McCarthy Die Rebellion des Prinzen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19228-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die SOL-Trilogie, Band 2 - Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-19228-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Königreich SOL gibt es keinen Hunger, keine Kriege, keine Krankheiten und keinen Tod. Alle relevanten Daten sind gespeichert und können wieder in Materie übersetzt werden. Geschieht ein Unfall, kann man jederzeit auf ein Backup der betroffenen Person zurückgreifen und sie wiederherstellen. Niemand braucht mehr zu altern, das ewige Leben ist garantiert. Aber ist das wirklich eine glückliche Zukunft? Was geschieht mit der nächsten Generation, die nie die Gelegenheit haben wird, an die Stelle der älteren zu treten? Was tut ein ehrgeiziger Prinz, der keine Möglichkeit sieht, in den nächsten Jahrtausenden den Thron zu besteigen? In Ferienlager auf künstlichen Planeten verbannt, schlagen die gelangweilten Jugendlichen die Zeit tot. Kein Wunder, dass unter solchen Umständen verzweifelte Fluchtfantasien entstehen. Und so schmiedet eine Gruppe unter der Führung des Prinzen von SOL einen unglaublichen Plan, um sich ihre eigene Zukunft zu schaffen …
Wil McCarthy, geboren 1966 in Princeton, New Jersey, lebt mit seiner Familie in Denver, Colorado. In seinem Beruf als Ingenieur bei Lockheed gehörte er zu den Männern, die bei Raketenstarts »Lenkungssysteme startklar« melden. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten bekannt, denen mehrere Romane folgten. Er machte die Idee der programmierbaren Materie in seiner SOL-Trilogie populär, zu der er auch wissenschaftlich arbeitete. Heute leitet er eine Solarenergie-Firma und ist als Kolumnist für Syfy tätig.
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1. KAPITEL
Die Himmelssphären
Ein Mensch in einer Messingkugel.
Ein Mensch, einsam und allein im Vakuum des Weltraums.
Ein Mensch, der mit einer Geschwindigkeit von vierzig Metern pro Sekunde auf einen massiven Fels zurast – schnell genug, um zu zerschellen, was der törichte Abschluss eines langen und unbestreitbar törichten Lebens wäre und zur Folge hätte, dass seine Kinder schutzlos zurückblieben.
In der Sichtluke steht das Planetchen Varna, sein Ziel, gehüllt in weiße Wolken und bedeckt mit funkelnden Meeren, Grasland und Wäldern, deren vertikale Ausdehnung gegenüber dem tellerförmig gebogenen Horizont bereits hervortritt. Kein Planet: ein Planetchen. Es sieht klein aus, weil es klein ist, kaum zwölfhundert Meter im Durchmesser. Ein Kern aus hochverdichteter Materie, insgesamt fünfzehn Neubel – sehr hübsch. Die Oberfläche ist exquisit gearbeitet; er sieht Kontinente, Inseln, majestätische kleine Gebirgszüge, die über die Baumwipfel aufragen. Teleskope, wird ihm bewusst, werden dem fernsten von Lunes Trabanten nicht gerecht.
Er heißt Radmer oder Conrad Mursk, falls Sie alt genug sind. Nur wenige Menschen sind alt genug. Radmers Alter lässt sich nur schwer schätzen – sein Haar ist noch immer teilweise blond, seine welke Haut nicht sonderlich faltig. Er besitzt noch seine eigenen Zähne, wenngleich sie stark abgenutzt sind. Einige sind abgebrochen. Doch während er die Schwungscheibe in Bewegung hält, welche die Gyroskope dreht, die verhindern, dass die Sphäre ins Trudeln gerät, wirken seine Bewegungen trotz der Schwerelosigkeit irgendwie schwerfällig. Ist er vielleicht älter, als er aussieht? Diese Frage drängt sich einem auf.
Um ehrlich zu sein, ist die Luft in der Dreimetersphäre nicht sonderlich gut. Es ist kühl und feucht und riecht nach Kohlendioxid, feuchtem Messing und dem Chloridgestank der verbrauchten Sauerstoffkerzen. Verbrauchte Atemluft – die einzige Möglichkeit, sie aufzufrischen, besteht darin, sie abzulassen, doch nach anderthalb Tagen sind ihm die Kerzen und die Zeit ausgegangen, und als der Moment der Wahrheit näher rückt, beschleicht ihn eine gesunde Angst. Das Ablassventil zu öffnen, wäre im Moment zu riskant.
Er versetzt dem Drehmechanismus einen letzten Tritt, schiebt den Sessel ein paar Kerben in der Verankerung zurück und klappt den Sextanten auseinander. Das dauert mehrere Sekunden – es ist ein kompliziertes Instrument mit zahlreichen Anhängseln. Als er es in den Aussparungen der Armlehnen verankert und richtig eingestellt hat, nimmt er kurz hintereinander mehrere Messungen vor, bis der kleine Messingpfeil zur Ruhe kommt. Dann klappt er das Gerät seufzend und voller Sorge wieder zusammen, verstaut es sorgfältig im Regal und schiebt den Sessel erneut vor, worauf er die Schwungscheibe wieder in schnellere Drehung versetzt. Eine Kurskorrektur erfordert nun einmal ein gewisses Maß an Stabilität.
Als er sich vergewissert hat, dass die Gyros mit voller Leistung laufen, nimmt er die Kurskorrekturketten in die Hand und führt mit einer Reihe von Ruckbewegungen die mit dem Sextanten bestimmte Manöverfolge aus. Womm! Womm! Die Explosivladungen an der Außenhülle schütteln die Sphäre durch. Zündung, Zündung – oben, vorne, steuerbord, steuerbord … Er hat das Gefühl, unter die Hufe einer Pferdeherde geraten zu sein, doch noch ehe das Dröhnen in seinen Ohren verhallt ist, hat er den Sextanten bereits wieder in Position gebracht und nimmt die entscheidenden Messungen vor.
Die Planetchenatmosphäre ist ebenso winzig wie der Rest, und genau das ist das Problem: Bei senkrechtem Landeanflug würde er die Strecke von der dünnen Stratosphäre bis zur Lithosphäre in weniger als einer halben Sekunde zurücklegen. Selbst bei perfektem Timing ist diese Zeitspanne zu kurz, als dass der Bremsschirm sich entfalten könnte. Um den Aufprall zu überleben, muss er dicht über den Planetenrand hinwegfliegen und horizontal in die Atmosphäre eintauchen. Einen Apfel zu treffen ist leicht; ihm die Schale säuberlich abzurasieren ist wesentlich schwieriger, zumal wenn man selbst das Projektil ist.
Hätte er vielleicht eine Flaschenpost absetzen sollen? Oder gleich ein ganzes Dutzend Flaschen, um alle Planetchen von hier bis zur verwüsteten Erde abzudecken? Das allerdings wäre nun tatsächlich eine leere Geste gewesen, freilich leichter zu bewerkstelligen. Dabei wird er anderswo gebraucht und an mindestens einem Dutzend verschiedenen Orten dringend erwartet, während es auf Lune immer schlimmer wird. Doch aus irgendeinem Grund hat dieser dubiose Auftrag sein Interesse geweckt. Nein, mehr als das: seine Hoffnung. Kann ein Mensch ohne Hoffnung existieren? Und gilt das nicht erst recht für eine ganze Welt?
Die mit dem Sextanten ermittelten Daten sind jedoch alles andere als ideal: Er hat auf zwei von drei Bewegungsachsen überkorrigiert. Mit einem noch schwereren Seufzer als zuvor verstaut er das Gerät, bereitet die nächste Kurskorrektur vor und löst die Ketten aus den Arretierungen. Als er an der ersten Kette zieht, wird er diesmal nicht von einer Pferdeherde überrannt. Es passiert gar nichts.
Mit jähem Schreck wird ihm bewusst, dass er Korrekturladungen vergeudet. Er hat ganz vergessen, ein paar auf jeder Achse für den letzten Abschnitt des Landeanflugs aufzusparen. Lässt sich der Fehler wieder gutmachen? Durch eine Neuorientierung des Raumschiffes, die er vor der Landung sowieso ausführen muss? Ja, gewiss, es sei denn, er hat wirklich Pech gehabt, und die Ladungen an allen sechs Orientierungsachsen der Sphäre gehen ihm gleichzeitig aus.
In der vorderen Luke ist nichts als Varna zu sehen: unter einem Wolkenwirbel sind bereits einzelne Bäume zu erkennen. Vorsichtig ausgedrückt, pressiert es allmählich.
Die Höhenkontrolle lässt sich nur manuell bedienen; Radmer wirft den Sicherheitsgurt ab und katapultiert sich zu einer Reihe von Griffen, die an der Innenwand der Sphäre montiert sind. Sie sind kalt, ihre Temperatur liegt nur knapp über dem Gefrierpunkt, und sie sind so feucht, dass er fest zupacken muss, um nicht abzurutschen.
Als die Außenhülle sich in der Halterung bewegt, die sie an der Stelle, wo seine Füße stehen, mit dem Innenkäfig verbindet, ertönt ein metallisches Kreischen und Ächzen, Messing gegen Messing. Die Schwungscheibe und die Gyros haben eine fixe Orientierung im Raum, während die Dreimetersphäre mitsamt dem Sessel und den Staufächern um sie herum rotiert. In der einen Luke blitzt kurz die Sonne auf; in der anderen die grün-weiße Oberfläche von Lune. Dort kommt er her.
Wie die meisten Männer seines Alters ist Radmer erheblich kräftiger, als es auf den ersten Blick scheint. Gleichwohl ist es ebenso mühevoll, die Rotation der Hülle zu beenden, wie sie in Gang zu setzen. Er kämpft gegen seine eigene Kraft, gegen den Schwung, den er selbst erzeugt hat. Trotz der Kälte gerät er unter dem Mantel und den Ledersachen ins Schwitzen.
Er würde die Hülle gern so ausrichten, dass der Sessel nach hinten weist, damit er beim Aufprall besser geschützt ist. Denn schließlich kann sogar die beste Landung ganz schön unsanft sein. Da die Steuerbordladungen jedoch aufgebraucht sind, bliebe immer noch eine unkorrigierbare Achse übrig. Und so richtet er den Stuhl zu den Sprengladungen hin aus, um neunzig Grad gegenüber seiner Wunschrichtung versetzt, feuert zwei rechtwinklig zueinander angebrachte Ladungen ab, richtet den Sessel dann wieder nach vorn und schnallt sich eilig an, um eine weitere Sextantenmessung vorzunehmen.
Perfekt? Nah genug? Nein, er liegt schon wieder daneben und kommt von der idealen ballistischen Flugbahn ab. Er nimmt die Voreinstellungen für eine weitere Kurskorrektur vor, erkennt, dass ihm nicht mehr genug Zeit bleibt, und verstaut stattdessen eilig den Sextanten, damit der sich nicht seinerseits in ein verselbstständigtes Projektil verwandelt.
Er macht Anstalten, sich erneut loszuschnallen und den Sessel nach hinten zu drehen, um den Aufprall abzudämpfen, aber dazu ist nun wirklich keine Zeit mehr, die Hülle singt bereits von der Luftreibung. Deshalb krallt er die eine Hand um die Armlehne und die andere um die Reißleine des Bremsfallschirms und bereitet sich darauf vor, gegen die Gurte nach vorn geschleudert zu werden.
Er könnte jetzt beten oder Schlachtgesänge grölen, aber vielleicht reicht es schon, daran zu denken. Jedenfalls geht es schneller: In einem Augenblick spult er im Geiste gleich eine ganze Reihe Lieder ab. Und dann prallt die Sphäre gegen die dichteren Luftschichten – sanfter als erwartet. Was bedeuten könnte, dass er zu hoch gezielt hat und mit zu flachem Winkel auftrifft. Wird er von der Planetchenatmosphäre abgleiten und zu seiner Beschämung wieder lunewärts geschleudert werden?
Die Luft kreischt, und einen Moment lang erblickt er Varna gleich durch drei verschiedene Luken. In der vierten ist der dunstige, schwarz-blaue Himmel zu sehen. Er kann tatsächlich einzelne Grashalme erkennen, und dann weicht der Boden wieder zurück und es wird höchste Zeit, den Bremsfallschirm auszulösen. Das plötzlich spürbare Gewicht seiner Arme kommt ihm zu Hilfe, als er die Reißleine zieht. Während er stark abbremst, blickt er quer durch die Sphäre nach ›unten‹. Er hört, wie sich der Fallschirm begleitet vom Klirren der Messingklappen entfaltet, und dann drückt die Luft den Bremsfallschirm hinter das Raumfahrzeug und strafft die Leinen, und Radmer blickt auf einmal tatsächlich in die richtige Richtung.
Dann schlägt das Unheil zu, in Form eines Baumwipfels mit ausladenden Ästen. Er trifft ihn nicht fest, die Akazienblätter ratschen lediglich über die Lukenverglasung, doch der kurze Kontakt...