E-Book, Deutsch, Band 1, 272 Seiten
Michie Die Katze des Dalai Lama
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12503-5
Verlag: Lotos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. - Band 1 der Romanreihe
E-Book, Deutsch, Band 1, 272 Seiten
Reihe: Romanreihe Katze des Dalai Lama
ISBN: 978-3-641-12503-5
Verlag: Lotos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Michie, geboren in Simbabwe, lebt heute in Australien, wo seine Bücher Bestseller sind. Ursprünglich Thriller-Autor, gelingt es dem praktizierende Buddhist mit Bravour, buddhistische Gedanken in moderner, verständlicher Form einem breiteren Publikum nahezubringen.
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Erstes Kapitel
Einem Stier, der seine Notdurft verrichtete, ist es zu verdanken, dass sich mein Leben schon kurz nach meiner Geburt dramatisch veränderte. Ohne diesen Stier, liebe Leser, gäbe es auch dieses Buch nicht.
Stellt euch einen typischen Nachmittag während der Regenzeit in Neu-Delhi vor. Der Dalai Lama war gerade von einer Vortragsreise aus den USA zurückgekehrt und auf dem Nachhauseweg vom Indira Gandhi Airport. Sein Wagen kämpfte sich durch die Vorstädte, als ein Stier den Verkehr zum Erliegen brachte, indem er auf die Schnellstraße trottete, um dort ausgiebig sein Geschäft zu verrichten.
Seine Heiligkeit stand im Stau und sah geduldig aus dem Fenster. Und als er so dasaß und darauf wartete, dass sie weiterfahren konnten, wurde er Zeuge eines Dramas, das sich am Straßenrand abspielte:
Inmitten des Durcheinanders aus Fußgängern und Fahrradfahrern, Imbissbuden und Bettlern mühten sich zwei abgerissene Straßenkinder, den Handel des Tages zu einem glücklichen Abschluss zu bringen. Am Morgen hatten sie in einer kleinen Seitengasse unter einem Haufen Leinensäcken einen ganzen Wurf kleiner Kätzchen entdeckt. Sie betrachteten ihren Fund genauer und stellten bald fest, dass er einigen Wert besaß. Denn die Kätzchen waren keine gewöhnlichen Hauskatzen, sondern eindeutig Geschöpfe von edler Herkunft. Obwohl die Jungen mit den Merkmalen der Himalaja-Katze nicht vertraut waren, begriffen sie schnell, dass die Tiere mit ihren saphirblauen Augen und dem schönen, üppigen Fell ein rentables Tauschobjekt darstellten.
Sie entrissen meine Geschwister und mich dem gemütlichen Nest unserer Mutter und warfen uns in den ungewohnten, furchteinflößenden Straßenlärm. Im Handumdrehen hatten die Jungen meine beiden älteren Schwestern, die viel größer und besser entwickelt waren als wir Letztgeborenen, gegen eine Handvoll Rupien getauscht – was eine derartige Aufregung bei ihnen hervorrief, dass sie mich versehentlich fallen ließen. Ich landete schmerzhaft auf dem Asphalt und wäre beinahe von einem Motorroller überfahren worden.
Ich und mein Bruder – zwei kleine, ausgemergelte Kätzchen – waren weitaus schwieriger an den Mann zu bringen. Stundenlang zogen die Jungen durch die Straßen und versuchten an jeder Kreuzung, die Autofahrer für uns zu interessieren. Ich hatte noch lange nicht das Alter erreicht, von meiner Mutter getrennt werden zu können. Mein zerbrechlicher Körper hatte diesen Strapazen nichts entgegenzusetzen. Vom Schmerz durch den Fall und durch den Milchmangel geschwächt war ich kaum noch bei Bewusstsein, als die Jungen die Aufmerksamkeit eines älteren Passanten erregten, der seiner Enkeltochter ein Kätzchen zum Geburtstag schenken wollte.
Er befahl den Jungen, uns auf den Boden zu setzen. Dann ging er in die Hocke und musterte uns eingehend. Mein Bruder tapste durch die Schmutzhaufen am Straßenrand und bat mit einem herzzerreißenden Miauen um Milch. Als man gegen mein Hinterteil stieß, um mich zu einer Bewegung zu animieren, schaffte ich nur einen einzigen, taumelnden Schritt, bevor ich in einer Dreckpfütze zusammenbrach.
Genau diese Szene beobachtete Seine Heiligkeit.
Und das, was als Nächstes passierte.
Nach längerem Feilschen händigten die Jungen dem zahnlosen Alten meinen Bruder aus, während ich im Schmutz liegen blieb. Schließlich beratschlagten meine Entführer, was sie mit mir anstellen sollten, wobei mich einer der Jungen sogar sehr unsanft mit seinem großen Zeh anstieß. Sie kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass ich unverkäuflich wäre, zogen den Sportteil einer alten Times of India aus einem Gully in der Nähe, wickelten mich wie ein Stück verdorbenes Fleisch darin ein und machten sich auf den Weg zum nächsten Müllhaufen, um mich dort zu entsorgen.
In der Zeitung bekam ich kaum Luft. Jeder Atemzug war eine Qual. Von Erschöpfung und Hunger gepeinigt spürte ich, wie mein Lebenslicht allmählich immer schwächer wurde und dem Verlöschen gefährlich nahekam. Kein Zweifel, mein letztes Stündlein hatte geschlagen.
In diesem Moment schickte Seine Heiligkeit einen Bediensteten, der – gerade aus Amerika zurückgekehrt – zwei Dollarscheine in seiner Robe stecken hatte. Diese überreichte er den Jungen, die eilig davoneilten und angeregt darüber debattierten, wie viele Rupien sie wohl für die Dollar bekämen.
Ich wurde aus der Todesfalle des Sportteils (»Bangalore schlägt Rajasthan vernichtend mit neun Wickets Vorsprung« lautete die Schlagzeile) gewickelt und ruhte bald auf der gemütlichen Rückbank im Wagen des Dalai Lama. Kurz darauf wurde bei einem Straßenhändler Milch gekauft und mir ins Maul geträufelt. Seine Heiligkeit hauchte meinem ermatteten Körper neues Leben ein.
Ich habe zwar kaum Erinnerungen an meine Rettung, aber die Geschichte wurde mir seither so oft erzählt, dass ich sie in- und auswendig kenne. Eines allerdings weiß ich noch sehr genau: wie ich an einem sicheren Ort voll unendlicher Wärme erwachte und zum ersten Mal, seit man mich an diesem Morgen aus meinem Bett aus Leinensäcken entführt hatte, wieder Zuversicht schöpfte. Als ich mich umsah, um meinen neuen Ernährer und Beschützer ausfindig zu machen, blickte ich direkt in die Augen des Dalai Lama.
Wie soll man den ersten Augenblick in Gegenwart Seiner Heiligkeit beschreiben?
Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Gedanke – die beruhigende und tiefe Erkenntnis, dass alles gut ist. Wie ich später begriff, ähnelt es den Empfindungen, die man hat, wenn man sich bewusst wird, dass die wahre Natur des Selbst aus Liebe und Mitgefühl besteht. Der Dalai Lama erkennt deine Buddhanatur und hält sie dir wie einen Spiegel vor. Diese außergewöhnliche Erfahrung rührt viele Menschen zu Tränen.
Als ich in eine kastanienbraune Wolldecke gewickelt auf einem Stuhl im Büro Seiner Heiligkeit saß, wurde ich mir einer weiteren Tatsache bewusst, die für alle Katzen von großer Bedeutung ist: Ich befand mich im Heim eines Katzenliebhabers.
Allerdings verspürte ich noch etwas anderes: eine weit weniger angenehme Präsenz, die jenseits des Beistelltisches saß. Nach seiner Rückkehr nach Dharamsala empfing Seine Heiligkeit wie gewöhnlich wieder viel Besuch. Gerade fand ein seit Langem vereinbartes Treffen mit einem britischen Geschichtsprofessor statt, dessen Namen ich euch natürlich auch nicht verraten darf. Der Hinweis, dass er an einer der beiden renommiertesten Universitäten Englands lehrte, muss genügen.
Der Professor schrieb gerade an einem umfangreichen Werk über die indotibetische Geschichte. In diesem Augenblick wirkte er jedoch etwas pikiert, da ihm der Dalai Lama nicht seine volle Aufmerksamkeit widmete.
»Eine streunende Katze?«, rief er, als ihm Seine Heiligkeit in wenigen Worten erklärte, weshalb ich den Stuhl zwischen ihnen in Beschlag genommen hatte.
»Ja«, bestätigte der Dalai Lama. Dann holte er zu einer etwas ausführlicheren Erläuterung aus, die weniger auf die Frage selbst als auf den Tonfall abzielte, in dem sein Gast sie gestellt hatte. Er bedachte den Geschichtsprofessor mit einem milden Lächeln und sprach mit dem vollen, warmen Bariton, der mir schon bald so vertraut sein würde.
»Nun, Herr Professor, dieses streunende Kätzchen und Sie haben etwas sehr Wichtiges gemeinsam.«
»Da bin ich aber gespannt«, antwortete der Professor reserviert.
»Ihr Leben ist Ihnen das Wichtigste auf der Welt«, sagte Seine Heiligkeit. »Und genau dasselbe gilt für dieses Kätzchen.«
Aus der darauf folgenden langen Pause wurde deutlich, dass der Professor trotz all seiner Gelehrsamkeit noch niemals mit einem derart verblüffenden Gedanken konfrontiert worden war.
»Aber damit wollt Ihr doch sicher nicht sagen, dass das Leben eines Tieres denselben Wert hat wie ein Menschenleben?«, vergewisserte er sich.
»Natürlich besitzen wir Menschen ein bedeutend größeres Potenzial«, antwortete Seine Heiligkeit. »Der starke Drang, am Leben zu bleiben, diese spezielle Bewusstseinserfahrung nicht aufzugeben allerdings – darin sind sich Mensch und Tier gleich.«
»Nun, das mag vielleicht für einige höhere Säugetierspezies gelten …« Der Professor versuchte verzweifelt, Argumente gegen diesen beunruhigenden Gedanken aufzubringen. »Aber doch nicht für alle Tiere. Denken wir beispielsweise an Kakerlaken.«
»Es gilt auch für Kakerlaken«, sagte Seine Heiligkeit unbeirrt. »Für jedes Lebewesen, das ein Bewusstsein besitzt.«
»Kakerlaken übertragen Krankheiten und Seuchen. Es ist unabdingbar, sie mit Gift zu vernichten.«
Seine Heiligkeit stand auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber, von dem er eine große Streichholzschachtel aufhob. »Wenn wir eine Kakerlake entdecken, tragen wir sie hierin ins Freie«, sagte er. »Das ist viel besser als Gift. Sie«, fuhr er nach seinem charakteristischen Kichern fort, »möchten doch sicher auch nicht von einem Gift sprühenden Riesen verfolgt werden, oder?«
Der Professor überdachte schweigend diese naheliegende, aber ungewöhnliche Weisheit.
»Für uns, die wir mit Bewusstsein ausgestattet sind« – der Dalai Lama kehrte auf seinen Platz zurück –, »ist das Leben sehr wertvoll. Deshalb müssen wir auch alle anderen bewussten Lebewesen schützen. Und begreifen, dass wir ausnahmslos alle von zwei Grundbedürfnissen geleitet werden: dem Wunsch nach Glück und dem Wunsch, Leid zu vermeiden.«
Über diese Themen spricht der Dalai Lama oft und in unzähligen Formulierungen. Und doch bringt...




