E-Book, Deutsch, 376 Seiten
Meier Werke Band 4: Ob die Granatbäume blühen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7296-2176-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Verstreute Texte, Reden und Material
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2176-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Geb. am 20. Juni 1917, gestorben 22. Juni 2008 in Niederbipp. Nach einem Hochbaustudium in Burgdorf arbeitete er bis 1971 in einer Lampenfabrik. Seit 1964 erschienen 14 Bücher, zuletzt bei Suhrkamp 2005 ?Ob die Granatbäume blühen?.
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«Nachdem der Reisende am 1. Dezember 1987 lange die Schnitzfiguren am Holzportal der Kathedrale von Split betrachtet hatte, mit dem Johannes, der beim Letzten Abendmahl wieder den traurigen Kopf an die Schulter des Jesus legt, dabei mit einer Hand – Variante – Trost suchend im Ärmel seines Meisters, ging er hinunter auf die sonnige Strandpromenade, wo er einen greisen Schuhputzer sah, wie er, wohl schon lange unbeschäftigt, anfing, sich selber die Schuhe zu putzen.»
So beginnt eines der kleinen Epen aus Peter Handkes um fünf Texte erweiterter Sammlung Noch einmal für Thukydides, deren Druckfahnen eines Tages in Sils-Maria eintrafen, wo du und ich im Nietzsche-Haus als geladene Gäste einquartiert waren, neben Friedrich Nietzsches Wohn- und Arbeitszimmer, von diesem getrennt durch eine Bretterwand. Der Geist des grossen Wanderers scheint noch in den Räumen vorhanden zu sein, so dass dieser auch durch die Fahnen geweht haben musste, nachts vor allem, denn tagsüber führten wir diese mit, bis ins Bergell zum Beispiel, nach Soglio, dort, wo’s den Palazzo Salis gibt, mit dem Garten dahinter, dem sogenannt historischen, den man auf Anhieb als paradiesisch empfindet, als Anklang an Eden. Rainer Maria Rilke ist dort den Rosen nachgelaufen, hat an diesen gerochen, hat gelesen, Briefe geschrieben, seinen Elegien nachgehangen, die er in Duino begonnen und in Soglio zu vollenden gedacht hatte. Dort setzten wir uns hin, Dorli, unter einen der beiden Mammutbäume, während die Rittersporne herumstanden, die Rosen, der Phlox, die abgeblühten Pfingstrosen, die kümmerlichen Apfel-, Birn- und Kirschbäume, wobei niedrige Buchshecken die Bäume, Rosen, den Phlox zusammenzuhalten versuchten und die Berge hereinschauten, aus angemessener Entfernung.
Dort setzten wir uns also hin und lasen in den mitgeführten Fahnen, wobei wir unter anderem mitbekamen, wie der Schuhputzer von Split die eigenen Schuhe zu putzen anfing, die es auch nötig hatten, und wie sorgfältig, wie für jemand anderen, er das tat, wie er langsam, bedachtsam Lederstück für Lederstück anstrich und wie er zuletzt die Schuhe streichelte, die nun zu glänzen begannen unter den Palmen, wo der Schuhputzer sass. Und erfuhren dann, wie sich der Reisende zum Schuhputzer gesellte, sich die Schuhe ebenfalls putzen liess, wobei die gebogene Staubbürste seine Schuhe bestrich, dass sich die Kuppen seiner Zehen freuten. Beobachteten, wie er fingernagelkleine Klumpen Creme, Tupfer um Tupfer, auf den Schäften der knöchelhohen Schuhe verteilte, sorgsam umging mit jeder Hocke, ja sogar aus dem Deckel der Dose den letzten Rest der Schuhcreme herausklaubte, wie er die Schuhbändel in den Schäften versorgte, auf dass diese nicht mit Creme verschmutzt würden. Dabei hingen dem Schuhputzer die Socken herunter und der lange Saum der Unterhose, letztere eingeschwärzt wie der Hemdkragen, was den Mann mit einer Einsamkeit zu versehen schien. Und wenn die Glanzbürsten über das Leder strichen, entstanden Töne, die zu hören waren, wenn auch nur als leise, rauschende, begeisternde Melodie, die als Beiklang aufzutreten beliebte zum Mahnlied des Muezzin auf dem Minarett, während sich der Kopf des Schuhputzers in einer Pfütze vom Vortag spiegelte. Und allemal, wenn der Reisende den Fuss wechseln sollte, erklang ein hartes, kurzes Klopfen mit dem Bürstenholz auf die Kiste. Zuletzt zückte der Schuhputzer das Glanztuch, strich zum Ausklang noch einmal über das Leder, dass dieses aufleuchtete, durchzogen von Ritzen und Rillen. Nach kurzem Abklopfen des Arbeitsvorganges verzog sich der Reisen-de im Strahlen seiner Schuhe, hielt im Restaurant die Füsse unter den Sitz und erinnerte sich, wie er den greisen Schuhputzer quasi als Porträtzeichner empfunden hatte, als einen Heiligen der Sorgsamkeit. Bei Regen liess er die Schuhe im Zimmer zurück, trug diese dann aber im Schnee von Makedonien, in den Bergen des Peloponnes, im Sand der Libyschen Wüste, auch der Arabischen, wonach es in Japan genügt habe, mit einem Tuch über das Leder zu streichen, um den ursprünglichen Glanz wieder erstehen zu lassen.
Dorli, als wir von den Fahnen aufblickten, schauten noch immer die Berge herein und standen die Rosen herum. Einzig ein neuer Duft hing über dem Garten, der Duft einer Epopöe, die dem Licht entsprungen ist, den Rhythmen und Klängen Handke’scher Sätze. Dabei kamen mir die Schnitzereien vor Augen, jene vom Hauptportal der Kathedrale von Split, wo Johannes beim letzten Abendmahl den Kopf an die Schulter jenes Mannes legt, der ihm und den anderen gelegentlich die Füsse gewaschen hatte. Im Weggehen setzte ich die Schuhe sorgfältiger auf, obschon ich wildlederne trug.
Auf dem Weg zum Silser See kamen wir jeweils am Hotel Alpenrose vorüber, wo um die Jahrhundertwende Marcel Proust abgestiegen war, zusammen mit zwei Freunden, einem Juristen und einem Diplomaten, wenn ich mich recht erinnere. Und immer wenn ich an der jetzigen Ruine hinaufschaute, dachte ich mir: Hier, auf einem dieser Balkone, muss er gestanden haben, der Marcel Proust, an seine Schmetterlinge denkend «über dem kostbar getönten See, der in seinen Farben einer grossen sterbenden Blüte glich». Auf der Fassade zum See hin stand noch «Alpenrose» geschrieben, bruchstückhaft freilich, und auf einem gemauerten Gartenpfosten «Hoteleingang». Der Garten war verwildert, aber in seiner Art ebenso schön, beinahe, wie jener hinter dem Palazzo Salis zu Soglio, umstanden von Ebereschen, Gottfried Benns Baum.
Und wenn wir dann über die Matte schritten, die grosse Matte zwischen Sils-Maria und dem See (die Fahnen mit dabei), dachten die Blumen über die Geschicke der Leute nach, bis zurück zu Thukydides, was vor allem bei Gegenlicht der Fall war, während zu den übrigen Tageszeiten Frédéric Chopin die Gräser und Blüten zu wiegen schien.
Auf der Halbinsel schritt man die Pfade Friedrich Nietzsches ab; stiess auf Fluhnelken, die genauso dufteten wie jene, die ich als Knabe von der Lehnfluh heruntergeholt hatte, und gelangte zur Granittafel mit Nietzsches Trunkenem Lied, das mit den Worten endet: «Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!» Durch die Nadelbäume strich der Wind, was an- und abschwellende Zischlaute zeitigte. Ich bekam den schnauzbärtigen Mann vor Augen, der das Leben ohne Gott vorweggenommen, sich an den Hals eines Pferdes geworfen und zu guter Letzt das Reich der Schatten betreten hatte – ohne wiederzukehren.
Wir setzten uns auf die Holzbank, schauten auf den See und hinüber nach Isola, wo wir früher jeweils eine Bündner Gerstensuppe gelöffelt hatten auf unseren Wanderungen von Sils-Maria nach Maloja. Der Wind strich durch unsere Haare, als wären es Nadeln der Lärchen. Ich dachte an Handkes Epopöen, an den Schnee, der unter der Lupe Russ aufwies; sah Palmfächer zittern, als wärens tausend Vögel gegen Abend und am Sonntag und am Meer; bekam das Wetterleuchten mit auf der Insel Krk, die Promenade von Split, die Frau auf dem Oberdeck, aufs Meer hinausschauend; die kleinen Tiere, die, von Landkindern auf die heisse Herdplatte gelegt, sofort verschrumpelten. Dann rückten die Glühwürmchen heran, die Stunden zwischen Schwalbe und Fledermaus, der Bahnhof Lyon-Perrache, das Geltenlassen der Dinge und der Drang, auf der Stelle sofort zurückzukehren. –
Der See glich nun in «seinen Farben einer grossen sterbenden Blüte», die zu duften schien wie Tage zuvor der Garten des Palazzo Salis zu Soglio.
Dorli, Tage danach spielten Musiker des Leipziger Gewandhaus-Orchesters Joseph Haydns Lerchen-Quartett. Gelegentlich glaubte man, die Melodie der Bürsten des Schuhputzers von Split herauszuhören. Das war in Celerina, in der Kirche San Gian, die zwei Türme hat, wovon der höhere als Ruine in den Himmel ragt, der sich an jenem Spätnachmittag locker bewölkt über die Oberengadiner Seenplatte spannte, auch über das Bergell.
Nicht lange nach deinem Abschied ist am Himmel ein Komet erschienen, knapp über dem Jura, dort, wo einer seiner Ausläufer nach Walden abfällt, ein wenig westlich der Raststätte des Grossen Bären.
Am Abend bin ich dann oft am Laubenfenster gestanden, Dorli, habe zu dem Kometen Hale-Bopp hinaufgeschaut und dabei auch an jene amerikanischen Sektierer gedacht, die sich eigens entleibt hatten, um mit Hilfe dieses Kometen der Erde zu entfliehn.
Ich bin ihm auch ein bisschen entgegengefahren, dem Hale-Bopp, zusammen mit Peter, Susanne, Christina, und zwar bis auf den Güggel hinauf, den Güggel südlich von Walden, in den ich vor Jahren die Mondsichel habe eindringen und dies von Baur und Bindschädler habe beobachten lassen, durch das Filigran der Krone unseres Holunderbaums hindurch, den es nicht mehr gibt. Wobei die Männer Caspar David Friedrichs Bild nachgestellt haben: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes.
Den Holunderbaum hast du noch fotografiert, Dorli, vor allem dessen hohlen Stamm mit dem Ohr, dem grossen, das wir etwa als das Ohr der Erde deklarierten, Enkelkindern oder Besuchern gegenüber. Der Film mit deiner Aufnahme steckt noch in der Kamera; wie auch deine Gartenschuhe und Stiefel unter dem Tisch im Schuppen stehn, dem Tisch mit den gedrechselten Beinen, die ich zu stark eingekürzt und dadurch das Möbel um sein Niveau gebracht habe. Diese Gartenschuhe stelle ich manchmal ein bisschen zur Seite, um herangewehtes Laub wegzuwischen, Halme, trockene Erde. Dann stelle ich sie wieder hin, deine Schuhe, unter den Tisch mit den zu kurzen Beinen, auf dem sich immer noch die goldfarbene Schuhschachtel befindet, voller Wäscheklammern, mit denen du Bettzeug, Tischtücher, Hemden festgemacht hast an der Leine im Schuppen, auch an jener im Freien.
Wir sind also dem Kometen bis auf den...