E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Minato Geständnisse
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-18321-9
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-18321-9
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kanae Minato, geboren 1973 in Japan, begann ihre Karriere als Schriftstellerin mit dem Bestseller 'Geständnisse', der erfolgreich verfilmt wurde. Ihre Romane und Kurzgeschichten wurden vielfach ausgezeichnet.
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1
Der Heilige
Wenn ihr eure Milch ausgetrunken habt, gebt den Karton bitte zurück in den Kasten. Achtet darauf, dass ihr ihn in das mit eurer Nummer gekennzeichnete Fach stellt, und geht dann wieder an euren Platz. Wie es aussieht, seid ihr schon fast alle fertig. Und da heute der letzte Schultag ist, sind wir jetzt am Ende der »Milchzeit« angelangt. Ich danke euch allen für eure Teilnahme. Wie ich höre, fragen sich manche von euch, ob das Programm nächstes Jahr fortgesetzt wird, aber meines Wissens ist das nicht vorgesehen. Wir sind dieses Jahr als repräsentative Mittelschule für die Kampagne des Gesundheitsministeriums zur Förderung von Milchprodukten ausgewählt worden. Wir wurden angewiesen, jeden von euch täglich eine bestimmte Menge Milch trinken zu lassen, und nun sind wir alle gespannt auf die Schuluntersuchung im April, bei der sich herausstellen wird, ob euer Wachstum und eure Knochendichte über dem landesweiten Durchschnitt liegen.
Ja, vermutlich könnte man sagen, dass wir euch als Versuchskaninchen benutzt haben, und sicher war dieses Jahr nicht sehr angenehm für diejenigen unter euch, die keine Laktose vertragen oder einfach keine Milch mögen. Aber die Schule wurde nach dem Zufallsprinzip für das Programm ausgewählt, und jede Klasse wurde täglich mit den Milchkartons beliefert, in einem Kasten mit nummerierten Fächern, um jeden Schüler anhand seiner Platznummer zu identifizieren. So konnten wir genau verfolgen, wer die Milch getrunken hat und wer nicht. Aber warum macht ihr jetzt alle so ein finsteres Gesicht, wo ihr eben noch ganz zufrieden eure Milch getrunken habt? Was kann verkehrt daran sein, wenn man gebeten wird, jeden Tag ein bisschen Milch zu trinken? Ihr steht an der Schwelle zur Pubertät. Eure Körper werden wachsen und sich verändern, und ihr wisst, dass Milchtrinken gut für den Knochenaufbau ist. Aber wie viele von euch trinken zu Hause Milch? Und das Kalzium stärkt nicht nur die Knochen, ihr braucht es auch für die Entwicklung eures Nervensystems. Kalziummangel kann euch nervös und zappelig machen.
Es sind nicht nur eure Körper, die sich entwickeln. Ich weiß, was ihr so anstellt. Mir wird vieles zugetragen. Sie zum Beispiel, Herr Watanabe, Sie kommen aus einer Familie, die ein Elektronikgeschäft besitzt, und ich weiß, dass Sie ausgetüftelt haben, wie man einen Großteil der Verpixelung in Filmen für Erwachsene auflösen kann. Sie haben die Filme an andere Jungen weitergeleitet. Tja, ihr werdet allmählich erwachsen. Eure Interessen wandeln sich zugleich mit euren Körpern. Ich weiß, das war jetzt nicht gerade das beste Beispiel, aber ich meine damit, ihr kommt langsam in die »rebellische Phase«, wie wir das nennen. In dieser Phase sind Jungen und Mädchen oft sehr empfindlich, fühlen sich wegen jeder Kleinigkeit gekränkt und sind leicht durch andere beeinflussbar. Ihr werdet anfangen, allem und jedem nachzueifern, während ihr herauszufinden sucht, wer ihr seid. Und ehrlicherweise müsst ihr wohl zugeben, dass viele von euch diese Veränderungen schon an sich selbst bemerken. Gerade habt ihr ein gutes Beispiel dafür gesehen: Bis vor Kurzem haben die meisten von euch die Gratismilch als willkommene Dreingabe angesehen. Aber seit ich euch gesagt habe, dass es ein Experiment war, denkt ihr plötzlich anders darüber, nicht wahr?
Allerdings ist das nicht weiter verwunderlich – es entspricht der menschlichen Natur, seine Meinung zu ändern, und nicht nur in der Pubertät. Tatsächlich bestätigen mir die anderen Lehrer übereinstimmend, dass eure Klasse jetzt ruhiger und umgänglicher ist als die restlichen aus eurer Altersgruppe. Vielleicht haben wir das ja der Milch zu verdanken.
Aber ich habe euch heute noch etwas Wichtigeres mitzuteilen. Ich wollte euch ankündigen, dass ich die Schule zum Monatsende verlassen werde. Nicht, um an eine andere Schule zu wechseln, nein, ich ziehe mich aus dem Lehrerberuf zurück. Ihr seid also die letzten Schüler, die ich je unterrichten werde, und ich werde mich für den Rest meines Lebens an euch erinnern.
Jetzt beruhigt euch mal wieder. Ich weiß eure Reaktion zu schätzen – manche von euch klingen wahrhaftig so, als täte es ihnen leid, dass ich gehe. Wie bitte? Ob mein Rückzug etwas mit dem zu tun hat, was hier kürzlich passiert ist? Ja, ich denke schon, und ich würde mir heute gern ein wenig Zeit nehmen, um mit euch darüber zu sprechen.
Nun, da ich gehen werde, habe ich noch mal darüber nachgedacht, was es für mich bedeutet, Lehrerin zu sein.
Ich habe den Beruf aus keinem der üblichen Gründe ergriffen – weil ich selbst eine fabelhafte Lehrerin gehabt hätte, die mein Leben verändert hat, oder so etwas in der Art. Ich glaube, ich bin nur Lehrerin geworden, weil ich aus einer sehr armen Familie stamme. Von klein auf habe ich von meinen Eltern zu hören bekommen, sie könnten es sich nicht leisten, mich studieren zu lassen – zumal es bei einem Mädchen ohnehin verschwendetes Geld wäre –, aber genau das hat mich angespornt, unbedingt studieren zu wollen. Ich bin gern zur Schule gegangen und war eine gute Schülerin. Schließlich erhielt ich ein Stipendium – vielleicht nur, weil ich so arm war – und schrieb mich an der staatlichen Universität in meiner Heimatstadt ein. Ich studierte Naturwissenschaften und begann sogar noch vor dem Examen, in einer Paukschule zu unterrichten. Ja, ich weiß, wie ihr euch alle über die Paukschule beklagt, dass ihr euch nach der regulären Schule immer so mit dem Mittagessen beeilen müsst, nur um dann zu den Nachhilfestunden zu hetzen, die bis zum Abend dauern. Aber ich fand immer, ihr habt unglaubliches Glück, dass eure Eltern sich genügend kümmern, um euch diese Chance auf den besten Start ins Leben zu geben.
Jedenfalls verzichtete ich nach dem Examen auf ein Graduiertenstudium, das meine erste Wahl hätte sein können, und beschloss, Lehrerin zu werden. Die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz mit geregeltem Einkommen gefiel mir, vor allem aber hätte ich das Stipendium zurückzahlen müssen, wenn ich nicht Lehrerin geworden wäre. Also unterzog ich mich kurz entschlossen dem Test, um die Zulassung zu erhalten. Einige von euch werden sich nun wohl fragen, ob das wirklich die richtigen Motive für den Lehrerberuf waren, aber ich kann euch versichern, ich habe immer versucht, bei der Arbeit mein Bestes zu geben. Viele Leute vergeuden ihr Leben mit Klagen, dass sie nie ihre wahre Berufung gefunden haben. Wahrscheinlich aber haben die meisten von uns gar keine. Warum also nicht einfach das wählen, was sich einem anbietet, und sich dann von ganzem Herzen dafür einsetzen? Das habe ich getan, und ich bereue es nicht.
Nun, manche von euch wundern sich vielleicht, dass ich mich für die Mittelschule entschieden habe und nicht für die Oberschule. Ich nehme an, man könnte sagen, ich wollte mich an vorderster Front bewähren. Ich wollte Schüler unterrichten, die noch der Schulpflicht unterliegen. Von der Oberschule kann man abgehen, da ist die Aufmerksamkeit der Schüler oft schon von anderem in Anspruch genommen. Ich wollte mit Schülern arbeiten, die sich noch ganz und gar dem Lernen widmen, die keine andere Wahl haben – das kam meiner Vorstellung von Berufung schon sehr nah. Vielleicht ist es schwer zu glauben, doch es gab eine Zeit, da habe ich meinen Beruf mit Leidenschaft ausgeübt.
Herr Tanaka und Herr Ogawa – ich wüsste nicht, was daran so besonders komisch sein sollte.
1998 wurde ich Lehrerin, und meine erste Stelle – noch in der praktischen Ausbildung – war an der Mittelschule von M. Dort war ich drei Jahre, dann setzte ich ein Jahr aus, worauf ich hierher kam, an die Mittelschule von S. Ich fand es angenehm, so weit entfernt von den großen Städten der Präfektur zu sein, es war eine ruhige, entspannte Arbeitsatmosphäre. Ich bin jetzt vier Jahre hier, also war ich insgesamt nur sieben Jahre als Lehrerin tätig.
Ich weiß, dass die Mittelschule von M. eure Neugier weckt. Es ist die Schule von Masayoshi Sakuranomi, und ihr habt ihn bestimmt kürzlich noch im Fernsehen gesehen … Jetzt beruhigt euch, bitte. Ist er denn so berühmt? Ob ich ihn kenne? Nun, wir waren drei Jahre lang Kollegen, also sollte ich ihn wohl kennen, aber damals war er noch keine solche Berühmtheit. Man hat ihn ja förmlich zum Superstar hochgejubelt, und er ist in den Medien so allgegenwärtig, dass ihr sicher viel mehr über ihn wisst als ich.
Was? Sie haben die Geschichte nicht mitbekommen, Herr Maekawa? Sehen Sie denn nicht fern? Na gut, ich werde sie Ihnen erzählen. Sakuranomi war als Schüler der Anführer einer Gang, und als er in seinem zweiten Jahr in der Oberschule war, ist er auf einen Lehrer losgegangen. Er wurde der Schule verwiesen und verließ das Land, und die nächsten Jahre trieb er sich offenbar in der Welt herum und setzte sich allen möglichen Gefahren aus, geriet immer wieder in Schwierigkeiten. Er wurde Zeuge von Kriegen und blutigen Konflikten, und er lebte unter Menschen, die in bitterster Armut ausharren mussten. Aus all diesen Erfahrungen lernte er zu begreifen, wie falsch er sich bis dahin verhalten hatte, und bereute seine gewalttätige Vergangenheit. Er kehrte nach Japan zurück, holte seinen Schulabschluss nach und schrieb sich an einer renommierten Universität ein. Nach dem Examen wurde er Englischlehrer an einer Mittelschule. Wie erzählt wird, wollte er den Schülern helfen, die Art von Fehlern zu vermeiden, die er in ihrem Alter gemacht hatte. Vor einigen Jahren fing er an, abends die Videospielhallen aufzusuchen, in denen die Jugendlichen nach der Schule herumhängen und Unsinn treiben. Mit jedem von ihnen suchte er das Gespräch, sprach mit ihnen über Selbstachtung und bot ihnen eine Chance auf einen Neubeginn an. Seine...