E-Book, Deutsch, 398 Seiten
Meier Werke Band 2: Die ersten Romane
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7296-2172-5
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der Besuch (1976) / Der schnurgerade Kanal (1977)
E-Book, Deutsch, 398 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2172-5
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Gerhard Meier Geb. am 20. Juni 1917, gestorben 22. Juni 2008 in Niederbipp. Er brach ein Hochbaustudium in Burgdorf ab und arbeitete 33 Jahre lang in einer Lampenfabrik bevor er mit 47 Jahren seine ersten Texte veröffentlichte. Gerhard Meier erhielt u.a. den Petrarca-Preis, den Fontane-Preis, den Gottfried-Keller-Preis und den Heinrich-Böll-Preis. Er zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.
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I
Ein durchsichtiger Tag.
Der Mann auf Zimmer 212 räkelt sich hoch, schwingt seine Hände (als schwänge er Wasser ab), feuchtet die Fingerspitzen, winkelt die Arme an, legt Fingerspitzen auf Fingerspitzen, drückt kräftig zu (die Finger, die Hände nach hinten biegend), läßt wieder los, drückt ... läßt ... schwingt erneut seine Hände, läßt den Kopf rollen, läßt ihn eigentlich zuerst fallen, nach vorn, nach hinten, nach links, nach rechts (rollt ihn hernach in beiden Richtungen), verwirft seine Beine, zuerst das eine, dann das andere, verwirft auch die Arme (beide zugleich), beugt mehrmals den Rumpf, nach vorn, dann nach hinten, nach links und nach rechts, trippelt auf den Fersen eine Weile, danach quasi auf Zehenspitzen, macht einige Schritte mit O-Beinen, dann einige mit X-Beinen (einerseits also auf den äußeren, anderseits auf den inneren Fußkanten sich fortbewegend), umklammert – denn mittlerweile ist er hinter den Stuhl zu stehen gekommen –, umklammert die geschwungene Lehne des Wienerstuhls, versenkt sich in dessen Geflecht sozusagen, verfällt für kurz dem k. u. k. Gelb seiner Umgebung gewissermaßen, der Farbe des Täfers also, des Schlosses Schönbrunn auch oder einiger Straßenzüge in Baden zum Beispiel (Baden bei Wien), nimmt sich des Schattens der Linde an, das heißt eines Bruchteils dieses Schattens, welcher sich mittlerweile vom Bett auf die Wand gelegt hat; um dann in die gestutzte Kastanie zu starren, wo gerade eine Krähe (nach ihren Hals-Kopf-Schnabel-Bewegungen zu schließen) dreimal zu krähen scheint.
Immer mehr Besucher bewegen sich vom Gartenportal her auf den Eingang zu. Einige davon scheinen die Winterlinge zu Füßen der Südfront zu beachten (samt ihren Bienen), während andere vermutlich anderes vor Augen haben.
Der Mann auf Zimmer 212 (nachdem er den Wienerstuhl gewissermaßen freigegeben) begibt sich in die Tiefe des Zimmers (zur Tür hin), dann wieder zum Fenster (unter gelegentlichem Knarren des Parketts) ... zur Tür ... zum ... zur ... und so weiter. Dann bleibt er stehen, verschränkt seine Arme, neigt den Kopf leicht nach vorn, schiebt das Kinn etwas nach; um dann von neuem in jene gestutzte Kastanie zu starren, wo die Krähe, unter erneuten Hals-Kopf-Schnabel-Bewegungen, sich anschickt, abzustoßen – Richtung offenes Land.
Er sei (könnte er zu reden beginnen, eben, wenn der Besuch eintreffen würde), er sei von der Küche her durch die Stube gegangen und habe sich ans Fenster gestellt, um hinunterzuschauen auf die Straße. Dazu habe er die Arme verschränkt, den Kopf ... habe den Kopf leicht nach vorn geneigt, und unten habe seine Frau gestanden, inmitten von Kindern, denn es sei ja ein Sonntag gewesen, wie heute.
Und sie hätten zusammen in das Gärtchen gestaunt, eigentlich fröhlich. Sie müßten etwas gesehen haben. Sie hätten gedeutet oder gezeigt. Obschon es ja Winter und der Himmel durch eine Hochnebeldecke verhangen gewesen sei.
Über längere Zeit sei er dagestanden, am Fenster, die Arme verschränkt, wie gesagt, den Kopf etwas ...
Dann habe er das Fenster geöffnet und hinuntergegrüßt, und seine Frau und die Kinder hätten fröhlich heraufgegrüßt. Er habe hinuntergemeldet, daß der Besuch noch nicht eingetroffen sei, was seine Frau habe vermuten können, denn sonst wäre ja ein Auto vor dem Haus gestanden, was eben noch nicht der Fall gewesen sei. Er habe aber bereits zu kochen begonnen. Die Kinderschar habe sich dann aufgelöst, sich gruppenweise in Bewegung setzend, auf dem Weg Richtung Berg.
Hinter geschlossenem Fenster habe er dann noch eine Weile hinuntergeschaut, um dann in die Küche zurückzukehren. Man habe hierauf gemeinsam weitergekocht. Nachdem das Salzwasser zu kochen begonnen habe, sich also Blasen am Boden der Pfanne gebildet hätten, welche hochsteigend an der Oberfläche geplatzt seien, habe er einige Tropfen Salatöl zugegeben, damit die Spaghetti nicht etwa zusammenklebten. Dann habe er ein ganzes Paket dieser Spaghetti ins Wasser oder eben in die Pfanne gegeben, wobei diese aber zu lang gewesen seien, also vorerst über die Pfanne hinausgeragt hätten. Er habe Zwiebeln gehackt und sich dabei in den Nagel des linken Zeigefingers geschnitten. Dabei habe er unvermittelt an die Hausiererin denken müssen, von welcher er seinerzeit diesen Schnitzer gekauft habe, diesen nicht rostfreien Schnitzer. Er wisse noch gut, daß er dieser Hausiererin gleichsam gedankt habe, von ihr noch Schnitzer alter Machart kaufen zu können, welche durch das Schneiden von Früchten und Gemüse eher immer schnitziger würden.
Die Hausiererin habe sich über dieses Lob erfreut gezeigt, worauf er dann gleich noch einen Kaffee angeboten, was diese aber abgelehnt habe. Mit der Türfalle in der Hand habe sie noch gesagt, daß sie schon einige Jahre allein sei, ihr Mann sei eben gestorben. Man habe dann noch eine Zitronenseife gekauft (gleichsam durch den Geruch aufmerksam geworden). Das seien zitronenförmige, zitronenfarbene Seifen eben, mit Poren auch. Und seine Frau habe gesagt, ja, diese Zitronenseife hätten sie schon zu Hause gehabt, ihre Mutter habe diese geschätzt, was sie von sich nicht sagen könne. Gewissermaßen zur Erinnerung an ihre Mutter also habe man diese Zitronenseife noch gekauft.
Die Hausiererin habe sich noch einmal bedankt, um dann sozusagen fröhlich ihres Weges zu ziehen.
Im nachhinein habe ihn diese Hausiererin an seine Base Elise ... Base Luise ... Base Elise, glaube er, erinnert, wobei er deren Geschlechtsnamen im Augenblick nicht einmal mehr sagen könne. Base Elise sei im Alter auch noch unter die Hausiererinnen und Marktfahrerinnen gegangen, gezwungenermaßen freilich, obgleich sie einem immer als für dieses Gewerbe geboren geschienen habe. Base Elise sei zur Winterszeit vor allem, besonders auf Weihnachten hin, aus dem Dorf ennet dem Fluß, wo sie gewohnt habe, in die umliegenden Dörfer gegangen, einen stattlichen Bogenkorb am Arm, Lebkuchen und sonstiges Weihnachtsgebäck darin, und habe von Haus zu Haus diese Ware angeboten. Dieser vorweihnächtliche Besuch sei dann für ihn immer ein besonderes Ereignis gewesen. Base Elise habe sich übrigens für gewöhnlich links an den Kachelofen gestellt, den rechten Arm angewinkelt auf den oberen Sandsteinsitz auflegend, wobei dieser Ofensitz ihr beinahe unter die Achsel gereicht habe. Und so sei sie groß und hager und immer schwarz gekleidet dagestanden, als eine Gestalt eben von ennet dem Fluß.
Auch ihr Gesicht sei hager gewesen, das liege ja drin, aber nicht bloß hager, sondern gefleckt auch und immer etwas rötlich, die Augen leicht entzündet, die Stimme aus dem Mund dieses Gesichts sei eine gütige Stimme gewesen. Dabei habe sie in ihrem Leben drei oder vier Männer und einen langen Witwenstand durchzustehen gehabt, um dann zu guter Letzt in der Hauptstadt des Landes zu landen, unweit der Kaserne übrigens, von wo dann nach Jahrzehnten, zu Weihnachten einmal, eine Postkarte eingetroffen sei, worauf nach ein paar Sätzen ihr Name – Base Elise – gestanden habe, den Geschlechtsnamen könne er, wie gesagt, nicht mehr sagen, denn sie habe ja im Laufe ihres Lebens ... eee ... drei ... vier Namen, Geschlechtsnamen gehabt. Dieser Kartengruß aus der Hauptstadt des Landes habe einen sozusagen betroffen gemacht, sei er doch gleichsam eine Meldung von ennet dem Fluß gewesen. Man habe diese Karte über längere Zeit aufbewahrt, ob sie noch vorhanden sei, wisse er nicht.
In der Umgebung jener Kaserne habe er übrigens einmal einen Spengler angetroffen. Es sei im Frühwinter gewesen und die Hortensien in den Gärten hätten in Brauntönen, sehr nuancierten Brauntönen gemacht, versehen mit sämtlichen Blättern noch, sämtlichen Blüten auch. Und sie (diese Hortensien) hätten im Wind geraschelt, denn sie hätten ja etwas Papierenes an sich, auch wenn sie in voller Blüte stünden. Dieser Spengler sei beschäftigt gewesen mit einem Kännel auf dem Dach eines jener Wohnblöcke, welchen man früher Mietskaserne gesagt habe. Diese Mietskasernen pflegten etwa in der Umgebung echter Kasernen zu stehen, was auch im Ausland zu beobachten sei. Solche Gegenden mit Mietskasernen, Sandsteinkasernen, Zeughäusern und dazugehörigen Liegenschaften erinnerten ihn immer wieder (und zusammen mit dem Radetzkymarsch) an die Donaumonarchie, an jene seltsame Zeit des Kaisers Franz Joseph vor allem, welcher bei Audienzen – im Alter zumindest – immer wieder darum besorgt gewesen sein solle, seinen Nasentropfen ja nicht zu lange hängen zu lassen, indem er sich immer wieder die Nase gewischt, häufig auch nur mit dem Zeigefinger der einen oder anderen Hand unter der Nasenspitze durchgestrichen habe, und der eigentlich auch diese entzündeten Augen gehabt haben müßte, diese feuchten, diese etwas roten Augen. Er stelle sich vor, daß die Augen der Base Elise und jene des Kaisers Franz Joseph ganz ähnlich gewesen seien, in Farbe, Form, Feuchtigkeit eben, und daß die Gesichter dieser zwei Menschen große Ähnlichkeiten gehabt haben müßten, trotz des Backenbarts einerseits. Diese zwei Figuren, also Kaiser Franz Joseph und seine Base Elise, hätten sich dann sehr zusammengetan in der Erinnerung, und die Sandsteinkaserne der Landeshauptstadt habe sich noch dazugesellt, und das habe ein Bild gegeben, zusammen mit diesem Klempner oder Spengler eben auf einem jener langen Häuser. Dieser Spengler habe übrigens ein Stück Kännel ausgewechselt. In schwindelerregender Höhe (wie man zu sagen pflege) habe er also ein neues Stück Kännel eingesetzt, dieses vorerst über dem Kopf und mit ausgestreckten Armen drehend, was an einen Aeroplan gemahnt habe. Das Schauspiel dieses Spenglers über dem Abgrund habe überhaupt seltsam berührt ... eben über diesen Vorstadtgärten mit diesen...