Milic / Rousselot / Vatter | Handbuch der Abstimmungsforschung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band Band 2 2, 480 Seiten, Gewicht: 1 g

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

Milic / Rousselot / Vatter Handbuch der Abstimmungsforschung

E-Book, Deutsch, Band Band 2 2, 480 Seiten, Gewicht: 1 g

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

ISBN: 978-3-03810-043-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Band 2 der Reihe 'Politik und Gesellschaft in der Schweiz'
Zentrale Fragen in der Abstimmungsforschung sind etwa: Wird das Volk von den Parteien gesteuert? Wären gewisse Abstimmungsergebnisse anders ausgefallen, hätten sich alle beteiligt? Wie informiert ist die Schweizer Bevölkerung über die ihr vorgelegten Sachfragen? Die drei Politikwissenschaftler bieten einen systematischen Überblick über die schweizerische Abstimmungsforschung. Ein erster Teil beschäftigt sich mit der Ausgestaltung der direkten Demokratie auf nationaler, kantonaler und lokaler Ebene und der Nutzung der direktdemokratischen Instrumente. Ein zweiter Teil handelt von den Wirkungen der Volksrechte auf das politische System der Schweiz. Der weitere Fokus liegt auf dem Entscheidverhalten der Schweizer Stimmbürger. Dabei stellen die Autoren zunächst die dominanten theoretischen Ansätze zur Erklärung des Abstimmungsverhaltens vor, dann präsentieren und kommentieren sie kritisch die Schweizer Anwendungen, um schliesslich die Ergebnisse der Abstimmungsforschung aufzuführen.
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2  Institutionen und Praxis der direkten Demokratie in der Schweiz
In modernen Demokratien gibt es prinzipiell zwei spezifische Formen der konventionellen Teilnahme des Bürgers am demokratischen Entscheidungsprozess: den Modus der Wahl und den Modus der Abstimmung. Abstimmungen unterscheiden sich von Wahlen dadurch, dass sie keinen Partizipationsmodus zur Übertragung von Entscheidungsvollmacht auf Repräsentativorgane, sondern einen Modus zur direkten Entscheidung der Stimmbürger über Sachfragen darstellen.21 Abstimmungen sind damit Teil dessen, was man als direktdemokratische Mitbestimmung bezeichnen kann, und schliessen per definitionem Verfahren der Direktwahl oder Abberufung von Amtsträgern aus.22 Der Begriff «direkte Demokratie» wird dabei häufig explizit oder implizit als Bezeichnung für einen eigenständigen, der repräsentativen Demokratie antithetisch gegenüberstehenden Demokratietypus verwendet (Schmidt 1995). Unter den Bedingungen der Moderne sind die heutigen Demokratien, die sich sowohl durch Flächenstaatlichkeit als auch durch arbeitsteilige, pluralistische Gesellschaften auszeichnen, jedoch ipso facto repräsentativ verfasst (Kelsen 1981, Schiller 2002).23 Direktdemokratische Instrumente haben in diesen repräsentativen Demokratien also «nur» einen Ergänzungsstatus (Schiller 2002: 36). Als Elemente der Herrschaftsfunktion, und nicht nur Instrumente der Partizipation, sind sie – je nach Ausgestaltung – als ergänzende Institutionen (z. B. als Legislativinstanz) im demokratischen politischen System zu verstehen und haben auf dieses einen mehr oder minder starken transformierenden Einfluss.24 In anderen Worten lassen sich direktdemokratische Instrumente auf unterschiedliche Weise im «Dreieck der Verfassungsorgane»– Legislative, Exekutive, Judikative – eines jeweiligen politischen Systems verorten und mit ihrem jeweiligen Ergänzungsstatus gewichten (Schiller 2002: 18). Sprechen wir von direkter Demokratie, so meinen wir hier die «Gesamtheit der Instrumente direktdemokratischer Entscheidfindung» (Jung 2001: 13), die sich in unterschiedlichen Systemen auf verschiedene Weisen manifestieren. Wie Wahlen durch Wahlgesetze geordnet werden, so sind auch für direktdemokratische Instrumente Verfahrensregeln erforderlich, die diese Instrumente nicht nur zwischen unterschiedlichen politischen Systemen, sondern auch innerhalb des gleichen politischen Systems differenzieren.25 Diese Verfahrensregeln können dabei sehr unterschiedlich ausgestaltet sein und den Akteuren – seien dies Regierung, Opposition, Parteien oder sei dies die Gesamtheit der Stimmberechtigten – ein unterschiedliches Mass an Entscheidungsmacht zuschreiben. Im Folgenden sollen daher die wichtigsten Kriterien, nach denen sich direktdemokratische Instrumente unterscheiden lassen, dargestellt und darauf aufbauend eine weiterreichende Typologie direktdemokratischer Instrumente eingeführt werden. 2.1  Typen direktdemokratischer Verfahren
Das gestiegene Interesse an direktdemokratischen Verfahren führte in den letzten Jahren zu dem Versuch, die verschiedenen Instrumente der direkten Demokratie zu kategorisieren und eine solche Abstimmungstypologie auch in übergeordnete Typologien demokratischer Systeme, wie z. B. Lijpharts (1999, 2012) Unterscheidung in Mehrheits- und Konsensusdemokratie, einzubetten.26 Dabei können, je nach Herangehensweise, verschiedene Kriterien zur Anwendung kommen. Als wegweisend gilt der Typologisierungsversuch von Smith (1976), der direktdemokratische Verfahren zum einen danach unterscheidet, welchen Grad an Kontrolle in Bezug sowohl auf die Auslösung als auch die genaue Fragestellung die Regierenden über das Verfahren haben, und zum anderen, ob diese hegemoniale oder antihegemoniale Konsequenzen für das Regime haben können.27 Ein weiterer Kategorisierungsversuch, der auch übergeordnete Typologien demokratischer Systeme berücksichtigt, stammt von Jung (2001: 90). Aufbauend auf den Arbeiten von Smith (1976), Moeckli (1991, 1994) und anderen (etwa Hamon 1995, Setälä 1999, Suksi 1993, Uleri 1996) schlägt Jung zusammenfassend vier hauptsächliche Kriterien zur Klassifikation vor: 1) die auslösende Instanz (Wer verfügt über die Kompetenz zur Auslösung einer Abstimmung?); 2) die Urheberschaft des Abstimmungsgegenstands (Wer ist der Urheber der zur Abstimmung stehenden Vorlage?); 3) den Charakter der Abstimmung (Hat die Abstimmung Zustimmungs- oder Entscheidungscharakter, d. h. findet sie vor oder erst nach einem Parlamentsentscheid statt?); sowie 4) die Regeln der Abstimmung (Nach welchen Regeln wird entschieden? Gilt das einfache Mehr oder existieren bestimmte Zustimmungs- und/oder Beteiligungsquoren?). Für eine Typologisierung direktdemokratischer Instrumente, die hier vor allem dazu dienen soll, die in der Schweiz existierenden Volksrechte zu kategorisieren und gleichzeitig in die übergeordnete Lijphart'sche Demokratietypologie einzubetten und somit Vergleiche mit anderen Systemen zu erlauben, fokussieren wir auf die Kriterien 1, 2 und 4, da diese die Charakteristika der verschiedenen direktdemokratischen Instrumente hinsichtlich Form und Wirkung hinreichend beschreiben.28 In Bezug auf das erste Kriterium können eine Reihe von Merkmalsausprägungen festgehalten werden, die sich wiederum in unterschiedlicher Weise in die Demokratietypologie Lijpharts (1999, 2012) einbetten lassen. Als auslösende Instanz kommen beispielsweise die Regierung, eine Parlamentsmehrheit respektive -minderheit in einer oder beiden Kammern, das Staatsoberhaupt, eine bestimmte Anzahl von Regionalparlamenten oder -regierungen oder das Volk, sprich ein Teil der Stimmbürgerschaft, infrage. Setzt man diese verschiedenen Ausprägungen in einen Zusammenhang mit dem Grad des Konkordanz- respektive Mehrheitscharakters eines Systems, so lassen sich diese in zwei grobe Kategorien zusammenfassen: Auf der einen Seite liegt das Auslöserecht bei den «Regierenden», was tendenziell dem Mehrheitsprinzip entspricht, auf der anderen Seite liegt es beim «Volk»29, was eher dem Konkordanz- oder Machtteilungsprinzip entspricht. Wie Vatter (2014) sprechen wir in Anlehnung an Suksi (1993) und Hug (2004) von «kontrollierten» respektive «passiven» Referenden, wenn Regierung oder Parlamentsmehrheit als auslösende Instanz fungieren, und von «unkontrollierten» respektive «aktiven» Referenden, wenn eine Minderheit der Stimmbürgerschaft bzw. eine parlamentarische Minderheit ein Referendum auslösen kann.30 Plebiszite31, die in der Regel durch die Regierung ausgelöste Ad-hoc-Referenden sind, für die keine Verfassungs- oder andere gesetzliche Provisionen bestehen, und normierte, durch die Regierungsmehrheit ausgelöste fakultative Referenden sind den passiven, kontrollierten Referenden zuzuordnen. Volksinitiativen und fakultative Referenden, die vonseiten des Volkes respektive einer Minderheit lanciert werden können, stellen hingegen Formen aktiver, unkontrollierter Referenden dar.32 Auch die Verfassung respektive andere Gesetzgebung kann als auslösende Instanz fungieren, wenn eine Abstimmung (verfassungs-)rechtlich vorgeschrieben und die Auslösung somit automatisch erfolgt. Laut Vatter (2014) nehmen solche obligatorisch genannten Referenden eine mittlere Stellung zwischen kontrollierten und unkontrollierten Referenden ein, da einerseits die Regierung hier das Agenda-Setting (siehe unten) übernimmt, sie andererseits aber keine Kontrolle über die Durchführung der Abstimmung hat, da diese automatisch stattfindet. Laut Setälä (2006: 711) zeichnen sich obligatorische Referenden somit durch mittlere Regierungskontrolle aus.33 Analog zu dieser dichotomen Kategorisierung lassen sich auch die Ausprägungen des zweiten Kriteriums, der Urheberschaft des Abstimmungsgegenstands, in zwei Kategorien zusammenfassen: Entweder stammt die Vorlage vom Volk oder von den Regierenden. Dies ist ein nicht zu vernachlässigendes Kriterium. Es unterscheidet danach, ob das Volk lediglich sein Veto gegen parlamentarisch verabschiedete Gesetze einlegen kann oder ob es selbst aktiv die Agenda mitzubestimmen und gesetzesinitiativ tätig zu werden vermag. Letzteres stellt dabei das stärker machtteilungsorientierte Instrument dar, da hier das Volk auch gegen den Willen der Regierungsseite Themen auf die politische Agenda setzen und Entscheidungen erzwingen kann. Eine Gesetzes- oder Verfassungsinitiative, bei der eine Minderheit die Agenda bestimmt, erlaubt der Regierung also weniger Kontrolle als ein fakultatives Referendum oder Plebiszit, bei denen die Mehrheit die alleinige Agenda-Setting-Macht innehat. Zentral ist neben dem ersten und zweiten auch das vierte genannte Kriterium34, dessen Merkmalsausprägungen sich danach differenzieren lassen, ob Entscheidungen mit einfacher Mehrheit der gültigen abgegebenen Stimmen getroffen werden können, oder aber ob bestimmte Quoren gelten. Letztere lassen sich wiederum in Zustimmungs- und Beteiligungsquoren unterteilen. Mit Beteiligungsquoren soll eine gewisse Repräsentativität und Legitimität des Entscheids gewährleistet werden, indem für die Gültigkeit einer Abstimmung vorausgesetzt wird, dass sich ein bestimmter Prozentsatz der Wahlberechtigten beteiligt. Bei Zustimmungsquoren geht es hingegen um die «Maximierung der Zustimmung». Als Beispiele sind eine Zweidrittelmehrheit oder eine Mehrheit der Abstimmenden in einer Mehrheit der Gliedkörperschaften (Schweiz: Kantone) zu nennen, derer es bedarf, damit...


Thomas Milic (* 1971), Studium der Politikwissenschaften, Allg. Geschichte und Publizistik an der Uni Zürich. Dissertation zum Zusammenhang zwischen Links-rechts-Selbsteinschätzung und dem Stimmverhalten der Schweizer.
Bianca Rousselot (* 1976), Studium der Politikwissenschaft. Nach Projektleitungsaufgaben am Forschungsinstitut gfs.bern Forschungstätigkeit an den Universitäten Zürich und Bern. Derzeit lebt und arbeitet sie in Washington DC.
Adrian Vatter (* 1965), ist ordentl. Prof. für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Schweizer Politik an der Universität Bern. Weitere Forschungsschwerpunkte: politische Institutionen der Machtteilung und die empirische Demokratieforschung. Zahlreiche Publikationen.


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