Mendoza Katzenkrieg
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-312-00549-9
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Nagel & Kimche
ISBN: 978-3-312-00549-9
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Madrid im Frühjahr 1936. In der Stadt brodelt es: Kommunisten wollen an die Macht, die faschistische Falange plant einen Putsch. Am Vorabend des Bürgerkriegs reist ein englischer Kunstexperte nach Spanien, um ein verschollenes Bild von Velázquez zu begutachten. Der Auftrag ist brisant - mit dem Erlös des Verkaufs könnten die Falangisten Waffen kaufen. Was für Anthony Whitelands als kunsthistorisches Abenteuer beginnt, entwickelt sich zur lebensgefährlichen Verfolgungsjagd durch Madrid. - Altmeister Mendoza hat einen großartigen und hochspannenden Roman über den spanischen Bürgerkrieg und Faschismus vorgelegt. 'Katzenkrieg' ist Historienroman, Politthriller und Liebesgeschichte zugleich.
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4. März 1936
Liebe Catherine,
kurz nach dem Überschreiten der Grenze und dem Erledigen der umständlichen Zollformalitäten hat mich das Rütteln des Zuges in den Schlaf gelullt, denn die Nacht zuvor hatte ich, bedrängt von all den Problemen, Schrecken und Engpässen unserer stürmischen Beziehung, kein Auge zugetan. Durchs Fenster sah ich nur die dunkle Nacht und mein eigenes Spiegelbild – das Bild eines sorgengeplagten Mannes. Das Morgengrauen brachte mir nicht die Erleichterung, wie sie oft einen sich ankündigenden neuen Tag begleitet. Der Himmel war noch immer bewölkt, und die fahle Sonne machte die Landschaft draußen und die Landschaft meines Geistes nur noch trostloser. In dieser Situation, den Tränen nahe, schlief ich ein. Als ich die Augen öffnete, war alles anders. Die Sonne strahlte an einem grenzenlosen, tiefblauen Himmel, den nur einige winzige schneeweiße Wolken trübten. Der Zug fuhr durch die öde Hochebene Kastiliens. Endlich in Spanien!
Ach, Catherine, meine angebetete Catherine, könntest Du dieses großartige Schauspiel sehen, Du würdest die Verfassung verstehen, in der ich Dir schreibe. Es ist viel mehr als ein geographisches Phänomen oder ein schlichter Landschaftswechsel – es ist etwas Erhabenes. In England, ebenso wie im Norden Frankreichs, durch den ich gerade gefahren bin, ist das Land zwar grün, die Felder sind fruchtbar, die Bäume hoch, doch der tiefe Himmel ist grau und feucht, die Stimmung düster. Hier dagegen ist der Boden ausgetrocknet, die Felder sind dürr und gesprungen und bringen nur welkes Gestrüpp hervor, der Himmel aber ist unendlich und das Licht grandios. In unserem Land schreiten wir immer mit gesenktem Kopf einher, den Blick starr auf den Boden gerichtet; hier, wo der Boden nichts zu bieten hat, gehen die Menschen erhobenen Hauptes dahin und schauen zum Horizont. Es ist ein Land der Gewalt, der Leidenschaft, der großen individualistischen Gebärden. Nicht wie bei uns, die wir von unserer engen Moral und unseren kleinlichen gesellschaftlichen Konventionen unterjocht sind.
So sehe ich jetzt unsere Beziehung, liebe Catherine: als schäbigen Ehebruch voller Intrigen, Zweifel und Gewissensbisse. Solange sie anhielt (zwei Jahre, drei vielleicht?), haben wir beide keine einzige ruhige oder freudige Minute erlebt. In unsere moralische Mittelmäßigkeit getaucht, haben wir es nicht wahrnehmen können, was wir erleiden mussten, erschien uns als etwas Gottgegebenes. Doch der Moment unserer Befreiung ist gekommen, und es ist die Sonne Spaniens, die es uns gezeigt hat.
Auf Wiedersehen, meine liebe Catherine, ich gebe Dir die Freiheit, die Gelassenheit und die Lebensfreude zurück, die Dir mit vollem Recht zusteht, jung, schön und intelligent, wie Du bist. Und auch ich werde, allein, aber gestärkt durch die zarte Erinnerung unserer feurigen, wenn auch unziemlichen Umarmungen, versuchen, den Weg des Friedens und der Weisheit wiederzufinden.
PS. Ich glaube, Du solltest Deinem Mann mit dem Geständnis unseres Abenteuers keinen Kummer bereiten. Ich weiß, wie sehr es ihn schmerzen würde, wenn er erführe, dass eine auf die glücklichen Tage von Cambridge zurückgehende Freundschaft verraten worden ist. Von der aufrichtigen Liebe gar nicht zu reden, die er für Dich hegt.
Immer der Deine,
Anthony
«Inglis?»
Die Frage schreckte ihn auf. Ins Schreiben des Briefes versunken, hatte er kaum auf die anderen Passagiere im Abteil geachtet. Nach Calais war seine einzige Gesellschaft ein lakonischer Franzose gewesen, mit dem er zu Beginn der Fahrt einen Gruß und in Bilbao zum Abschied einen weiteren gewechselt hatte; die übrige Zeit hatte der Franzose unbekümmert geschlafen, und nach seinem Aussteigen war der Engländer seinem Beispiel gefolgt. Dazwischen waren auf verschiedenen Bahnhöfen immer neue Fahrgäste zugestiegen. Außer Anthony waren jetzt wie in einer Milieuposse einer fahrenden Theatertruppe ein betagter Landgeistlicher, ein bäurisch aussehendes junges Mädchen und der Mann versammelt, der ihn angesprochen hatte, ein Typ undefinierbaren Alters und Standes mit rasiertem Schädel und ausladendem Republikanerschnurrbart. Der Geistliche hatte einen Holzkoffer bei sich, das junge Mädchen ein dickes Bündel und der andere zwei massige schwarze Lederkoffer. «Ich kann nicht Englisch, wissen Sie», fuhr er angesichts der scheinbaren Zustimmung des Engländers zu seiner Frage fort. «No Inglis. Ich Spanis. Sie Inglis, ich Spanis. Spanien sehr anders als England. Different. Spanien Sonne, Stierkampf, Gitarren, Wein. Everibodi olé. England nix Sonne, nix Stierkampf, nix Freude. Everibodi kaputt.» Er schwieg eine Weile, damit der Engländer seine soziologische Theorie verarbeiten konnte, und fügte dann hinzu: «In England König. In Spanien nix König. Vorher König. Alfonso. Jetzt nicht mehr König. Finis. Jetzt Republik. Präsident: Niceto Alcalá Zamora. Wahlen. Zuerst befehlen Lerroux, jetzt Azaña. Ein Haufen politische Parteien, alle schlecht. Politiker unverschämte Kerle. Everibodi Dreckskerle.»
Der Engländer nahm seine Brille ab, reinigte sie mit dem Einstecktuch, das aus seiner oberen Jacketttasche lugte, und schaute dabei aus dem Fenster. Auf dem ockerfarbenen Boden, der sich dahinzog, so weit das Auge reichte, wuchs kein einziger Baum. In der Ferne sah er einen Bauern mit einer Decke und einem breitkrempigen Schlapphut im Damensitz auf einem Maultier. Weiß Gott, woher der kommt und wohin er geht, dachte er, ehe er sich wieder dem Mann mit mürrischem Ausdruck zuwandte, um zu zeigen, dass er keine Lust auf eine Fortsetzung des Gesprächs hatte. «Ich bin über die Umschwünge der spanischen Politik auf dem Laufenden», sagte er frostig, «aber als Ausländer fühle ich mich nicht berechtigt, mich in die inneren Angelegenheiten Ihres Landes einzumischen oder mich dazu zu äußern.»
«Hier legt sich niemand mit niemandem an», sagte der redselige Reisende ein wenig enttäuscht, als er das perfekte Spanisch des Engländers hörte, «das fehlte noch. Ich habe es nur gesagt, um Sie über die Sachlage zu informieren. Auch wenn man bloß auf der Durchreise ist, schadet es nicht, zu wissen, mit wem man es gegebenenfalls zu tun hat. Angenommen, ich bin aus irgendeinem Grund in England und komme auf den Gedanken, den König zu beschimpfen. Was passiert? Ich werde eingebuchtet. Ganz normal. Und hier genau dasselbe, bloß umgekehrt. Womit ich sagen will, dass sich die Dinge seit einiger Zeit geändert haben.»
Davon merkt man nichts, dachte der Engländer. Er sagte es aber nicht, er wollte nur dieses banale Gespräch beenden. Gewitzt blickte er nun den Geistlichen an, der unauffällig, aber mit kaum verhohlener Missbilligung dem Geschwätz des Republikaners gefolgt war. Der Trick zeitigte die gewünschte Wirkung. Der Republikaner deutete mit dem Daumen auf den Geistlichen und sagte: «Da haben Sie gleich ein Beispiel für das, was ich Ihnen sagte. Bis vor kurzem haben die da nach Gutdünken geschaltet und gewaltet. Heute leben sie auf Pump, und sobald sie bocken, werden wir es ihnen heimzahlen, nicht wahr, Pater?»
Der Geistliche verschränkte die Hände im Schoß und schaute den anderen scharf an. «Wer zuletzt lacht, lacht am besten», sagte er gelassen.
Der Engländer überließ die beiden ihrem Wortgefecht. Langsam setzte der Zug seinen Weg durch die trostlose winterliche Meseta fort und zeichnete eine Rauchsäule in die kristallklare Luft. Bevor er wieder einschlief, hörte er den Republikaner argumentieren: «Wissen Sie, Pater, Kirchen und Klöster werden nicht grundlos niedergebrannt. Noch nie ist eine Schenke, ein Krankenhaus oder eine Stierkampfarena in Brand gesteckt worden. Wenn sich in ganz Spanien das Volk gerade die Kirchen aussucht, wo die doch so schwer brennen, dann muss es dafür einen Grund geben.»
Ein heftiger Ruck riss den Engländer aus dem Schlaf. Der Zug hatte auf einem größeren Bahnhof angehalten. Ein Eisenbahnangestellter in Cape und mit Schal und Tellermütze humpelte eilig über den Bahnsteig. In seiner behandschuhten Hand balancierte er eine erloschene Messingfunzel. «Venta de Baños! Fahrgäste nach Madrid bitte umsteigen! Der Schnellzug fährt in zwanzig Minuten!»
Der Engländer angelte seinen Koffer aus dem Gepäcknetz, verabschiedete sich von den Mitreisenden und trat auf den Gang hinaus. Seine von den vielen Stunden reglosen Dasitzens eingerosteten Beine versagten beinahe den Dienst. Trotzdem sprang er auf den Bahnsteig hinunter, wo er von einem eisigen Luftzug empfangen wurde, der ihm den Atem nahm. Umsonst hielt er nach dem Eisenbahner Ausschau – dieser war nach erfüllter Pflicht sofort in sein Büro zurückgekehrt. Die Bahnhofsuhr war stehengeblieben und zeigte eine unwahrscheinliche Zeit an. An einem Mast hing eine zerfetzte spanische Flagge. Der Engländer erwog, im Schnellzug Zuflucht zu suchen, durchquerte aber stattdessen den Bahnhof in Richtung Ausgang. Vor einer von Reif und Ruß blind gewordenen Glastür, über der ein Schild Gaststätte verkündete, blieb er stehen. Im Inneren strahlte ein kleiner Kohleofen ein wenig Wärme aus und machte die Luft stickig. Der Engländer nahm die beschlagene Brille ab und rieb sie mit der Krawatte sauber. Der einzige Gast in der Gaststätte stand an der Theke, schlürfte einen weißen Schnaps und rauchte eine Zigarre. Eine Anisschnapsflasche in der Hand, starrte der Kellner den Engländer an, der zu ihm sagte: «Guten Tag. Ich muss einen Brief abschicken. Vielleicht gibt es bei Ihnen Briefmarken. Und sonst sagen Sie mir bitte, ob es im Bahnhof eine Verkaufsstelle gibt.»
Der Kellner starrte ihn offenen Mundes an. Dann murmelte er: «Wüsste ich nicht …»
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