E-Book, Deutsch, 223 Seiten
Minelli Keiner bleibt zurück
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7026-6003-1
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jugendbuch über Angst und Stress bei der Berufswahl von Teenagern, Freundschaft und Familie als Rückhalt, Erwartungsdruck und Konflikte, aber auch Solidarität als Orientierungshilfe
E-Book, Deutsch, 223 Seiten
ISBN: 978-3-7026-6003-1
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig 'Kreatives Schreiben' und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
Autoren/Hrsg.
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Tekkie Lax
Ich bin Robert L. M. der Dritte, kein Scherz. Meine beiden Mittelnamen gebe ich nie mehr jemandem preis, und ich habe auch mit Berisha eine Übereinkunft getroffen, dass diese Namen nirgendwo erscheinen. Das musste er mir, oder besser meinen Eltern, versprechen. Denen hab ich nämlich gesagt, dass ich das so will, weil es für mich überlebenswichtig ist, und sie haben mir geglaubt.
Keiner heißt so wie ich. Total bescheuert. Da können mir meine Eltern noch so oft einzubläuen versuchen, dass das Tradition hat, dass ich da noch einmal ganz, ganz stolz drauf sein werde, dass ich meinen eigenen Sohn auch einmal … blablabla.
Ich bin auf anderes stolz. Zum Beispiel, dass ich den diesjährigen Tekkie-Wettbewerb als Zweitplatzierter gewonnen hab. Seither ruft mich zwar meine Mutter jedes Mal zu sich, wenn sie glaubt, von einem Trojaner bedroht zu sein oder wenn sie Phishing befürchtet – die Fachbegriffe lernt sie, glaub ich, um mir ihre Wertschätzung zu zeigen –, aber immerhin hat sie gecheckt, dass Tekkies etwas draufhaben. Auch fragen die meisten meiner Schulkollegen mich, wenn sie ein Computerproblem haben, das über ihre geistigen Fähigkeiten hinausgeht. Sogar Berisha hat mich schon um Hilfe gebeten beim schulinternen Datenserver. Eelamaran hat mir über die Schulter geguckt, als ich das NAS neu aufgesetzt habe. Mir über die Schulter gucken macht er fast immer, wenn’s um Technik oder Computer geht. In den MINT-Fächern bin ich der Schlauste. Das hat Eelamaran schnell gemerkt, darin ist er stark. Keine Ahnung, was er sonst draufhat, seine Talente liegen eindeutig außerhalb des Schulunterrichts. In der Familie, vielleicht. Wenn du mich fragst, dann ist sein einziges Talent in der Schule, sich an die Richtigen ranzuhängen, die, die ihm die Hausaufgaben erklären, dafür hat er ein Gespür. Manchmal finde ich ihn ein bisschen kindisch. Aber er ist mein Freund. Immerhin verbringe ich schon fast meine gesamte Schulzeit mit ihm. Ihn kenn ich in- und auswendig.
„Hau ab, Eelamaran!“, sag ich und er antwortet wie erwartet, ich solle selber abhauen. Wenn sich die anderen im Werkunterricht noch die Kleberreste von ihren Fingern klauben, flimmern bei mir schon die Lämpchen. Ich verbaue grad verschiedene Steuergeräte und codiere sie so, dass die Lämpchen in der von mir beabsichtigten Abfolge aufleuchten. Eelamaran zieht seinen Stuhl zu mir heran. Ich habe aber keine Lust, dass er mir jetzt auf die Pelle rückt. Ich hantiere mit Dioden. Wenn ich den anderen gegenüber mit Anoden und Kathoden komme, schütteln die bloß den Kopf und kleben sich die Fingerspitzen voll mit Sekundenleim, diese Kinder.
„Ruhig Blut, Tekkie“, sagt er versöhnlich. Ich grinse ihm kurz zu, alles im Lot zwischen uns.
Zu Hause bin ich aber nicht nur der computertechnisch Begabte, ich bin der junge Meisterpianist. Bin mein Bester, unser aller glänzende Zukunft. Mein Weg ist vorgegeben: zwei Jahre Sek, dann Gymnasium, dann Studium, dann Einstieg in die Firma als Bauingenieur und irgendwann Stabsübergabe. Dann bin ich der nächste Chef und kann meinerseits meinem Erstgeborenen den Weg vorgeben.
Mist.
In den Augen meiner Eltern werde ich einmal eine kapitale Größe. Dabei ist eh klar, wer diesen Platz für sich reklamiert. Wenigstens in unserer Klasse. Blerta. Blerta geht jeden Schultag als weiblicher Moses durchs Rote Meer, blitzgescheit ist die, hat zwar unglaubliche soziale Defizite, wenn’s um Gleichaltrige geht, aber ehrlich: Irgendwann wird sie einen Teil dazu beitragen, diese Welt zu retten. Da bin ich mir sicher, wir alle sind uns das.
Ich bin nur Robert L. M. der Dritte, und heute werde ich vierzehn.
Meine Mutter hat allen, die auf meiner Liste stehen, Einladungen geschickt. Sie sagt, das lässt sie sich nicht nehmen. Ich bin vierzehn, aber meine Mutter fertigt für mich die Einladungen auf perlmuttschimmerndem Papier und steckt sie in sauteure, goldfarbene Umschläge. Damit auch alle ganz bestimmt wissen, dass es eine super Fete wird.
Früher, als ich noch klein war, hat sie Themenpartys für mich organisiert. Piratenschatzsuche. Weltraumabenteuer. Tiere im Zoo. Später ist sie dazu übergegangen, fremde Leute beizuziehen. Berufsclowns. Tischzauberer. Amphibienzüchter. Als Unterhaltungsprogramm. Shows, von denen sie sich Spannung und einen Lerneffekt für die Kinder versprach.
Dann wurde es anspruchsvoller. An die Party mit der japanischen Trommel-Band erinnere ich mich lieber nicht. (Wer hört so was?) Zu peinlich.
Anderen hatte ich immer alles zu bieten, seit meine Eltern dieses Haus gebaut haben am Rande der Landwirtschaftszone und meine Mutter unser Zuhause neu „Anwesen“ nennt und den Garten „Anlage“. Endlos-Rasen mit Golfabschlagplatz. Indoor- und voll beheizbarer Outdoor-Swimmingpool. Im Keller ein Gymnastikraum. Als ich klein war, gab’s schon ein Karussell mit Schwänen und Elefanten und eine Hüpfburg in Blau, gefolgt von einem gigantischen Trampolin. Das steht noch immer draußen. Und auch eine Nanny hatte ich, die mich lange, viel zu lange, zur Schule fuhr. Eelamaran hat das alles brav mitgemacht. Ich seh ihn noch, fünfzig Centimeter hoch im Glück, wie er als Knirps auf meiner Hüpfburg springt.
„Freundschaften entstehen durch gemeinsame Interessen“, ist, was meine Mutter dazu sagt. Sie will mich vor dem Schicksal bewahren, zu einem gestörten Tekkie zu werden. Sie glaubt, nur weil ich mit Technik kann, müsse mir im Sozialen was fehlen. Sie schaut die falschen Filme.
Und überhaupt: Wenn das so wäre, wie sie behauptet, dann müsste sie nicht Jahr für Jahr so viele Gastgeschenke kaufen, wie sie das immer noch tut, bestimmt auch getan hat für heute.
Früher waren das noch kleine Roboter, Lederfußbälle und Barbies oder Plüscheinhörner, die sie – hübsch verpackt – meinen Freundinnen und Freunden entgegenstreckte. Dann wurden die Geschenke immer teurer, Videogames, ferngesteuerte Autos, unter fünfzig Franken pro Kind ging nichts. Fand sie.
Die meisten finden das auch, Flora findet es krank. Mir ist es peinlich. Ich denke mir: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich einer der anderen wäre? Nico zum Beispiel oder Samuele und auch Flora, die diese Möglichkeit nicht haben, bei denen es nicht einmal eine Torte gibt? Und schon gar keine vegane, extra für Blerta? Von den Gastgeschenk-Taschen voll saurer Zungen und Colafrösche nebst sorgfältig verpackten Markenartikeln will ich jetzt gar nicht reden.
Ich sehe bei Blerta das Perlmuttschimmerpapier aus dem Rucksack leuchten. Ist das ein Zeichen, dass sie heute kommt? Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass da was sein könnte zwischen ihr und mir. Ich erwische sie manchmal, wie sie mich so sonderbar anschaut. Natürlich wendet sie ihren Blick dann ab; ich auch.
Wenn sie heute kommt, sagt Eelamaran, soll ich ein Gespräch mit ihr anfangen.
„Was hast du zu verlieren?“, fragte er mich und ich konnte es ihm nicht sagen.
Wir haben schon lange nicht mehr miteinander geredet, Blerta und ich, so richtig. Das letzte Gespräch handelte davon, ob ich mich auch für die Gymi-Aufnahmeprüfung angemeldet habe. Dabei hat uns das der Berisha ja allen ans Herz gelegt, uns anmelden. Es probieren. Den Lauf über die glühenden Kohlen wagen. Er sagt, dann wüssten wir, wo wir in etwa stünden, wüssten, wie so eine Prüfung abläuft und könnten – im besten Fall – auch später noch aufs Gymi wechseln.
Mir wird gerade bewusst, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wer von uns alles zu dieser Prüfung gehen wird. Wer sich diesem Druck auf Vorrat aussetzt. Gab’s da mal eine Liste?
(Wenn ich’s mir überlege: So eng, wie wir in der Siebten waren, sind wir jetzt in der Achten nicht mehr.)
Das war so was von geil damals! Wir alle, nassgeschwitzt auf dieser Wiese! Was haben wir gegrölt und uns das überschüssige Adrenalin aus den Adern gelacht … Blerta mit ihrem sphinxhaften Gesicht blutverschmiert, weil es ihr aus der Nase tropfte, aber dennoch lachten wir, auch sie. Damals konnte plötzlich jeder mit jeder und alle standen für einen ein. Heute, befürchte ich, steht bald jeder für sich allein.
Berisha und seine Ideen. Was der uns da in Sachen Deutschunterricht unterjubeln will, stresst mich jetzt schon.
Ist nicht so mein Fach, Deutsch. (Reden war’s halt noch nie.) Vielleicht hat meine Mutter recht, wenn sie die Brauen hochzieht, wenn ich Stunden in meinem Zimmer über einer Sache brüte. Ich bin auf dem besten Weg dazu, ein Asi zu werden.
Die Schulglocke klingelt. Zeit, nach Hause zu gehen. Mich umziehen für die große Sause.
Bandit, unser zwölfjähriger Gordon Setter, kämpft sich von seiner Liegeposition hoch und trottet prompt in die falsche Richtung.
„Hey, Bandit“, rufe ich ihn, „hier!“ Er sieht nicht mehr so gut, und hören tut er auch kaum mehr was. Oder er schauspielert uns was vor, ich bin mir da nicht sicher. Er schlabbert meine Hand...




