Mead Bloodlines - Silberschatten
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8025-9690-2
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 05, 384 Seiten
Reihe: Bloodlines-Reihe
ISBN: 978-3-8025-9690-2
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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KAPITEL 1
SYDNEY
Ich erwachte im Dunkeln. Das war allerdings nichts Neues, da ich seit … ich wusste nicht, seit wie vielen Tagen ich schon im Dunkeln aufgewacht war. Es konnten Wochen oder sogar Monate gewesen sein. Ich hatte in dieser kleinen, kalten Zelle – mit nur einem rauen Steinboden als Bett – jedes Zeitgefühl verloren. Es war unmöglich, die Tage zu zählen, weil meine Wärter mich entweder mit einer Droge wach hielten oder mich schlafen ließen, ganz wie es ihnen gefiel. Einige Zeit lang war ich mir sicher gewesen, dass sie mir etwas ins Essen oder ins Wasser taten, daher war ich in einen Hungerstreik getreten. Das Einzige, was mir das gebracht hatte, war eine Zwangsernährung – was ich nie, nie wieder erleben möchte. Und der Droge entkam ich dadurch auch nicht. Schließlich war mir klar geworden, dass sie sie durch das Lüftungssystem in die Zelle strömen ließen, und anders als beim Essen konnte ich ja schließlich nicht in einen Atemstreik treten. Für eine Weile hatte ich dann die abstruse Idee gehabt, meinen Menstruationszyklus als Zeitmesser zu nehmen, so wie sich Frauen in primitiven Gesellschaften am Mond orientiert hatten. Meine Wärter, Verfechter von Sauberkeit und Effizienz, hatten für diesen Fall sogar weibliche Hygieneprodukte bereitgestellt. Doch auch dieser Plan scheiterte. Da ich durch meine Gefangennahme die Pille plötzlich nicht mehr nehmen konnte, hatten sich meine Hormone neu eingestellt und meinen Körper in unregelmäßige Zyklen gestürzt, die es unmöglich machten, irgendetwas zu messen, vor allem in Kombination mit meinem verrückten Schlafrhythmus. So konnte ich mir allerdings sicher sein, dass ich nicht schwanger war – eine gewaltige Erleichterung. Hätte ich auch noch Angst um Adrians Kind haben müssen, hätten die Alchemisten eine schier unbegrenzte Macht über mich gehabt. Aber in diesem Körper gab es nur mich allein, und ich konnte alles aushalten, Hunger, Kälte, egal was. Ich weigerte mich, mich von ihnen brechen zu lassen. »Haben Sie über Ihre Sünden nachgedacht, Sydney?« Die metallische Frauenstimme hallte durch die winzige Zelle und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Ich richtete mich in eine sitzende Position auf und zog mir das grobe Hemd über die Knie. Das war reine Gewohnheit. Das ärmellose Kleidungsstück war so papierdünn, dass es nicht die geringste Wärme bot. Es vermittelte lediglich ein Anstandsgefühl. Sie hatten es mir irgendwann während meiner Gefangenschaft gegeben und behauptet, es sei ein Zeichen guten Willens. In Wirklichkeit denke ich aber, dass die Alchemisten einfach nicht ertragen konnten, mich nackt zu lassen, vor allem als sie sahen, dass es mir nicht so zusetzte, wie sie gehofft hatten. »Ich habe geschlafen«, antwortete ich und unterdrückte ein Gähnen. »Keine Zeit zum Nachdenken.« Von den Drogen in der Luft schien ich ständig müde zu sein, aber sie bliesen offenbar auch irgendeine Art von Aufputschmittel herein, das dafür sorgte, dass ich wach blieb, wenn sie es wollten, egal wie erschöpft ich sein mochte. Das Ergebnis war: Ich fühlte mich nie vollkommen ausgeruht – was natürlich ihre Absicht war. Psychologische Kriegsführung funktionierte am besten, wenn der Geist müde war. »Haben Sie geträumt?«, fragte die Stimme. »Haben Sie von Erlösung geträumt? Haben Sie davon geträumt, wie es wäre, wieder das Licht zu sehen?« »Sie wissen, dass ich das nicht getan habe.« Heute war ich ungewöhnlich redselig. Sie stellten mir diese Fragen ständig, und manchmal blieb ich einfach stumm. »Aber wenn Sie mal eine Weile damit aufhören würden, mir dieses Beruhigungsmittel zu verabreichen, würde ich vielleicht ein bisschen richtigen Schlaf bekommen und Träume haben, über die wir uns unterhalten können.« Wichtiger noch, richtigen Schlaf ohne diese Drogen zu bekommen bedeutete, dass Adrian mich in meinen Träumen aufspüren und mir helfen konnte, einen Weg aus diesem Höllenloch zu finden. Adrian. Allein sein Name hatte mich viele lange, dunkle Stunden durchstehen lassen. Gedanken an ihn, an unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, halfen mir, meine Gegenwart zu überleben. Ich verlor mich oft in Tagträumen und dachte an die Handvoll Monate zurück, die wir zusammen gehabt hatten. War es wirklich so kurz gewesen? In meinen neunzehn Jahren erschien mir nichts so lebendig oder bedeutungsvoll wie die Zeit, die ich gemeinsam mit ihm verbracht hatte. Meine Tage waren ausgefüllt mit Gedanken an ihn. Im Geiste ging ich jede kostbare Erinnerung durch, die schönen und die herzzerreißenden, und wenn ich sie alle durchhatte, fantasierte ich über die Zukunft. Ich durchlebte all die möglichen Szenarien, die wir uns für uns selbst ausgemalt hatten, all diese dummen »Fluchtpläne«. Adrian. Er war der Grund, warum ich in diesem Gefängnis überleben konnte. Und er war auch der Grund, warum ich überhaupt hier war. »Sie brauchen Ihr Unterbewusstsein nicht, um sich zu sagen, was Ihr Bewusstsein bereits weiß«, erklärte mir die Stimme. »Sie sind verdorben und unrein. Ihre Seele ist in Dunkelheit gehüllt, und Sie haben sich gegen Ihre eigene Art versündigt.« Ich seufzte über diese alten Phrasen und veränderte meine Position, versuchte, es mir bequemer zu machen, obwohl das ein aussichtsloser Kampf war. Meine Muskeln waren schon seit einer Ewigkeit steif geworden. An Bequemlichkeit war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. »Es muss Sie doch traurig machen«, fuhr die Stimme fort, »zu wissen, dass Sie Ihrem Vater das Herz gebrochen haben.« Das war jetzt eine neue Herangehensweise, die mich derart überrumpelte, dass ich ohne nachzudenken erwiderte: »Mein Vater hat kein Herz.« »Oh doch, Sydney. Oh doch.« Wenn ich mich nicht täuschte, klang die Stimme ein wenig erfreut darüber, mich aus der Reserve gelockt zu haben. »Er bedauert Ihren Absturz zutiefst. Vor allem, nachdem Sie uns und unserem Kampf gegen das Böse so vielversprechend erschienen waren.« Ich rutschte ein Stück, sodass ich mich gegen die grob behauene Wand lehnen konnte. »Na ja, er hat noch eine andere Tochter, die jetzt deutlich vielversprechender ist als ich, also wird er bestimmt darüber hinwegkommen.« »Sie haben auch ihr das Herz gebrochen. Beide sind betrübter, als Sie ahnen. Wäre es nicht schön, sich mit ihnen zu versöhnen?« »Bieten Sie mir diese Möglichkeit an?«, fragte ich vorsichtig. »Wir haben Ihnen diese Möglichkeit von Anfang an geboten, Sydney. Sie brauchen es nur zu sagen, und wir werden Ihren Weg zur Erlösung mit Freuden vorbereiten.« »Wollen Sie damit sagen, dies sei kein Teil davon gewesen?« »Dies war Teil der Bemühung, Ihnen zu helfen, Ihre Seele zu reinigen.« »Klar«, sagte ich. »Sie helfen mir mit Hunger und Demütigung.« »Möchten Sie Ihre Familie sehen oder nicht? Wäre es nicht schön, sich mit ihnen zusammenzusetzen und gemeinsam zu sprechen?« Ich gab keine Antwort und versuchte stattdessen zu enträtseln, was hier für ein Spiel gespielt wurde. Die Stimme hatte mir im Laufe meiner Gefangenschaft viele Dinge angeboten, die meisten davon betrafen das leibliche Wohl – Wärme, ein weiches Bett, richtige Kleidung. Man hatte mir auch andere Belohnungen genannt, wie die Kette mit dem Kreuz, die Adrian für mich gemacht hatte, und Essen, das nahrhafter und appetitlicher war als der Haferschleim, mit dem sie mich gegenwärtig am Leben erhielten. Sie hatten sogar versucht, mich mit dem Schleim in Versuchung zu führen, indem sie Kaffeeduft in die Zelle einströmen ließen. Irgendjemand – wahrscheinlich diese Familie, der so viel an mir lag – musste ihnen einen Tipp gegeben haben, was meine Vorlieben betraf. Aber dies … die Möglichkeit, mit Menschen zu reden, das war etwas ganz Neues. Zugegeben, Zoe und mein Dad standen nicht gerade ganz oben auf der Liste der Leute, die ich jetzt gern sehen würde, aber mich interessierte auch der größere Rahmen, der zu dem Angebot der Alchemisten gehörte: ein Leben außerhalb dieser Zelle. »Was müsste ich tun?«, fragte ich. »Das haben Sie die ganze Zeit über gewusst«, antwortete die Stimme. »Ihre Schuld eingestehen. Beichten Sie Ihre Sünden und geben Sie ein Zeichen, dass Sie bereit sind, sich reinzuwaschen.« Ich hätte beinahe gesagt: Ich habe nichts zu beichten. Das hatte ich ihnen schon hundert Mal gesagt. Vielleicht sogar tausend Mal. Aber ich war immer noch fasziniert. Eine Begegnung mit anderen Menschen bedeutete, dass sie dieses Gift in der Luft ausschalten mussten … nicht wahr? Und wenn ich dem entkommen könnte, könnte ich träumen … »Ich sage einfach diese Worte, und dann darf ich meine Familie sehen?« Die Stimme klang herablassend. »Natürlich nicht gleich. Sie müssen es sich erst verdienen. Aber Sie wären in der Lage, zum nächsten Stadium Ihrer Heilung überzugehen.« »Umerziehung«, sagte ich. »So, wie Sie es ausdrücken, klingt es wie etwas Schlechtes«, erwiderte die Stimme. »Wir tun das alles nur, um Ihnen zu helfen.« »Nein danke«, stellte ich fest. »Ich gewöhne mich gerade an diese Zelle. Es wäre furchtbar schade, sie zu verlassen.« Einmal das, und dann wusste ich, dass mit der Umerziehung erst die wahre Folter begann. Sicher, sie würde körperlich vielleicht nicht so belastend sein wie dies hier, aber da würden sie sich erst richtig auf die Gedankenkontrolle konzentrieren. Diese harten...