E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Minoui Die geheime Bibliothek von Daraya
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7109-5059-9
Verlag: Benevento
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die Macht der Bücher in Zeiten des Krieges
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-7109-5059-9
Verlag: Benevento
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Bibliothek als Waffe gegen die Diktatur
Daraya beherbergt einen außergewöhnlichen Ort: eine unterirdische Bibliothek mit über 15 000 Büchern ? die meisten vom herrschenden Regime verboten, von Menschen aus dem Schutt zerstörter Häuser geborgen. "Massenunterrichtswaffen" nennt Delphine Minoui diesen Schatz und erzählt in ihrem Buch von jungen Syrern, die ihr Leben riskieren, um Bücher zu retten. Die Bibliothek wird zu einem Ort der Gemeinschaft, an dem Menschen lesen, lernen, diskutieren – und für kurze Zeit der brutalen Realität des Krieges entkommen können.
Alles begann mit einem Foto, das die französisch-iranische Journalistin Delphine Minoui zufällig auf Facebook entdeckte: zwei junge syrische Männer, umgeben von Regalen voller Bücher inmitten von Zerstörung. Darunter war die Rede von einer geheimen Bibliothek im Untergrund Darayas, einem Vorort von Damaskus, der von den Regierungstruppen permanent bombardiert und dem Erdboden nahezu gleichgemacht wurde. Minoui gelang es, mit den Gründern der Bibliothek Kontakt aufzunehmen und sie über zwei Jahre bei allen Wendepunkten und Tiefschlägen des Krieges zu begleiten. Wir begegnen Einzelschicksalen, die durch Bücher verbunden werden und sich so gegen Verzweiflung und Resignation stemmen. Eine Geschichte von der Macht des Lesens und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Weitere Infos & Material
Zunächst ist Ahmad nur eine ferne Stimme. Ein schwaches Lied der Hoffnung, das in tiefster Dunkelheit entspringt. Als ich am 15. Oktober 2015 über Skype zum ersten Mal Kontakt zu ihm aufnehme, hat er Daraya seit fast drei Jahren nicht mehr verlassen. Sieben Kilometer von Damaskus entfernt, gleicht die eingekesselte, ausgehungerte Stadt einem Sarkophag. Ahmad ist einer der letzten zwölftausend Überlebenden. Anfangs fällt es mir schwer, seine schüchternen, hektisch gemurmelten Worte zu entschlüsseln. Immer wieder werden sie von den allgegenwärtigen Explosionen unterbrochen. Zwischen zwei Detonationen klammere ich mich an sein Gesicht. Es erscheint auf meinem Bildschirm, verschwindet wieder, den Launen einer Internetverbindung unterworfen, die dank kleiner, zu Beginn der Revolution zusammengesuchter Parabolantennen notdürftig zustande kommt. Sein Bild wird in die Länge gezogen, verzerrt sich wie ein Porträt von Picasso: runde Wangen, die sich schräg unter seiner schwarz gefassten Brille neigen, bevor sie in tausendundeinen Pixel zerspringen und sich in einem dichten schwarzen Vorhang auflösen. Als sich die Pixel erneut zusammenfügen, lese ich die Worte von seinen Lippen ab. Und knabbere auf meinem Bleistift herum, während ich angestrengt die Ohren spitze. Er stellt sich vor: Ahmad, dreiundzwanzig Jahre alt, als eines von acht Geschwistern in Daraya geboren. Vor der Revolution studierte er Bauingenieurwesen an der Universität von Damaskus. Vor der Revolution liebte er Fußball, Kino und die Pflanzen in der Baumschule seiner Familie. Vor der Revolution hatte er davon geträumt, Journalist zu werden. Doch sein Vater, der wegen eines belanglosen, einem Freund zugeflüsterten Kommentars zwölf Monate im Gefängnis gesessen hatte, hatte ihm diesen Wunsch rasch wieder ausgeredet. »Beleidigung der Staatsgewalt«, hatte das Gericht damals geurteilt. Das war 2003. Ahmad war elf Jahre alt. Eine dunkle Erinnerung, begraben auf dem Grund seines Herzens. Und dann kam die Revolution. Als Syrien im März 2011 erwacht, ist Ahmad neunzehn, das rebellische Alter. Der immer noch traumatisierte Vater verbietet ihm, hinunter auf die Straße zu gehen. Ahmad verpasst die erste Demonstration in Daraya, doch zur zweiten schleicht er sich heimlich hinaus. Inmitten der Menge singt er aus voller Kehle: »Das Volk und Syrien sind eins.« In der Brust des angehenden Revolutionärs zerreißt etwas wie ein Blatt Papier. Er spürt den ersten Schauer der Freiheit. Wochen und Monate folgen aufeinander. Die Demonstrationen ebenfalls. Drohend klingt die Stimme Baschar al-Assads aus dem Radio: »Wir werden siegen. Wir werden nicht weichen. Wir werden die Proteste niederschlagen.« Die Soldaten des Regimes schießen in die Menge. Die ersten Kugeln pfeifen. Doch Ahmad und seine Freunde singen nur umso lauter: »Freiheit! Freiheit!«, während andere Aufständische zu den Waffen greifen, um sich zu schützen. Da der Rais von Damaskus sie nicht alle ins Gefängnis werfen kann, riegelt er die Stadt kurzerhand ab. Es ist der 8. November 2012. Wie so viele andere packt auch Ahmads Familie ihre Sachen und flieht in eine benachbarte Stadt. Seine Eltern flehen ihn an, sie zu begleiten, doch Ahmad weigert sich: Es ist seine Revolution, die seiner Generation. Während die Bomben fallen, greift er zur Kamera und verwirklicht endlich seinen Kindheitstraum: von der Wahrheit zu berichten. Er schließt sich dem Pressezentrum des neuen Lokalrats der Stadt an. Tagsüber streift er durch die verwüsteten Straßen von Daraya, filmt die eingestürzten Gebäude, die überfüllten Krankenhäuser, die Beerdigungen der Opfer, jede noch so kleine Spur dieses unsichtbaren, für ausländische Medien unzugänglichen Krieges. Abends lädt er seine Filme im Internet hoch. So vergeht, gelähmt durch die Gewalt, ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen. Bis ihn seine Freunde Ende 2013 eines Tages zu Hilfe rufen. Unter den Trümmern eines völlig zerstörten Hauses haben sie Bücher entdeckt, die sie unbedingt ausgraben wollen. »Bücher?«, wiederholt er erstaunt. Mitten im Krieg erscheint ihm diese Vorstellung absurd. Wozu Bücher retten, wenn sie es nicht schaffen, Leben zu retten? Er hat nie viel gelesen. Für ihn sind Bücher Ausdruck von Lüge und Propaganda. Für ihn sind Bücher gleichbedeutend mit jenem Porträt von Assad und seinem Giraffenhals, das ihn in seinen Schulheften verhöhnte. Zögernd folgt er ihnen in das teilweise eingestürzte Gemäuer. Die Tür wurde von einer Explosion weggerissen. Das unbewohnbar gewordene Haus gehört dem Direktor einer Schule, der bei seiner Flucht aus der Stadt alles zurückgelassen hat. Vorsichtig tastet Ahmad sich ins Wohnzimmer vor. Ein einzelner Lichtstrahl erhellt den Raum. Das Parkett ist mit Büchern übersät, die zwischen den Schutthaufen verstreut liegen. Langsam geht er in die Hocke und nimmt aufs Geratewohl eines davon in die Hand. Seine Fingernägel quietschen auf dem mit schwarzem Staub bedeckten Umschlag, es klingt wie ein Musikinstrument. Der Titel des Buches ist auf Englisch, es geht um Selbsterkenntnis, sicher ein Fachbuch der Psychologie. Ahmad schlägt die erste Seite auf, entziffert die wenigen bekannten Wörter dieser fremden Sprache, die er kaum spricht. Aber im Grunde ist das Thema auch egal. Er zittert. In ihm gerät alles ins Wanken. Er hat das verstörende Gefühl, die Tür zum Wissen aufzustoßen. Für einen Moment der Routine des Krieges zu entfliehen. Einen kleinen Teil der Archive seines Landes zu retten, und sei er noch so winzig. Durch die Seiten zu schleichen wie bei einer Flucht ins Unbekannte. Langsam steht Ahmad wieder auf, das Buch an seine Brust gedrückt. Diesmal durchläuft der Schauer seinen ganzen Körper. »Der gleiche Schauer der Freiheit wie bei meiner ersten Demonstration«, flüstert er auf dem Bildschirm. Ahmads Stimme bricht ab. Sein Gesicht ist wieder ein Mosaik aus einzelnen Pixeln. Eine Explosion hat die Internetverbindung unterbrochen. Ich starre auf meinen Bildschirm, erahne ein Seufzen. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hat, nimmt er seine Erzählung wieder auf und berichtet mir, was für Bücher sie an jenem Tag noch unter den Trümmern gefunden haben: arabische und fremdsprachige Literatur, Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften. Ein Meer von Wissen in ihren Händen. »Aber wir mussten uns beeilen«, fährt er fort. »Draußen hörten wir wieder das Geräusch der Flugzeuge. Hastig haben wir die Bücher ausgegraben und die Ladefläche eines Pick-ups bis zum Rand damit gefüllt.« In den darauffolgenden Tagen wird die Sammelaktion in den Ruinen fortgesetzt. In verlassenen Häusern, verwüsteten Büros, völlig zerstörten Moscheen. Ahmad findet schnell Gefallen daran. Bei jeder weiteren Bücherjagd durchströmt ihn aufs Neue die grenzenlose Freude darüber, zurückgelassene Seiten aufzustöbern und die unter den Schuttbergen begrabenen Worte zu neuem Leben zu erwecken. Sie suchen mit bloßen Händen, manchmal auch mithilfe von Schaufeln. Insgesamt sind es etwa vierzig Freiwillige – Aktivisten, Studenten, Rebellen –, die nur darauf warten, dass das Geräusch der Flugzeuge verstummt, um erneut loszuziehen und unter den Trümmern zu graben. Innerhalb einer Woche retten sie sechstausend Bücher. Was für eine Leistung! Einen Monat später umfasst ihre Ausbeute schon fünfzehntausend Bände. Kleine, große, angeschlagene, mit Eselsohren versehene, unleserliche, sehr seltene, sehr gefragte. Nun brauchen sie einen Ort, um sie unterzubringen. Sie zu schützen. Diesen winzigen Krümel des syrischen Erbes zu bewahren, ehe er in Rauch aufgeht. Sie setzen sich zusammen und beraten, und so entsteht die Idee zu einer öffentlichen Bibliothek. Unter Assad hat Daraya nie eine Bibliothek besessen. Es wäre ihre erste. »Das Symbol einer Stadt, die sich nicht in die Knie zwingen lässt, in der man etwas Neues aufbaut, während um uns herum alles zusammenbricht«, erklärt Ahmad. Er verstummt nachdenklich, ehe er jenen Satz sagt, den ich niemals vergessen werde: »Unsere Revolution wurde begründet, um zu erschaffen, nicht, um zu zerstören.« Aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen würde dieses Papiermuseum unter allergrößter Geheimhaltung eingerichtet werden. Es sollte weder einen Namen noch ein Hinweisschild bekommen. Ein unterirdischer Raum, geschützt vor Radarerfassung und Granaten, in dem kleine und große Leser zusammenkommen. Lektüre als Zufluchtsort. Ein offenes Fenster zur Welt, während alle Türen versperrt sind. Nach fieberhafter Suche entdecken die Freunde schließlich die Kellerräume eines von seinen Bewohnern verlassenen Gebäudes. Es liegt dicht bei der Frontlinie, die Heckenschützen sind nicht fern, aber es ist größtenteils von Raketenbeschuss verschont geblieben. Hastig werden hölzerne Regale gezimmert. Die Wände gestrichen. Zwei, drei Sofas zusammengetragen. Draußen stapeln sie einige Sandsäcke vor die Fenster, ein Generator sorgt für Strom. Tagelang sind die Bücherschmuggler damit...