Mina | Der Hintermann | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Mina Der Hintermann

Paddy Meehan 1 - Thriller
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-12504-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Paddy Meehan 1 - Thriller

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

ISBN: 978-3-641-12504-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn die Vergangenheit zum Verhängnis wird
In Glasgow wird der dreijährige Brian Wilcox von zwei Elfjährigen brutal ermordet. Trotz der erdrückenden Beweislast kann die junge Journalistin Paddy Meehan nicht glauben, dass die beiden Jungen die Tat aus eigenem Antrieb begangen haben. Auffällige Parallelen zu einem Mordfall, der Jahre zurückliegt, lassen sie nicht ruhen. Von der Polizei belächelt, begibt sie sich auf Spurensuche und kommt schon bald dem wahren Täter gefährlich nahe ...

Denise Mina, geboren 1966 in Glasgow, studierte Jura und spezialisierte sich auf den Umgang mit psychisch gestörten Straftätern. 1998 erschien ihr erster Roman. Für ihr Werk wurde sie mit dem Dagger Award und dem Barry Award ausgezeichnet, 2012 und 2013 gewann sie den Theakstons Crime Novel of the Year Award.
Mina Der Hintermann jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


4


Die Totenmesse


Es war halb fünf, und das letzte Stück der Sonnenscheibe lugte noch über den Horizont und warf sein schwindendes gelbes Licht durch die schmutzigen Fensterscheiben des oberen Decks. In den hinteren drei Reihen saßen Jugendliche, die Jungs knufften sich gegenseitig und die schüchternen Mädchen rauchten, grinsten und taten so, als sähen sie gar nicht hin.

Paddy saß allein und aß verstohlen etwas aus einer Plastikdose. Die drei hartgekochten Eier hatten den ganzen Tag in ihrer Tasche im warmen Büro gestanden und waren an manchen Stellen zäh und an anderen staubtrocken. Sie hatte nichts, womit sie den faden Nachgeschmack hätte hinunterspülen können, außer einer sauren, in Viertel geschnittenen Grapefruit. Sie würde den schwarzen Kaffee trinken, wenn sie von der Kirche zurückkämen. Die Diät war in Amerika nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengestellt worden: drei harte Eier, Grapefruit und schwarzer Kaffee sollten dreimal am Tag zu einer chemischen Reaktion führen, die garantiert bis zu sechs Pfund Fett pro Woche verbrannte. Sie malte sich die Zeit aus, wenn sie ihr Zielgewicht erreicht haben würde. Schon in einem Monat würde sie Terry Hewitt sagen können, er solle sich doch verpissen. Sie sah sich mit einer noch ungewissen, aber besseren Frisur in der Press Bar stehen. Sie trug den engen grünen Rock, den sie sich voll Optimismus bei Chelsea Girl gekauft hatte.

»Eigentlich bin ich gar nicht mehr dick, Terry.«

Es war nicht besonders witzig, brachte zwar rüber, was sie sagen wollte, klang aber nicht sehr überzeugend.

»Wissen Sie was, Terry, ich würde sagen, letzten Endes sind Sie jetzt dicker als ich.«

Das war besser, aber immer noch nicht sehr gut. Sollten die Journalisten sie so etwas sagen hören, dann wüssten sie, dass ihr wichtig war, wie viel sie wog, und man würde sie ewig damit aufziehen.

»Terry, Sie haben ein Gesicht, als wären zwei Blecheimer zusammengestoßen.«

Das würde funktionieren. Paddy grinste. Sie würde den grünen Minirock tragen, spitze Schuhe und einen engen schwarzen Rolli. Eine Aufmachung, bei der kein Schönheitsfehler unbemerkt blieb. Um das tragen zu können, müsste sie wirklich schlank sein. Sonst trug sie anliegende schwarze Röcke nur mit dicken Strumpfhosen und Pullovern, die so weit waren, dass sie ihre Speckröllchen verbargen.

Paddy wusste, dass sie dick war, schon bevor Terry Hewitt etwas dazu gesagt hatte, sonst hätte sie es nicht mit der ekelhaften Mayo-Clinic-Diät versucht, aber es kränkte sie, dass ihr Übergewicht das Einzige war, das er an ihr bemerkt hatte. Die Leute der Scottish Daily News waren ein neues Publikum für sie, und sie hoffte, hier, wo ihre etwa siebzig Verwandten nicht alle vor ihr rangierten, könnte sie sein, wer sie sein wollte. Und in diesem neuen Leben wollte sie nicht schon wieder nur das kluge, pummelige Mädel sein.

Als sie das letzte Stück Grapefruit gegessen hatte, schloss sie die Dose mit dem weichen Plastikdeckel und steckte sie in ihre Tasche, war sich aber bereits einer anderen Gefahr bewusst: Es würde jede Menge zu essen geben, wenn sie vom Trauergottesdienst zurückkamen, Berge von Käsebrötchen, heiße Würstchen in Blätterteig, dicke Scheiben geräucherten Schinken auf weichem Brot mit kleinen Stückchen harter Butter. Sie musste vermeiden, auch nur in deren Nähe zu kommen, wenn sie sich an ihre Diät halten wollte. Und sie durfte auch nicht in die Nähe von Zuckergussringen, saftigen Mohrenköpfen mit Kokosnussraspeln, marmeladegefüllten Keksen, gefüllten Muffins oder der Biskuitrolle mit Eis kommen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sich plötzlich eine Hand fest in ihre Schulter krallte.

»Du bist doch die kleine Paddy Meehan, oder?« Bis auf den Tonfall klang es wie eine Männerstimme.

Paddy wandte sich um und sah sich einer Frau mit einem harten, lederartigen Gesicht gegenüber. »Oh, hallo, Mrs. Breslin. Gehen Sie zu Granny Annies Begräbnis?«

»Ja.«

Mrs. Breslin hatte gleich nach Beendigung der Schule mit Paddys Mutter im Konsumladen von Rutherglen zusammengearbeitet. Sie hatte sieben Kinder, fünf Jungs und zwei Mädchen, die den anderen jungen Leuten der Gegend alle ein bisschen unheimlich vorkamen. Es gab ein Gerücht, die Breslin-Kids seien für das Feuer verantwortlich gewesen, in dem der Mülleimerunterstand der Heilsarmee in Flammen aufging.

Mrs. Breslin steckte sich am Stummel ihrer Zigarette eine neue an. »Gott gebe ihr Frieden, der lieben Granny Annie.«

»Ja«, sagte Paddy. »Sie war eine wunderbare Frau, das stimmt.«

Sie vermieden, einander in die Augen zu sehen. Granny Annie war nicht wunderbar gewesen, aber sie war tot, und da gehörte es sich nicht, etwas anderes zu sagen. Mrs. Breslin nickte und sagte ja, das sei sie gewesen, Gott segne sie.

»Ich habe gehört, du bist jetzt Journalistin?«

»Nein, keine Journalistin«, sagte Paddy, freute sich aber über die falsche Titulierung. »Ich mache Botengänge bei der Daily News. Aber ich hoffe, später mal Journalistin zu werden.«

»Na, du bist ja ’n Glückspilz. Ich hab jetzt vier, die aus der Schule sind, und keiner kann Arbeit finden. Wie hast du das gekriegt? Hat dich jemand empfohlen?«

»Nein, ich hab einfach angerufen und gefragt, ob sie Leute einstellen. Ich hatte Artikel für die Schülerzeitung gemacht und so. Ich habe ihnen ein paar Sachen gegeben, die ich geschrieben hatte.«

Mrs. Breslin beugte sich vor, und ihr nach Rauch stinkender Atem brachte Paddy fast genau so wirksam zum Ersticken wie ein Kissen. »Nehmen die noch Leute an? Könntest du ein gutes Wort für meinen Donal einlegen?«

Donal hatte immer ein Messer bei sich und hatte sich, seit er zwölf war, selbst Tätowierungen in die Haut geritzt.

»Sie nehmen jetzt niemand mehr.«

Mrs. Breslin kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf leicht ab. »Na gut«, sagte sie gehässig. »Hilf mir beim Aufstehen. Wir sind da.«

Mrs. Breslin war dicker, als Paddy sie in Erinnerung hatte. Ihre schmalen Schultern und ihr Gesicht täuschten einen über die immensen Ausmaße ihres Gesäßes. Um dem Platz zu bieten, hingen die Schultern ihres hellgrünen Regenmantels bis zu den Ellbogen herunter. Paddy betrachtete Mrs. Breslin, die die schmale Treppe hinunterging und dabei von einer Seite zur anderen Seite schwankte, als der Bus eine Kurve nahm. Paddy fragte sich, ob sie auch so dick sein würde, wenn sie sieben Kinder zur Welt gebracht hätte, oder genauso blind in Bezug auf die wahren Eigenschaften ihrer Sprösslinge.

Der Bus hielt mitten auf der Straße an und blockierte den Verkehr. Paddy half Mrs. Breslin beim Aussteigen und führte sie zwischen den Abgasen der wartenden Autos hindurch zum Straßenrand.

Alle Katholiken der Gegend waren in Schwarz vor Granny Annies winzigem Haus zusammengekommen. Sie stiegen aus Autos, kamen um die Ecke oder die Hauptstraße herunter. Wie der Dampf einer Viehherde stiegen Rauch und dunstiger Atem über dem mit Rauhreif bedeckten, silbern glänzenden Asphalt auf.

In einer Seitenstraße fünfzig Meter weiter sah Mrs. Breslin jemanden stehen, der ihr mehr Ärger bereitete als Paddy, und sie ging hin, um ihm die Laune zu verderben.

Paddy hielt Ausschau nach Seans kurzem Haarschnitt, winkte den Cousins auf der anderen Straßenseite zu und traf zufällig auf den Blick von Mrs. McCarthy, einer übermäßig gefühlsseligen Nachbarin, die jedes Mal, wenn sie Paddy sah, vor Freude weinte. Mrs. McCarthy hatte unaufgefordert einen Monat lang darum gebetet, dass Paddy die Stelle bei der Daily News bekäme, und fand nun, sie habe ein besonderes Anrecht auf Paddy, weil sie den Job für sie an Land gezogen hatte. Mrs. McCarthy deutete ein »Gott sei Dank« mit den Lippen an, und Paddy nickte steif, war aber dankbar, als sich eine Hand nach ihr ausstreckte. Sean Ogilvy, groß und dunkelhaarig mit geraden Schultern, ging leicht in die Knie und drückte Paddys Hand.

»Verdammt noch mal, ich hab die blöde Mrs. Breslin im Bus getroffen, und dann hat Mrs. McCarthy mich gesehen. Gestern Abend hat mich der verflixte Matt the Rat erwischt, und ich musste die ganze Geschichte mit Paddy Meehan wieder über mich ergehen lassen.«

»Früher hast du aber gern über den Fall Paddy Meehan geredet.«

»Na ja, aber jetzt langweilt er mich.« Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen, blickte sich in der Menge um und bemerkte viele aus ihrer eigenen Großfamilie. »Ich hab’s satt, jeden zu kennen und von jedem gekannt zu werden.«

»Warum interessiert dich Paddy Meehan nicht mehr? Ich dachte, du würdest versuchen, ein Interview mit ihm zu machen.«

»Man wächst aus solchen Sachen raus, weißt du?«, sagte sie verlegen. »Ich habe kein Interesse mehr daran.«

»Wie du willst.« Er zog Paddy einen ihrer roten Wollhandschuhe aus, steckte ihn in die Tasche ihres Dufflecoats und legte zur Versöhnung seine warme Hand auf ihre bloße Haut. »Ich dachte, du wolltest ihn treffen, wo du doch so viel über die ganze Geschichte weißt und sie schon so lange verfolgst.«

»Er ist nichts als ein dicker alter Mann«, sagte sie abschätzig und wandte den Blick ab. »Er kommt in die Pubs in der Stadt. All die Trinker bei der Zeitung kennen ihn. Ich will nichts damit zu tun haben.«

»Na, na«, sagte Sean und drückte belustigt ihre Hand, »brauchst ja deswegen nicht ungehalten zu werden.«

Sie lächelten über die alberne Ausdrucksweise, lehnten die Schultern aneinander und betrachteten die Menge, dachten dabei aber eigentlich nur an den anderen. Wenn Sean da war, hatte Paddy ein warmes Gefühl in der Brust. Sie kam sich...


Mina, Denise
Denise Mina, geboren 1966 in Glasgow, studierte Jura und spezialisierte sich auf den Umgang mit psychisch gestörten Straftätern. 1998 erschien ihr erster Roman. Für ihr Werk wurde sie mit dem Dagger Award und dem Barry Award ausgezeichnet, 2012 und 2013 gewann sie den Theakstons Crime Novel of the Year Award.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.