E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Mejia Warum sie sterben musste
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-17942-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-17942-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mindy Mejia ist Autorin, leitende Finanzangestellte, Wochenendjoggerin, Ehefrau und Mutter zweier Kinder. Sie schreibt, was sie selbst am liebsten liest: zeitgemäße Romane mit einem starken Plot, die gleichermaßen unterhalten wie zum Nachdenken anregen. Mejias Großeltern waren Farmer in Minnesota, wo die Autorin auch heute noch mit ihrer Familie in den Twin Cities lebt.
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DEL
Samstag, 12. April 2008
Das tote Mädchen lag auf dem Rücken, ganz hinten in einer Ecke von Ericksons verlassener Scheune, trieb halb im Wasser, weil der See den tiefer gelegenen Boden geflutet hatte. Ihre Hände lagen auf dem Oberkörper, auf blutverschmiertem Rüschenstoff, der vermutlich mal ein Kleid gewesen war, und unter dem Saum streckten sich ihre Beine nackt ins Wasser, aufgedunsen dümpelten sie wie weiße Seekühe in der schmutzigen Lagune.
Die obere Hälfte ihres Körpers schien mit diesen Beinen nichts zu tun zu haben. Ich hatte schon aufgeschlitzte Mordopfer gesehen und auch ein paar Wasserleichen, aber noch nie beides gleichzeitig. Ihr Gesicht war zu entstellt, um sie identifizieren zu können, doch im ganzen County wurde nur ein einziges Mädchen offiziell vermisst.
»Muss Hattie sein.« Das kam von Jake, meinem Chief Deputy.
Der jüngste von den Sanders-Jungen hatte in der Zentrale angerufen. Er hatte sich mit irgendeinem Mädchen hier hereingeschlichen und war dabei auf die Leiche gestoßen. Dem Haufen von Erbrochenen entnahm ich, dass sich einer von den beiden übergeben hatte, bevor sie weggerannt waren. Ich weiß nicht, ob es an diesem Haufen oder am schneidenden Gestank gelegen hatte, dass Jake würgen musste, als wir hereingekommen waren. Normalerweise hätte ich ihn damit aufgezogen, aber nicht jetzt. Nicht bei diesem Anblick.
Ich löste die Kamera von meinem Gürtel und machte Fotos, versuchte, die Tote von allen Seiten aufzunehmen, ohne neben ihr ins Wasser zu rutschen.
»Noch wissen wir nicht, ob es Hattie ist.« So schwer es mir auch fiel, durften wir doch keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Gleich nach unserer Ankunft hatte ich beim Kriminallabor drüben in der Stadt angerufen und ein Tatort-Team angefordert, das jedes noch so kleine Beweisstück eintüten und beschriften sollte. Somit blieb uns eine gute Stunde mit ihr allein.
»Wer sollte es sonst sein?« Jake trat um ihren Kopf herum, achtete auf seine Schritte, denn die Bohlen ächzten unter dem Gewicht des Ex-Footballspielers. Er beugte sich herab und war jetzt ganz der Ermittler.
»Beim Zustand ihres Gesichts ist sie unmöglich zu identifizieren, auch weil sie schon so aufgedunsen ist. Keine Ringe, kein Schmuck. Keine sichtbaren Tätowierungen.«
»Wo ist ihre Handtasche? Ich kenne kein Mädchen, das ohne Handtasche vor die Tür geht.«
»Vielleicht gestohlen.«
»Was für ein Ort für einen Raubmord.«
»Nicht vorgreifen. Erst identifizieren.« Ich ging neben ihr in die Hocke, streifte einen Handschuh über, schob ihre Lippe hoch und sah, dass ihre Zähne intakt waren. »Schaut so aus, als könnte uns ihr Gebiss weiterhelfen.«
Jake suchte das Kleid nach Taschen ab, konnte jedoch nichts finden.
»Todesursache: höchstwahrscheinlich erstochen.« Ich hob ihre Hand an und sah eine Stichwunde direkt im oder kurz über dem Herzen.
»Höchstwahrscheinlich?« Jake schnaubte.
Ich ignorierte ihn und hob ihren Arm noch etwas weiter an, um die Stelle freizulegen, an der sich die weiße Haut oben von der roten Haut darunter absetzte.
»Siehst du das?« Ich deutete auf die Linie zwischen den beiden Farben. »Das sind Totenflecken. Wenn das Herz nicht mehr pumpt, zieht die Schwerkraft das Blut nach unten, wo es sich sammelt. Wenn eine Leiche bewegt wurde, erkennt man es daran, dass das Rote nicht da ist, wo es sein sollte.«
Wir überprüften es noch einmal an anderer Stelle. »Scheint zu stimmen. Das hier ist vermutlich unser Tatort.«
Ich gab mir Mühe, die Tote als eine Leiche unter vielen zu betrachten. Ich hatte schon Hunderte gesehen, vor allem natürlich in Vietnam, und in diesem Augenblick wäre ich lieber wieder dort gewesen, als darüber nachzudenken, um wen es sich bei dieser verstümmelten Leiche handeln mochte.
Ich zeigte Jake den Drucktest. »Wenn du die helle Haut drückst und sie sich rötet, ist es noch keinen halben Tag her.«
»Das Blut setzt sich also innerhalb von zwölf Stunden.«
»Genau.« Die Haut unter meiner Fingerspitze blieb weiß. Darunter sammelte sich kein Blut. Also lag die Tote mindestens schon seit dem frühen Morgen hier.
Der Scheunenboden knarrte bedrohlich, und wir wichen beide zurück.
»Dieser Schuppen wird noch über uns zusammenbrechen.«
»Das möchte ich bezweifeln. Der sieht schon seit mindestens zehn Jahren so aus.«
Im Sommer kam ich fast jedes Wochenende an dieser Scheune vorbei, vom Beginn der Angelsaison bis zum ersten Frost, und sah, wie sie sich über das Ostufer des Lake Crosby beugte, als beobachtete sie die Barsche, die unter der Wasseroberfläche umherzuckten. »Sehen« war vermutlich übertrieben. Klar, ich wusste, dass sie dort stand, ein ebenso guter Orientierungspunkt zum Angeln wie der öffentliche Strand am Ufer gegenüber, aber ich hatte mir schon wer weiß wie lange nicht mehr die Zeit genommen, mir die alte Erickson-Scheune genauer anzusehen. So geht es einem oft mit den Dingen um einen herum. Schon zwanzig Jahre nutzte Lars Erickson die Scheune nicht mehr, seit er den Großteil des Seeufers an die Stadt verkauft und eine gute Meile entfernt, am anderen Ende seines Anwesens, mehrere neue Scheunen direkt neben seinem Fertighaus errichtet hatte. Besuch bekam diese alte Dame am See – abgesehen vom See selbst – nur noch von Teenagern wie dem jungen Sanders, die irgendwo allein sein wollten, um Sex zu haben und Joints zu rauchen.
Hier war man absolut ungestört. Die Scheune bestand aus einem großen Raum, acht mal zehn Meter, mit leeren Sparren, abgesehen von einem Heuboden an dem Ende, wo der Bau ins Wasser ragte. Das breite Scheunentor lag am anderen Ende, und es gab ein Loch in der Wand, das wohl mal ein Fenster gewesen war.
Nach den schweren Regenfällen und der ungewöhnlich frühen Schneeschmelze in diesem Frühling war das Wasser angestiegen, sodass es nun ein Viertel des Scheunenbodens bedeckte und haufenweise Kippen und leere Päckchen von Zigarettenpapier darin herumschwammen, außerdem etwas, das aussah wie ein Plastikbeutel oder ein Kondom.
Jake folgte meinem Blick. »Glaubst du, unsere Mordwaffe ist da drin?«
»Die Leute von der Spurensicherung werden es schon rausfinden. Die sind gründlich.« Manche Countys hatten ihre eigenen Kriminallabore, ganze Abteilungen von Forensikern und Ermittlern, aber wir nicht. Hier gab es keine schweren Verbrechen. Meist ging es um Drogen und häusliche Gewalt, nichts, was die zusätzlichen Lohnkosten gerechtfertigt hätte. Es war schon über ein Jahr her, seit ich die Jungs aus Minneapolis wegen irgendwas herbestellt hatte.
»Wenn das nicht Hattie ist, dann muss das Mädchen auf der Durchreise gewesen sein. In fünf Countys wird niemand vermisst.«
»Beziehst du Rochester in deine Schlussfolgerung mit ein?«
»Hmm.« Darüber dachte er nach.
»Guck mal, ob du draußen vor dem Eingang was findest.« Ich reichte ihm die Kamera und trat vorsichtig wieder ans Wasser. Ohne Jake knarrten die Bohlen kaum noch – verglichen mit ihm bin ich eher klein. Dreißig Jahre im Job haben ihre Spuren hinterlassen. Ich ging neben dem Mädchen in die Hocke und hielt mir die Hand vor den Mund, suchte etwas, das ich nicht finden konnte. Totenbleich war sie, das Gesicht leicht zur Seite gewandt. In ihrem blutverkrusteten Gesicht klebten ein paar Haare. Augen und Wangen waren von Stichen übersät, und ein langer, diagonaler Schnitt zog sich von ihrer Schläfe bis zum Unterkiefer. Ein Statement. Abgesehen von der Stichwunde in der Brust war der Rest der Leiche mehr oder weniger unversehrt. Irgendjemand wollte dieses Gesicht auslöschen.
Ich sah zu Jake hinüber, um sicherzugehen, dass er mich nicht hören konnte, bevor ich mich zu ihr hinunterbeugte. »Henrietta?« Sie ärgerte sich immer, wenn ich sie bei ihrem richtigen Namen nannte, was auch der Grund war, weshalb ich es in den vergangenen achtzehn Jahren oft genug getan hatte. Alle nannten sie Hattie, seit dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus gekommen war, mit einer hübschen Schleife um ihr süßes, kahles Köpfchen. Der Gedanke daran war mir unerträglich. Ich räusperte mich und sah nach, ob Jake noch draußen war, bevor ich sie bei dem Namen nannte, den ich ihr zu Lebzeiten verweigert hatte. »Hattie?«
Ich erwartete keine Reaktion und auch nicht, dass eine Taube vom Himmel herabschweben würde oder irgendetwas in der Art, aber manchmal muss man Worte laut aussprechen, um herauszufinden, wie sie wirken, ob sie einem auf den Magen schlagen. Diese Worte waren scharf wie Dolche. Ich betrachtete die Tote, die langen braunen Haare, das leichte Kleid, zu dünn für diese Jahreszeit. Egal was ich zu Jake gesagt haben mochte – in dem Moment, in dem wir die Scheune betreten hatten, wusste ich, wer dort lag.
Als Bud heute Morgen in mein Büro gekommen war und mir erklärt hatte, er müsste eine Vermisstenanzeige für Hattie aufgeben, waren wir beide sicher gewesen, dass sie weggelaufen war. Nichts hatte sich dieses Mädchen jemals mehr gewünscht, als von hier wegzukommen. Buds Frau war da jedoch nicht so sicher. Hattie sollte am Wochenende in einem Theaterstück an der Highschool auftreten, und Mona konnte sich nicht vorstellen, dass Hattie die Stadt vorher verlassen würde. Irgendwas von Shakespeare. Außerdem meinte Mona, Hattie würde nie im Leben zwei Monate vor ihrem Schulabschluss weglaufen. Das klang so weit vernünftig, und doch war ich nicht bereit, auf den gesunden Menschenverstand eines Teenagers zu bauen. Ich gab die übliche Vermisstenmeldung raus und dachte, Bud und Mona würden sicher nächste Woche eine E-Mail bekommen,...




