E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Michel Weltreligion
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96861-226-3
Verlag: Aquamarin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-96861-226-3
Verlag: Aquamarin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Weltreligion“ wird niemals eine Religion von Dogmen, Vorschriften oder verbindlichen Lehren sein. „Weltreligion“ wird die „Religion des Herzens“ sein, in der sich für jeden Einzelnen der Pfad, sein Pfad, erst beim Gehen erschließen wird. Aus dem Inhalt: Das Absolute – Schöpfung oder ewiges Sein – Die Entfaltung des Lebens – Das Leben nach dem Tod – Reinkarnation – Karma und Gnade – Der geistige Pfad – Erleuchtung – Ethik.
Dargestellt in Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, klassischer Philosophie und esoterischer Philosophie.
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II. Schöpfung oder ewiges Sein
Es war nicht erst Heidegger, der durch seine viel kolportierte Frage, warum überhaupt Seiendes sei und nicht vielmehr Nichts, die ontologische Grundfrage in den Mittelpunkt des Denkens rückte. Schon lange vor ihm kreiste östliches und westliches Denken um die Frage - ob es einen Ursprung alles Seienden (also eine Schöpfung) gibt oder nur ein anfang- und endloses Sein. Da den weisen Fragestellern des Altertums jegliche Seins-Vergessenheit fremd war, stand die Wirklichkeit einer transzendenten Dimension für sie niemals zur Disposition. Ihre Frage lautete daher eher, wie überhaupt etwas existieren konnte, was nicht das Absolute war. Diese Fragestellung hat bis zum heutigen Tag nichts von ihrer Aktualität verloren, und in der Bandbreite der Antworten auf diese Problemstellung zeigt sich das gesamte religiöse Feld. Die Antworten sind bedeutsam, denn sie weisen weit hinein in die spirituelle Praxis, in das Gebets- und Meditationsleben. Wer an eine, wie auch immer geartete, schöpferische Macht glaubt, deren freier Willensentscheidung er sein Dasein verdankt, wird seine religiöse Lebensführung anders strukturieren als jemand, der überzeugt ist, dass alles Sein anfang- und endlos ist. Vereinfachend könnte man es in einem leicht modifizierten Sprichwort so ausdrücken: „Sage mir, an welchen Gott du glaubst, und ich sage dir, wie du lebst!“ Die Aussagen über ein schöpferisches Geschehen bewegen sich fast ausschließlich im Bereich des Mythos - was übrigens auch für Theorien wie den „Ur-Knall“ oder andere naturwissenschaftliche Hypothesen in großem Maße zutrifft. Doch auch der Mythos enthält einen verborgenen Logos, dem die nachstehenden Überlegungen verpflichtet bleiben werden. Sie werden jedoch zu keiner Zeit einen höheren Anspruch erheben als den, sich der Wahrheit in kleinen Schritten anzunähern. Alles, was ist, besteht nur, weil Gott existiert - oder alles, was ist, existiert von und in Ewigkeit aus sich selbst heraus. Eine der beiden Aussagen muss sich einmal als richtig herausstellen. Hinduismus
„Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründliche tiefe Wasser? Weder Tod noch Unsterblichkeit war damals; nicht gab es ein Anzeichen von Tag und Nacht. Es atmete nach seinem Eigengesetz ohne Windzug dieses Eine. Irgendein Anderes als dieses war weiter nicht vorhanden. Im Anfang war Finsternis in Finsternis versteckt; all dieses war unkenntliche Flut. Das Lebenskräftige, das von der Leere eingeschlossen war, das Eine wurde durch die Macht seines heißen Dranges geboren. Über dieses kam am Anfang das Liebesverlangen, was des Denkens erster Same war. - Im Herzen forschend, machten die Weisen durch Nachdenken das Band des Seins im Nichtsein ausfindig. Quer hindurch ward ihre Richtschnur gespannt. Gab es denn ein Unten, gab es denn ein Oben? Es waren Besamer, es waren Ausdehnungskräfte da. Unterhalb war der Trieb, oberhalb die Gewährung. Wer weiß es gewiss, wer kann es hier verkünden, woher sie entstanden, woher diese Schöpfung kam? Die Götter (kamen) erst nachher durch die Schöpfung dieser (Welt). Wer weiß es dann, woraus sie sich entwickelt hat? Woraus diese Schöpfung sich entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht - der der Aufseher dieser (Welt) im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei denn, dass auch er es nicht weiß.“56 Kaum ein anderer Text könnte exemplarischer für die Schöpfungsproblematik im Hinduismus stehen als dieser Hymnus über den Ursprung der Dinge. Vor allem seine Schlußzeile ist wegweisend, indem sie die Frage nach dem Ursprung de facto unbeantwortet lässt. Diese Offenheit ist angesichts der Vielfalt der Weltentstehungsmodelle im Hinduismus angemessen. Während im Mimansa- und im Sankhya-System völlig ohne einen Schöpfergott ausgekommen wird, postuliert die Vedanta-Philosophie Shankaras einen absoluten Urgrund, aus dem alles entstanden sein muss. Dieser fungiert in etwa in der Rolle des „unbewegten Bewegers“ und als Demiurg, der die Welt nach seinen Vorstellungen vernünftig ordnet. Die Vedanta-Philosophie wählt dabei gerne das Bild vom Töpfer und dem Ton, um damit nicht im eigentlichen Sinne von „Schöpfung“ zu sprechen, sondern eher von einer „Gestaltung“ der vorhandenen Ur-Materie. Die Substanz der Welt ist ewig, aber einzelne Welt-Systeme entstehen und vergehen. So gibt es unzählige Universen, von denen jedoch keines ewig ist. Wenn ein kosmischer Weltentag beginnt (Manvantara), treten die Universen wieder in Erscheinung, auf der Grundlage ihrer früheren Existenz. Wenn die Weltennacht (Pralaya) herandämmert, sinkt alles in einen Ruhezustand zurück. Entscheidend im indischen Denken ist allerdings die Substanz der Welten, egal ob sie als geschaffen oder ungeschaffen gedacht wird. Sie ist in jedem Falle göttlich. So beginnt etwa die Isha-Upanishade mit dem klassischen Gedanken: „Jenes ist die Fülle und dieses ist die Fülle. Aus der Fülle entsteht die Fülle. Nimmt man die Fülle aus der Fülle, so bleibt doch die Fülle bestehen.“ Die Absolutheit des Ursprungs wird in der indischen Lehre nicht dadurch gemindert, dass eine ‘relative’ Welt aus ihm entspringt. Radhakrishnan betont diese Vorstellung, unter Hervorhebung des Transzendenz-Gedankens, in seiner Kommentierung von Vers VII, 12 der Bhagavad Gita: „Der Autor verwirft die Samkhya-Lehre von der Unabhängigkeit der prakrti (Urmaterie, d.Verf.). Er behauptet, dass alles, was sich aus den drei gunas (Erscheinungsformen der Natur, d.Verf.) zusammensetzt, keineswegs ein auf sich selbst beruhender, von Gott unabhängiger Urstoff sei, sondern aus ihm allein entspringt. Wohl enthält und umfasst er alles; dieses alles aber enthält und umfasst ihn nicht. Das ist der Unterschied zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Sie alle werden vom Göttlichen belebt, doch berühren ihre Veränderungen die Ganzheit des Göttlichen nicht. Alle Dinge sind ihm unterworfen; er aber ist keinem einzigen unterworfen.“57 Noch deutlicher wird dieser Gedanke im Vers X,42, wo Krishna zu Arjuna sagt: „Ich trage dieses ganze All, indem ich es mit einem einzigen Teil meines Selbst durchdringe.“ Für Radhakrishnan ist diese Aussage von grundlegender Bedeutung für die Einheit Gottes und die Transzendenz des Schöpfers der Welten. „Es ist nicht so, dass die göttliche Einheit in Einzelstücke aufgespalten ist. Dieser Kosmos ist nur eine Teiloffenbarung des Unendlichen, wird nur von einem Strahle seines glänzenden Lichtes erleuchtet. Das transzendente Licht des Allerhöchsten weilt jenseits dieses ganzen Kosmos, jenseits von Zeit und Raum.“58 Seitens eines so bedeutenden Repräsentanten des modernen Hinduismus, wie es Vivekananda unzweifelhaft war, wird diese klare Trennung nicht so deutlich gezogen. „Wenn das Weltall die Wirkung ist und Gott seine Ursache, dann kann das Weltall nichts anderes sein als Gott selbst. Die erste Feststellung der Vedanta Philosophie ist: Gott ist sowohl die wirkende Kraft im Weltall als auch seine materielle Ursache. (Causa efficiens und causa materialis). Gott ist der Schöpfer, und Er selbst ist das Material, aus dem die ganze Natur hervorgeht. Für das Wort „Schöpfung“ gibt es im Sanskrit kein entsprechendes Wort, weil keine der Sekten in Indien an eine Schöpfung im westlichen Sinne glaubt; nämlich als an Etwas, das aus dem Nichts entsteht. Was wir unter Schöpfung verstehen, ist eine „Ausbreitung“ dessen, was bereits vorhanden ist. Das ganze Weltall ist demnach Gott selbst. Wir lesen in den Veden: ‘Wie eine Spinne auslässt den Faden aus ihrem Körper...so ist das ganze Weltall aus jenem Wesen entstanden’.“59 Zweifelhaft muss es erscheinen, ob der Ausdruck „Schöpfer“ hier überhaupt noch anzuwenden ist. Deshalb darf der Begriff „Ausbreitung“ auch nicht als „explicatio Dei“, etwa im Sinne des Cusanus, verstanden werden, sondern das Weltall ist Gott - und zwar nicht im Sinne eines Abbildes, sondern als reine Identität gedacht. Im „Integralen Yoga“ Sri Aurobindos wird die Schöpfungsfrage differenzierter betrachtet als bei Vivekananda. Aurobindo, der, wie noch zu zeigen sein wird, in seinen Vorstellungen von Evolution und Involution alle großen Gedanken Teilhard de Chardins vorweg nimmt, legt vor allem Wert auf die freie Schöpfungstat des Absoluten. „Von Schöpfung können wir nur insofern sprechen, als das Sein in Form und Bewegung zu dem wird, was es in Substanz und Status bereits ist. Wir müssen jedoch seine Unbestimmbarkeit in jenem speziellen und positiven Sinn betonen, nicht als Verneinung, sondern als unentbehrliche Bedingung für seine freie, unendliche Selbst-Bestimmung. Sonst wäre die Wirklichkeit etwas Fixiertes, ewig Determiniertes, oder sie wäre etwas Unbestimmtes, das festgelegt und an eine Summe von Bestimmungs-Möglichkeiten gebunden ist, die in ihm enthalten ist. Die Freiheit des Absoluten von aller Begrenztheit, von jedem Gebundensein durch seine eigene Schöpfung, kann nicht selbst in Begrenztheit, in absolute Unfähigkeit, in Leugnung aller Freiheit zur Selbst-Bestimmung verkehrt werden. Das wäre ein Widerspruch. ... Nur eine reine unendliche Wesenhaftigkeit kann sich auf unendliche...