McCarthy Die Kolonie des Königs
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19229-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die SOL-Trilogie, Band 3 - Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-19229-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Revolution der Jungen gegen die Alten ist gescheitert. Zusammen mit den restlichen Aufständischen wird Prinz Bascal Edward de Towaji Lutui mittels hypermoderner Teleportationstechnik auf den fernen Planeten Kummer verbannt, wo er eine neue Zivilisation erschaffen will. Voller Zuversicht erkunden die Siedler ihre neue Heimat – bis sich herausstellt, dass die Voraussagen der Astronomen zu optimistisch waren. Die Siedler sehen sich einer Natur gegenüber, die rau und abweisend ist. Trotz aller Vertuschungsmaßnahmen erkennen sie schnell, dass das notwendige Niveau der mitgebrachten Technik auf Dauer nicht zu halten ist und das Projekt der Landnahme scheitern muss. Doch Bascal Edward de Towaji, der sich zum König der neuen Welt proklamiert hat, unterdrückt gnadenlos alle Bestrebungen, das Kolonisierungsprojekt abzubrechen – und auch die Rückkehr zur fernen Erde ist unmöglich …
Wil McCarthy, geboren 1966 in Princeton, New Jersey, lebt mit seiner Familie in Denver, Colorado. In seinem Beruf als Ingenieur bei Lockheed gehörte er zu den Männern, die bei Raketenstarts »Lenkungssysteme startklar« melden. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten bekannt, denen mehrere Romane folgten. Er machte die Idee der programmierbaren Materie in seiner SOL-Trilogie populär, zu der er auch wissenschaftlich arbeitete. Heute leitet er eine Solarenergie-Firma und ist als Kolumnist für Syfy tätig.
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0. KAPITEL
Die gestörte Idylle
»Halten Sie sich fest«, sagt Radmer zu spät, als dass es noch etwas genutzt hätte. Die erste Lufttasche ist wie ein Tritt in den Bauch. Womm!
Radmer ist alt genug – mehr als alt genug –, um sich zu erinnern, wie es sich anfühlt, aus dem Orbit kommend inmitten eines Feuerballs in eine Planetenatmosphäre einzutreten. Das Heulen des Plasmas, die glühenden Wärmeschilde … Im Vergleich dazu ist es ein Klacks, die Atmosphäre von Lune zu durchstoßen. Zum einen beträgt seine Geschwindigkeit nicht mal 4 km/s, deshalb entsteht Hitze, aber keine Glut. Zum anderen handelt es sich bei diesem Raumfahrzeug nicht um ein elegantes Shuttle mit Möwenschwingen, sondern um eine primitive Messingkugel, die mithilfe eines Sextanten sowie mittels Dynitsprengladungen auf Sicht gesteuert wird. Für die Inertialstabilität sorgt theoretisch ein Gyroskop, das im Wesentlichen aus einer Töpferscheibe besteht, doch Radmer war zu sehr vom Steuern in Anspruch genommen, um das Rad in Schwung zu halten. Durch das untere Bullauge sieht er den wie verrückt trudelnden Mond.
Lune, der Gequetschte Mond: eine komprimierte, begrünte und sich selbst überlassene Welt, die noch immer um den stecknadelkopfgroßen Kollapsar der Gemordeten Erde kreist. Lune ist wesentlich kleiner als ein gewöhnlicher Planet. Zarter, preziöser und dennoch die größte – bei weitem die größte – bewohnbare Welt, die sich noch im Lichte von Sol badet.
Die Luft säuselt nicht mehr, sondern ist inzwischen so stark verdichtet, dass sie an der Hülle singt und kreischt. Selbst aus dieser geringen Höhe – sie sind bereits tief in die Atmosphäre eingedrungen – wirkt die Welt noch immer klein und sehr rund. Und das trifft es auch: Der Durchmesser von Lune beträgt lediglich rund 1400 Kilometer. Diese Welt hat die Größe einer Provinz, eines Binnenmeers, eines großen Hurrikans. Nicht ganz menschlichen Maßstäben gerecht werdend, aber fast. Fast.
In der zweihundertundersten Dekade nach dem Tod des Königinreiches Sol, in einer von Waffenschmieden, Uhrmachern und Artilleristen gefertigten Raumkapsel, schickt General Emeritus Radmer – der ehemalige Architekt Conrad Ethel Mursk – sich an, auf dieser kleinen Welt mit Namen Lune in der Provinz Appenin in der Nation Imbria zu landen. Jedenfalls hofft er, dass es ihm gelingen wird. Die exakte Lage des Landepunkts entscheidet darüber, ob man ihn mit einer warmen Mahlzeit begrüßen wird oder mit …
Knallend und kreischend trifft die Messingkugel auf eine weitere Lufttasche, einen Wirbel in den Stürmen der oberen Atmosphäre, und Radmers Nutzlast – die wertvollste aller denkbaren Frachten – wird heftig gegen die Gurte geschleudert. Die Kapsel rotiert. Dann ein weiterer Schlag und noch einer, noch heftiger als der erste. Das Kreischen der Luft wird ohrenbetäubend, und Radmer begreift, dass sie noch gar nicht in die oberen Atmosphäreschichten eingedrungen sind. Sie haben gerade erst die Troposphäre durchstoßen. Die Schicht, in der das Wetter entsteht.
An dieser Stelle gibt es heute nur wenige Wolken, doch sie bilden eine abgegrenzte Schicht, eine Atmosphärenschicht, die ihnen mit merklicher Geschwindigkeit näher kommt. Während die Messingkugel darauf zutrudelt, macht Radmer sich Sorgen, die Nutzlast könnte bei dem unruhigen Flug Schaden nehmen. Das hätte schlimme – sehr schlimme – Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Krieges, denn es wurden Menschenleben und große Vermögen geopfert, um diese spezielle Fracht aus dem menschenleeren tropischen Paradies des Planetchens Varna abzuholen.
»Kann man nicht den Fallschirm auslösen?«, fragt die Nutzlast.
»Leider nein«, antwortet Radmer.
Die Fracht ist ein Mensch – ein Mann mit uralten Kenntnissen von entscheidender Bedeutung. Er ist mehrere hundert Jahre älter als Radmer, und das sieht man ihm an. Es erscheint unglaublich – geradezu kriminell! –, diesen verhutzelten Mann einem solch turbulenten, dröhnenden Sturz durch die Atmosphäre auszusetzen, doch Lune kann sich nicht aus eigener Kraft retten. Dies zu bewerkstelligen, obliegt solch alten Männern, den Älteren.
Radmer kann den Fallschirm nicht auslösen, weil sie noch zu hoch sind und die Luft noch zu dünn ist. Selbst wenn der Fallschirm sich vollständig öffnen sollte, was keineswegs sicher ist, könnte die Kapsel mit den Passatwinden hunderte Meilen weit abtreiben. Und wenn sie außerhalb der Grenzen von Imbria niedergingen, würden Radmer und seine Fracht ganz schön tief in der Scheiße stecken. Radmer muss jedoch etwas gegen das Trudeln unternehmen, sonst wird der Fallschirm, wenn er ihn denn irgendwann auslöst, sich verheddern, und das würde aller Wahrscheinlichkeit auch ihrer beider Tod bedeuten. Er ist schon häufiger mit flatternden Fetzen gelandet, doch das war in der wohlbehüteten Umgebung eines kleinen Planetchens. Lune kommt seiner Vorstellung von einer Welt viel näher, und es verzeiht keinen Fehler.
»Zünden Sie noch eine Sauerstoffkerze«, rät er seiner Fracht, bloß um den Mann zu beschäftigen. Dann beugt er sich im Sitz vor und bringt endlich mit den Füßen die Töpferscheibe in Schwung. Die Schwungscheibe ist völlig zum Stillstand gekommen. Er muss fünfzigmal treten, bis die Federn überhaupt einrasten. Und dann, während sich die Scheibe stetig dreht, muss er noch minutenlang stetig weitertreten, um die Muskelenergie auf die Schwungscheibe zu übertragen, die von Highrock-Töpfern hergestellt und von Orange Mayhew, dem Uhrmachermeister, in die Kapsel eingebaut wurde.
Wenn Radmer den Fallschirm auslöst, wird die Trägheit der rotierenden Scheibe die Kapsel hoffentlich ein wenig stabilisiert haben. Andernfalls kann er noch einen weiteren Trick ausprobieren: Er kann die Hülle gegen die fixierte Innenplattform der Kugel rotieren lassen oder gar – Gott steh ihm bei – die geöffnete Luke als Schwert oder Steuerruder benutzen.
Gehorsam löst die Fracht den Gurt, beugt sich nach hinten, streckt die Arme hinter dem Kopf aus und öffnet das Staufach. Sie ertastet den Stahlmantel einer Sauerstoffkerze und klemmt sie sich zwischen die Beine, dann schließt sie das Fach, setzt sich wieder gerade hin und legt erneut den Gurt an.
»Das ist die Letzte«, sagt die Fracht.
»Das macht nichts«, erwidert Radmer zerstreut. Das ist nicht entscheidend. Entweder sie werden wohlbehalten landen oder sterben, und ob die Luft in der Kapsel frisch oder verbraucht ist, macht da nicht den geringsten Unterschied. Die Fracht aber zieht dennoch die Reißleine des Kanisters und hält ihn noch eine Minute lang fest, während die Eisen/Natriumchlorat-Mischung reagiert und sich dabei erwärmt. Dann zieht sie den verbrauchten Kanister aus der Nische hervor, schiebt den neuen hinein und fixiert ihn. Anschließend beugt sie sich zurück und verstaut den verbrauchten Kanister in dem Fach, aus dem sie den vollen genommen hat.
All das erfordert kein großes Geschick, doch Radmer empfindet gleichwohl Erleichterung. Die Fracht kann immer noch dazulernen, kann immer noch vernünftige Überlegungen anstellen, kann eine ihr fremde Handlungsabfolge bewältigen. Das ist wirklich eine gute Neuigkeit: Dies ist keiner der Untoten, jener Älteren, deren Gehirnnerven sich einfach abgenutzt haben. Während des siebenundfünfzigstündigen Fluges und der wochenlangen Vorbereitungszeit sind Radmer in dieser Beziehung einige Bedenken gekommen. Der Gesprächsstoff ist ihnen rasch ausgegangen, und daraufhin verfiel der alte Mann in eine Art Starre und wartete nur noch darauf, dass irgendetwas passierte.
Aber vielleicht war das auch nur Ausdruck von Geduld. Niemand lebt so lange, ohne Geduld zu entwickeln.
»Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben«, verkündet die Fracht. »Ich bin diese Rotation nicht gewöhnt. Ich glaube, ich bin überhaupt keine Bewegung mehr gewöhnt.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, meint Radmer. »Aber mir wär’s lieber, Sie würden nach dem Bodenfunkeln Ausschau halten.«
»Funkeln?«
»Nach Lichtern. Das Sonnenlicht wird von unseren Gegnern reflektiert, wenn sie sich über Land bewegen. Wenn Sie einverstanden sind, Sire, möchte ich lieber nicht in ihrer Mitte landen, sofern die Kapsel sich überhaupt steuern lässt.«
»Hmm. Ich verstehe.«
Und das tut die Fracht vielleicht wirklich. Die Einzelheiten des Krieges scheinen wirkungslos an ihr abzuprallen, doch das Wesentliche kann ja nicht so schwer zu begreifen sein. Sie beugt sich vor und späht durch die Luke.
Während die Fracht beschäftigt ist, bringt Radmer die Schwungscheibe noch etwas mehr in Schwung. Und tatsächlich, das Torkeln der Kapsel verlangsamt sich, das Drehmoment wird von der Scheibe absorbiert. Um die Kapsel vollkommen zu stabilisieren, bräuchte er eigentlich drei rechtwinklig zueinander angeordnete Schwungscheiben. Und wenn er genügend Zeit hätte, könnte er das ganze Schiff drehen und den Drehimpuls jeder einzelnen Richtungsachse aufheben. Aber auch so funktioniert der primitive Mechanismus erstaunlich gut. Vielleicht wird sich der Fallschirm doch nicht verheddern.
»Da ist ein Berg«, sagt die Fracht.
Radmer blickt nach unten, in die gleiche Richtung wie der alte Mann. Ja, er kann in der sich drehenden Landschaft die grüne Fläche des Aden-Plateaus ausmachen. Im nächsten Moment wird es draußen vor der Luke kurz weiß, denn sie durchstoßen eine Wolkenschicht. Die Kapsel befindet sich schon lange im freien Fall, ist bestimmt schon zehntausende Kilometer tief gestürzt. Jetzt befindet sie sich kaum einen Kilometer über dem Plateau, und es wird allmählich Zeit, den Fallschirm auszulösen. Radmer nimmt die Steuerketten in die Hand, blickt einen...