McFarlane | Nachts, wenn der Tiger kommt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

McFarlane Nachts, wenn der Tiger kommt

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12499-1
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-12499-1
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn verborgene Ängste Wirklichkeit werden
Die betagte Ruth wohnt in einem entlegenen Haus am Meer. Seit dem Tod ihres Mannes ziehen ihre Tage gleichförmig dahin, allein vom Rhythmus der Wellen und dem Klang des Windes geprägt. Eines Tages steht eine vom Staat geschickte Pflegekraft vor der Tür. Die tüchtige Frida übernimmt schnell das Regime, sie kümmert sich um Geldangelegenheiten und die Medikamente, sodass die alte Dame das Haus gar nicht mehr verlassen muss. Langsam entgleitet Ruth das Gefühl für die Realität: Gegenstände verschwinden, ein leerstehendes Zimmer scheint bewohnt, nachts schleicht ein blutrünstiger Tiger durchs Haus ... und ist Frida wirklich die, für die sie sich ausgibt?

Fiona McFarlane wurde in Sydney geboren, studierte an der dortigen Universität und promovierte an der University of Cambridge. Sie hat bisher Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften veröffentlicht, war Stipendiatin im Fine Arts Work Center in Provincetown, Massachusetts, im St. John's College in Cambridge, England, und ist gegenwärtig am Michener Center for Writers der University of Texas in Austin. 'Nachts, wenn der Tiger kommt' ist ihr erster Roman; er erscheint in mehr als einem Dutzend Sprachen.

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1 Um vier Uhr morgens wurde Ruth wach, und ihr schlaftrunkenes Hirn sagte »Tiger«. Das war nicht weiter verwunderlich; sie träumte. Aber im Haus waren tatsächlich Geräusche zu hören, und sie hörte sie jetzt, beim Aufwachen. Sie kamen aus dem Wohnzimmer auf der anderen Seite des Flurs. Irgendetwas Großes strich an ihrer Couch und ihrem Fernseher entlang, und, vermutete sie, auch an dem weizenfarbenen, verstellbaren Fernsehsessel, der sich als Ohrensessel ausgab. Andere Geräusche folgten: das Schnauben und Schnaufen eines großen Tiers; ein vibrierendes Atmen, das Größe und Entschlossenheit verriet. Unverkennbar die Geräusche eines Säugetiers, unverkennbar aus der Familie der Katzen, als seien ihre eigenen über Nacht größer geworden und schnüffelten nun mit enormen Nasen nach Futter. Aber sie spürte das Gewicht der schlafenden Tiere auf dem Laken am Fußende ihres Betts, und was sie hörte, war etwas anderes. Lauschend blieb sie liegen. Manchmal war das Haus still, und sie hörte nur das alberne Getöse ihres eigenen, durch ihre Adern pulsierenden Blutes. Dann wieder ein fernes, leises Winseln, gefolgt von forschenden Atemzügen. Die Katzen wurden wach, reckten sich, sahen sich um, und als was immer sich im Wohnzimmer herumtrieb ein lautes Prusten ausstieß, sprangen sie vom Bett und rannten hysterisch vor Angst in den Flur, durch die Küche und durch die einen Spalt offen stehende Hintertür ins Freie. Die plötzliche Aktivität rief im Wohnzimmer ein seltsames, ersticktes Fauchen hervor, und dieses Geräusch, gefolgt von einem lauteren Schnüffeln, bestätigte, dass es sich bei dem Eindringling um einen Tiger handelte. Einmal, im Zoo, hatte Ruth eines dieser Tiere beim Fressen gesehen, und das hatte sich genau so angehört: laut und schmatzend, begleitet von einem leisen, gutturalen Schnurren, immer wieder unterbrochen von einem kurzen, warnenden Grollen, das sich jeden Augenblick in ein Brüllen verwandeln konnte, wäre es nicht mit Fressen beschäftigt. Ja, es klang genau wie ein Tiger, der etwas Großes und Blutiges fraß, und doch war das Geräusch leer, fleischlos. Ein Tiger! Fasziniert von dieser Möglichkeit, vergaß Ruth, sich zu ängstigen, und musste sich selbst zur Angst ermahnen. Der Tiger schnüffelte noch einmal, rau, geifernd, und drehte sich auf seinen mächtigen Pranken, als wolle er sich hinlegen. Ruth streckte eine mutige Hand in die Dunkelheit, fand das Telefon auf dem Nachttisch und drückte die Taste, die darauf programmiert war, ihren Sohn Jeffrey herbeizuzitieren, der, durch und durch vernünftig, wie er war, in diesem Augenblick ganz gewiss in seinem Haus in Neuseeland schlief. Das Telefon klingelte. Ruth hörte, wie belegt Jeffreys Stimme klang, als er sich meldete, hatte aber trotzdem kein schlechtes Gewissen. »Ich höre Geräusche«, sagte sie mit leiser, dringlicher Stimme – einer Stimme, die sie ihm gegenüber bisher nur selten benutzt hatte. »Was? Bist du das, Ma?« Er schüttelte den Schlaf von sich ab. Auch seine Frau würde jetzt aufwachen; sie würde sich besorgt auf die Seite rollen und das Licht einschalten. »Ich kann einen Tiger hören. Er brüllt nicht, sondern schnauft und schnaubt nur. Es klingt, als würde er fressen, und als würde er sich sehr konzentrieren.« Sie wusste also, dass es ein männlicher Tiger war, und das war ein Trost. Ein weiblicher Tiger wäre ihr bedrohlicher vorgekommen. Jeffreys Stimme klang jetzt schärfer. »Wie spät ist es eigentlich?« »Hör selbst«, sagte Ruth. Sie hielt den Hörer von sich weg, in die Nacht hinein, aber dabei fühlte ihr Arm sich verletzlich an, und sie zog ihn wieder zurück. »Hast du es gehört?« »Nein«, sagte Jeffrey. »Könnten es die Katzen sein?« »Es ist viel größer als eine Katze. Ich meine, als eine normale Katze.« »Du willst mir also wirklich sagen, dass ein – was? Dass ein Tiger in deinem Haus ist?« Ruth gab keine Antwort. Sie hatte nicht gesagt, dass ein Tiger in ihrem Haus war, sondern dass sie einen hörte. Diese Unterscheidung kam ihr jetzt, da sie selbst wach war – und Jeffrey, und seine Frau, und inzwischen wahrscheinlich auch die Kinder –, wichtig vor. »Ach, Ma. Es ist kein Tiger da. Entweder ist es eine Katze oder ein Traum.« »Ich weiß«, sagte Ruth. Natürlich wusste sie, dass kein Tiger da sein konnte, war sich aber auch nicht sicher, ob das Ganze ein Traum war. Schließlich war sie wach. Und ihr Rücken tat weh, was er im Traum nie tat. In diesem Moment fiel ihr auf, dass die Geräusche verstummt waren. Sie hörte nur noch die üblichen Außengeräusche der sich brechenden Wellen. »Möchtest du vielleicht nachsehen gehen?«, fragte Jeffrey. »Ich bleibe solange am Telefon.« Seine Stimme verriet schicksalsergebene Müdigkeit; Ruth vermutete, dass er seiner Frau mit einem Kopfschütteln bei geschlossenen Augen zu verstehen gab, dass alles in Ordnung war, dass seine Mutter nur einen ihrer Momente hatte. Als er sie vor ein paar Wochen, zu Ostern, besucht hatte, hatte Ruth eine neue, duldsame Wachsamkeit an ihm bemerkt, und die Angewohnheit, die Lippen zusammenzupressen, wenn sie etwas sagte, was er für merkwürdig hielt. Daher wusste sie – der drollige Spiegel, der Jeffreys Gesicht war, hatte es ihr verraten –, dass sie das Stadium erreicht hatte, in dem ihre Söhne sich ihretwegen Sorgen machten. »Nein, Schatz, schon in Ordnung«, sagte sie. »Es war dumm von mir anzurufen. Tut mir leid. Schlaf weiter.« »Bist du sicher?«, fragte Jeffrey, aber er klang benommen, er hatte sie bereits verlassen. Dass Jeffrey so unbesorgt war, machte sie mutig. Sie stieg aus dem Bett und durchquerte das Zimmer, ohne Licht zu machen, den Blick auf das Weiß ihrer Füße auf dem Teppichboden gerichtet, bis sie die Schlafzimmertür erreichte. Dort blieb sie stehen und rief »Hallo?«. Keine Antwort, aber Ruth war sicher, im langen Flur einen pflanzlichen Geruch wahrzunehmen. Dazu fühlte sich die Luft nach Inland an, was nicht zu diesem Haus am Meer passte. Und die stickige Nacht war viel zu heiß für Mai. Ruth riskierte ein zweites »Hallo?« und stellte sich dabei die Schlagzeilen vor: »Australierin im eigenen Haus von Tiger gefressen«. Oder, eher noch: »Tiger lässt sich Rentnerin schmecken«. Darüber musste sie lächeln, und dann war da noch ein anderes Gefühl, ein neues, das sie mit größerer Sorgfalt in Augenschein nahm: ein Gefühl überhöhter Bedeutsamkeit. Etwas Wichtiges, spürte Ruth, geschah mit ihr, und sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war: der Tiger oder das Gefühl von etwas Wichtigem. Beides schien zusammenzuhängen, aber das Gefühl der Bedeutsamkeit stand in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Ereignissen der Nacht, bei denen es sich schließlich nur um einen bösen Traum handelte, einen sinnlosen Anruf und einen kurzen Gang zur Schlafzimmertür. Sie spürte, dass etwas auf sie zukam – etwas Großes, und natürlich nichts Reales, so schlimm stand es noch nicht um sie –, sondern eine Art Form, oder zumindest eine Wärme. Es rief ein eigenartiges Brodeln in ihrer Brust hervor. Im Haus war es still. Ruth berührte ihre empfindliche Brust, machte die Schlafzimmertür zu und folgte ihren eigenen Füßen zurück zum Bett. Ihr Kopf füllte sich, veränderte sich, und verschwamm wieder. Bestimmt schläft der Tiger jetzt, dachte sie, also schlief sie ebenfalls ein und wachte erst am späten Vormittag wieder auf. Bei Tageslicht sah das Wohnzimmer, das Ruth jetzt betrat, absolut harmlos aus. Die Möbel standen alle an ihrem üblichen Platz, zivilisiert, ordentlich, fast ängstlich auf Ruths Billigung bedacht, als hätten sie sie irgendwie verärgert und warteten nun in ihrem allerbesten Sonntagsstaat auf ihre Vergebung. Diese kriecherische Anbiederung bedrückte Ruth. Sie ging zum Fenster und zog mit dramatischer Gebärde die Spitzenvorhänge auf. Der Garten vor dem Haus sah genauso aus wie immer – die Grevilleen mussten beschnitten werden –, aber am Ende der Auffahrt, halb von den Kasuarinen verborgen, sah sie ein gelbes Taxi stehen. Es sah so verlassen aus, so unnötig grell. Bestimmt war der Fahrer irgendwo falsch abgebogen und sie würde ihm den Weg erklären müssen; das kam an diesem verlassen scheinenden Küstenstreifen gelegentlich vor. Noch einmal sah sich Ruth im Zimmer um. »Ha!«, rief sie, als wolle sie es herausfordern, ihr Angst zu machen. Als es das nicht tat, kehrte sie ihm fast angewidert den Rücken zu, ging in die Küche, öffnete die Fensterläden und sah aufs Meer hinaus. Es lag wartend unterhalb des Gartens, und obwohl sie nicht mehr hinuntergehen konnte – die Düne war zu steil, ihr Rücken zu unberechenbar –, fühlte sie sich auf undefinierbare Weise durch seine Gegenwart getröstet, so wie sich eine Pflanze, dachte sie, vielleicht von Mozart getröstet fühlte. Es war Flut, das Wasser schmiegte sich flach an den Strand. Die Katzen tauchten aus den Gräsern auf, mit denen die Dünen bewachsen waren, blieben in der Tür stehen, beschnüffelten mit ihren misstrauischen Nasen die Luft im Inneren des Hauses und begaben sich dann in plötzlicher, überdrüssiger Ruhe hinein. Ruth schüttelte Trockenfutter in ihre Näpfe und sah zu, wie sie ohne innezuhalten fraßen, bis alles weg war. Irgendetwas an der Art, wie sie fraßen, mutete biblisch an, hatte sie entschieden; es hatte den Charakter einer Plage. Dann machte sie Tee. Sie setzte sich in ihren Sessel – den einzigen, den ihr Rücken über längere Zeiträume hinweg tolerierte – und aß zum Frühstück Kürbiskerne. Der Sessel war ein riesiges, hölzernes Gebilde, ein Erbstück aus der Familie ihres Mannes. Er sah aus, als sei einst ein...


McFarlane, Fiona
Fiona McFarlane wurde in Sydney geboren, studierte an der dortigen Universität und promovierte an der University of Cambridge. Sie hat bisher Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften veröffentlicht, war Stipendiatin im Fine Arts Work Center in Provincetown, Massachusetts, im St. John’s College in Cambridge, England, und ist gegenwärtig am Michener Center for Writers der University of Texas in Austin. "Nachts, wenn der Tiger kommt" ist ihr erster Roman; er erscheint in mehr als einem Dutzend Sprachen.



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