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman 'Die Farbe von Wasser'. Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt 'Das Wunder von St. Anna' wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für 'Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford' erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
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1
Buck Boy
Wir proben grade über Mr Woos Lebensmittelladen und chinesischem Take-away, als Folgendes passiert:
Wir hören Schüsse.
Erst mal lassen wir unsere Instrumente fallen und legen uns flach auf den Boden, weil du in The Bottom nicht weißt, wer die Guten sind. Dann hören wir Mr Woo unten schreien und rennen runter und sehen ihn über Buck Boy Robinson stehen.
Buck Boy ist so um die siebzehn, denk ich. Was kaum mehr wichtig ist, weil er tot auf’m Boden liegt. Da ist kein Leben mehr drin. Überall Blut. Buck Boy, tot, wie er ist, hat noch ein Messer in der einen und ein Bündel Dollarscheine in der andern Hand. Die hält er fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Mr Woo ist ein kleiner alter Mann mit gelbem Strohhut. Ob er Chinese oder Koreaner ist, weiß ich nicht, aber er lässt meine Band umsonst über seinem Laden proben. Er hat ’ne Knarre in der Hand, lässt sie fallen, als würde sie gleich explodieren, läuft im Kreis rum, ringt die Hände und redet auf Chinesisch oder so. Ich versteh kein Wort.
Zwei Bullen sind gleich da und jagen alle aus dem Laden. Sie machen ihn zu und nehmen die Knarre vom Boden. Wir bleiben drin, weil wir Zeugen sind. Der eine Bulle fragt Mr Woo, was passiert ist.
»Er wollte mich ausrauben«, sagt Mr Woo. Ihm scheint nicht zu heiß zu sein. Er ist blass und sieht aus, als hätte ihm einer in den Bauch geboxt. Die Bullen haben ganz schön damit zu tun, das Geld aus Buck Boys Hand rauszukriegen. Am Ende schaffen sie’s und geben es Mr Woo, aber der schüttelt den Kopf.
»Bringt ihn nur endlich raus hier«, sagt er. Er kuckt Buck Boy dabei nicht an.
Mittlerweile ist die ganze Nachbarschaft da, einschließlich Buck Boys Schwester Victoria, die draußen steht und brüllt und schreit. Die Bullen fragen uns Sachen, aber wir haben echt nichts gesehen, und dann rufen sie einen schwarzen Transporter, der Buck Boy abholt. Das dauert ’ne Weile, aber Buck Boy, der hat’s nicht eilig. So sitzen wir ’ne halbe Stunde da: ich, Dex, Goat, Bunny, Dirt, die Bullen, Mr Woo und Buck Boy. Mir ist aufgefallen, dass Buck Boy ein Paar nagelneue weiß-violette Sneakers anhat.
Niemand hier hat Buck Boy wirklich gemocht. Er hat immer nur Ärger gemacht und war wie PCP in der Birne, irgendwas, was dich irre macht. Drogen waren sein Ding, aber geklaut hat er alles. Ein Portemonnaie, die Chromteile von ’nem Auto, oder gleich die ganze Karre. Das Schlimmste war, wie er vor zwei Jahren den kompletten Schulbus geklaut hat, als wir mit drin waren. Auf dem Boulevard hat er ’ne Laterne gerammt, uns ziemlich dabei zugerichtet, und dann ist er weggelaufen. Ich glaube, eingelocht haben sie ihn deswegen aber nicht.
Und so heult keiner zu sehr, als wir Buck Boy aus Mr Woos Laden raustragen, nur seine Schwester Victoria. Es ist irgendwie traurig, weil Buck Boys Mutter sich nie um ihn gekümmert hat, als er ein kleiner Junge war, und ich hab gehört, dass sie auch Drogen nimmt. Die ganze Familie ist kaputt.
Grade als sie Buck Boy in die schwarze Karre laden, kommen die Fernsehleute mit ihren Ü-Wagen angerast. Sie sind das ganze Stück von Morgantown in West Virginia hergefahren, fünfundvierzig Kilometer über die Grenze, obwohl das hier doch Uniontown in Pennsylvania ist, ein ganz andrer Staat. Den Nachrichten ist das egal. Nachrichten sind Nachrichten. Und The Bottom ist immer gut für die Nachrichten. Weil’s hier meist schlechte gibt. Die Reporter springen aus ihren Autos und drängen sich wie Bullen durch die Menge. Direkt hinter ihnen kommt Rev Jenkins. Er ist der Priester von meiner Kirche, den Bright-Hope-Baptisten. Ich hab mal in der Zeitung gelesen, dass Rev Jenkins seit den 1980ern der »Gemeindeführer« von The Bottom ist. Ich weiß nicht, was das sein soll, aber es scheint so, dass, wo immer es ein frisch gekochtes Huhn oder ’ne Fernsehkamera gibt, Rev Jenkins nicht weit ist. Wenn die Leute erzählen, wie sehr sie Rev Jenkins hassen, sagt meine Ma: »Der Kerl hat innere Werte. Er ist voll mit meinem Essen.«
Rev Jenkins nimmt ’ne Menge Platz ein, auch wenn er ganz ruhig dasteht.
Er ist ein großer, fetter Kerl. Ich hab mal gesehen, wie er sich im Schwimmbad ausgezogen hat. Fünf Minuten hab ich gebraucht, um alles von ihm zu bekucken. Heute hat er sich die Haare mit Öl zurückgekämmt und trägt einen von seinen guten Anzügen. Er hat da ’n paar irre Dinger im Schrank. Heute ist es der rosa Nadelstreifenanzug, und als er durch die Leute läuft, dotzt es sie zur Seite, als wäre er so ’n großer Wasserball. Er erreicht die Tür von Mr Woo’s zusammen mit den Nachrichtenleuten, aber Mr Woo hat abgeschlossen und die Rollos runtergelassen.
»Zur Hölle«, sagt Rev Jenkins, und dann fängt er laut drüber zu lamentieren an, dass sie Buck Boy erschossen haben, den guten, alten Buck Boy, wo er doch noch so jung war, und wie leid er’s ist, dass immer mehr Ausländer nach The Bottom kommen, Läden aufmachen und die Schwarzen behandeln, als wären sie nichts, wo sie doch alles Geld bei diesen Leuten lassen. Nach ’ner Weile klingt es so, als wär Mr Woo den weiten Weg von China oder sonst woher gekommen, nur um Buck Boy zu erschießen.
Die Nachrichtenleute sind irgendwie überall und versuchen, in Mr Woos Laden reinzulinsen, und dann sagt Rev Jenkins: »Wir können da nicht einfach zusehen. Wir brauchen eine Untersuchung.«
Als er das sagt, heben die Nachrichtenleute die Köpfe, wie Jagdhunde, die den Fuchs wittern. Sie holen ihre Kameras ran, zücken die Notizbücher, laufen zu ihm und drücken auf Aufnahme.
»Was für ’ne Art von Untersuchung?«, fragt einer. Er hat silbergraues Haar, das er sich so hochgemotzt hat, dass es wie Zuckerwatte aussieht.
»Eine große Untersuchung«, sagt Rev Jenkins. »Mann, es sollte überhaupt keine größere geben. Eine Granddaddy-Untersuchung.«
»Sie meinen eine Grand-Jury-Untersuchung?«, sagt einer der Nachrichtenleute.
»Legen Sie mir keine Worte in den Mund!«, sagt der Rev. Aber dann ist er kurz still, und du kannst fast hören, wie’s in seinem Kopf klickt und rattert. Er predigt ganz gut, aber in der Sonntagsschule war ich besser im Lesen, und ich bin erst zwölf. »Sie haben recht«, sagt er. »Wir wollen die Grandest-Jury-Untersuchung für die Sache.«
Die Reporter sehen ihn an, ein paar von ihnen lachen. Das macht den Rev wütend. Er schwillt an in seinem Anzug, und es sieht so aus, als würde die Schmiere in seinen Haaren schmelzen und ihm übers Gesicht laufen. »Ich sage, der Junge ist ein Opfer«, sagt er. »Der Koreaner hatte eine Waffe. Wär der Junge weiß gewesen, wär er dann auch tot? Hätte dieser Koreaner ihn erschossen? Vielleicht wollte der Junge sich nur was zu essen kaufen. Vielleicht haben ihm die Cops die Waffe in die Hand gedrückt. Das weiß nur Gott«, sagt er, zieht ein Taschentuch raus und wischt sich übers Gesicht. »Weil die Cops dichthalten. Aber die Wahrheit ist, dass wir’s leid sind, dass sie unsre Kinder wie Tiere niederschießen. Wir sind es leeeiiiiid! Wir werden demonstrieren!«
Rev Jenkins kann nicht gut lesen, aber er weiß mit Worten umzugehen. Die Leute werden langsam warm. »Yeah!«, rufen sie. »Lasst uns demonstrieren!«
»Ist die Demonstration morgen?«, fragt eine Nachrichtentante. Sie ist blond. Ich hab sie schon im Fernsehen gesehen. Da sieht sie so gut aus, dass du sie küssen willst, aber in echt hat sie so viel Puder im Gesicht, dass sie wie ein Staubsaugerbeutel aussieht. Im Fernseher ist sie jung, und jetzt sieht sie ewig alt aus. Vielleicht hat sie zwei Gesichter und benutzt grade einfach das andere. Ich bin geschockt, sie so zu sehen, aber meine Freunde Goat und Bunny sind verknallt und starren sie an.
»Für meine Leute gibt es kein Morgen«, sagt der Rev. »Wir fangen sofort an. Wir werden diesen Laden boykottieren. Jeden einzelnen Tag werden wir hier stehen, demonstrieren und uns lieber zu Tode hungern, bevor wir was von einem Mörder kaufen. Diese Ausländer behandeln uns wie Bürger zweiter Klasse. Sie erschießen unsere Kinder und kriegen Minderheitendarlehen von der Regierung. Wir sind es leid. Wir machen das NICHT MEHR MIT! Wir haben die SCHNAUZE VOLL! WIR DEMONSTRIEREN!«
Die Leute sind heißgemacht, und die Nachrichtenmänner filmen die ganze Sache. Ich kenn fast alle von den Leuten, und sie alle wissen, dass Mr Woo nicht wie die vom Sun-Yung-Restaurant drei Straßen weiter ist, die ’ne schussfeste Scheibe über die Theke gebaut haben, dein Geld nehmen und achtgeben, dass sie deine Finger nicht berühren, wenn sie dir dein Essen geben. Die behandeln die Leute von The Bottom, als wären sie nichts wert. Aber alle lachen und kucken Rev Jenkins an. Wenn er erst mal loslegt, macht’s Spaß, ihm zuzukucken, und er ist grade echt heiß.
»Aaaah-haaah!«, sagt Rev Jenkins. »Aaaah hah! Wir sind’s leid! Herrgott … ein Junge ist tot …«, und er wischt sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht und fängt an zu stottern wie in der Kirche: »Ich habe diesen Jungen seit Jahren gekannt. Er hätte ein langes Leben haben sollen! Er hatte keine Träume! Er hatte keine Hoffnung! Keine Ziele! Aah, aber das Leben! Er hatte sein Leben! Das war das eine, was ihm keiner nehmen konnte, und jetzt seht euch das an. Jetzt haben sie’s ihm genommen. Ooh! Wir sind’s so leid! Wir machen das nicht mehr mit!«
»Nein!«, ruft die Menge.
Rev Jenkins deutet auf Mr Woos Laden hinter sich. »Morgen werden wir wieder hermarschieren, zur gleichen Zeit, und dafür sorgen, dass diesem Jungen...