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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 328, 256 Seiten

Reihe: Debütromane in der FVA

Mitzenmacher Knallkrebse


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-627-02338-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 328, 256 Seiten

Reihe: Debütromane in der FVA

ISBN: 978-3-627-02338-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Flucht, eine ungleiche Freundschaft, ein Verrat - ein souveräner erster Roman über große globale Fragen, dessen Leichtigkeit umso deutlicher werden lässt, dass einfachen Antworten nicht zu trauen ist. Tom und Farid spielen Tischtennis, fahren Skateboard, baden in der Isar: Sie sind Freunde. Am Anfang ihrer Freundschaft stand eine Patenschaft, die der Physikdoktorand Tom für den sechzehnjährigen aus Quetta geflüchteten Farid übernommen hatte. Zusammen mit Laura, Toms Freundin, bilden sie ein ungewöhnliches Dreiergespann - bis Farid einen riskanten Entschluss fasst. Inmitten der sich überschlagenden Ereignisse drängen sich Tom Fragen auf: nach Lauras angeblicher Loyalität, seinen eigenen Intentionen und Zielen und nicht zuletzt nach Farids Erlebnissen auf der Flucht, über die er beharrlich schweigt. Christian Mitzenmacher nähert sich in seinem Debüt nicht nur großen gesellschaftlichen Themen wie Flucht und dem Umgang mit Geflüchteten, sondern er stellt sich auch der Problematik, wie und aus welcher Perspektive davon erzählt werden kann. Er findet keine einfachen Antworten, dafür aber viele kluge Fragen, überraschende Wendungen, einprägsame Figuren, originelle Dialoge und angesichts gewichtiger Themen eine erstaunlich schwerelose, oftmals sogar hochamüsante Prosa. »Ein Roman über Freundschaft, Vertrauen und die ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Motiven. Diese Geschichte hat mich nach dem Lesen noch eine ganze Weile begleitet.« Laura Beck, Bayerischer Rundfunk »In seinem so reflektierten wie warmherzigen Debütroman erzählt Christian Mitzenmacher die Geschichte einer immer tieferen Freundschaft.  Bei allen aufscheinenden Problemen rund um das Thema Flucht kommt dabei auch einige jugendliche Leichtigkeit durch. Und so ist dieser Roman in all seinen Schattierungen ein wichtiges literarisches Zeugnis der ?Wir schaffen das?-Aufbruchsära, die heute so nah und fern zugleich erscheint.« SZ, Antje Weber »Ein erfrischendes Debüt mit präzisen, scharfsinnigen Dialogen, das gekonnt die Komplexität menschlicher Beziehungen ausleuchtet.« Demian Lienhard

Christian Mitzenmacher wurde 1986 geboren und wuchs in Bad Buchau, Oberschwaben, auf. Er ist Mathematiker, forschte an der TU München und dem M.I.T. in Cambridge und promovierte in Operations Research. Er war Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens (2014), Finalist beim 24. open mike (2016) und Stipendiat der LCB-Autor·innenwerkstatt Prosa 2019 mit dem Romanmanuskript »Knallkrebse«. Er lebt in Berlin.
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2
Laura


Ich hatte Laura auf dem Oktoberfest kennengelernt, im Hacker-Zelt. Das sagen alle, die sich übers Internet kennenlernen, aber in unserem Fall stimmt es. Laura war mit Yev da. Als ich ankam, hatte er einen Arm um sie gelegt. Ich fand die beiden an einem Tisch direkt vor der Blaskapelle. Der Tisch war voll besetzt mit Bekannten von Yev, Unternehmensberatern und alten Schulfreunden. Alle trugen Tracht und standen auf den Bierbänken. Ein paar unterhielten sich, die meisten tanzten. Yev hatte mit Abstand die schickste Lederhose. Ich kannte keinen der anderen Gäste, aber ich hatte ein paar von ihnen schon einmal irgendwo gesehen.

Vor allem bei einem von Yevs Gästen erinnerten mich die Gesichtszüge sofort an Daniel aus dem Studium, mit dem ich meinen ersten Wiesn-Besuch erlebt hatte. Auch für ihn war es das erste Mal auf dem Oktoberfest gewesen. Insgesamt waren wir fünf Physik-Erstsemester, wir hatten noch nicht richtig mit dem Studium begonnen und frischten in Vorkursen an der Uni unsere Grundlagen auf. Die anderen vier waren eigentlich viel zu introvertiert für eine Veranstaltung wie das Oktoberfest. Richtig ausgelassen wurde es den ganzen Abend nicht. Wenn gelacht wurde, blieb es bei diesem kurzen, unsicheren Physikerlachen, bei dem die Augen rastlos hin und her hasten, anstatt einem direkt in die Augen zu sehen.

Gleich zu Beginn hatten einige Studentinnen die übrigen Plätze bei uns am Tisch besetzt, zunächst ohne uns größere Beachtung zu schenken. Ich sehe Daniel vor mir, wie ihn eine der Studentinnen plötzlich aufforderte, zu ihr auf die Bank zu steigen. Das ganze Zelt stand bereits auf den Bänken und wir fünf saßen als Einzige. Daniel erschrak, er blickte sie kurz an, dann huschten seine braunen Augen einmal durch unsere Runde und verharrten anschließend auf seinem Bierkrug. Er murmelte »später«, ohne sie anzusehen und fast ohne die Lippen zu bewegen, und blieb sitzen. Doch sie ließ nicht locker. Sie beugte sich noch weiter zu ihm herab, packte ihn an beiden Schultern und zog ihn hoch. Seine Pupillen weiteten sich, seine Miene versteinerte, und erst als er bemerkte, dass sie ihm zulächelte, lösten sich seine Gesichtszüge. Er lächelte zurück und stieg auf die Bierbank.

Wir anderen stiegen auch hinauf. Je eine Hand hatten wir in den Taschen unserer Lederhosen, die wir zu diesem Anlass neu gekauft hatten, die andere klammerte sich an den Bierkrug. Wir versuchten, ein wenig zu tanzen, doch eigentlich wippten wir nur leicht mit einem Bein. Wir wussten nicht, wo wir hinsehen sollten, und wir wussten auch nicht mehr, was wir reden sollten.

Wir blieben zwei Lieder lang so stehen, dann tranken wir aus und gingen nach Hause. Eigentlich war ich nicht schüchtern, aber manchmal ließ ich mich anstecken.

Die Gruppe an Yevs Tisch war das genaue Gegenteil. Obwohl die Band Pause machte, standen alle auf den Bänken, wahrscheinlich von Anfang an. Sie lachten lang und laut und sprühten nur so vor Selbstsicherheit. Ich kam deutlich zu spät, wie so oft, und war komplett nüchtern. Ich freute mich, Yev zu sehen, doch der Start in den Wiesn-Abend war immer hart für mich. Mich nervte das Gedränge auf dem Weg zum Zelt. Ich ekelte mich vor den betrunkenen Touristen in ihren Trachtattrappen aus billigem Filz, deren Augen sich irgendwo festklammern wollten, dabei jedoch ständig abrutschten. Augen, in denen nichts mehr leuchtet. Ich hatte schon tolle Abende in Bierzelten, später sogar mit den Physikern, doch ich brauche mindestens zwei Mass, um über das Unheilvolle dieser Veranstaltung hinwegzusehen. Dann singe ich allerdings Angels von Robbie Williams, als wäre es mein Song.

Yev war sein Vorsprung anzumerken. Er sah mich, beugte sich von der Bank zu mir herab, umarmte mich überschwänglich und zog mich zu sich hoch. Dort stand ich, überblickte das Zelt und fühlte mich verloren. Sofort drückte er mir eine Mass in die Hand. Ich wusste nicht, wo er sie so schnell herbekommen hatte, doch das war eben Yev. Er schlug seinen Krug schwungvoll gegen meinen. Wir tranken und er begann sofort, mir von seiner neuesten Geschäftsidee zu erzählen. Das lief schon immer so ab, seit wir uns kannten.

Kennengelernt hatte ich ihn vor einigen Jahren im P1, wo er neben dem Studium an der Bar arbeitete. Ich war auf der Facebook-Party der CSU, aus Neugierde und mit einer vagen Hoffnung auf Schadenfreude. Es gab Freibier, aber eigentlich nur eins pro Person. Ich beobachtete, wie Yev für Markus Söder ein Bier zapfte. Sein Ausdruck schwankte zwischen Stolz und Skepsis. Ich musste grinsen, wir blickten uns an und er grinste zurück. Den restlichen Abend stand ich bei ihm an der Bar und er sprach von Geschäften mit russischen Satellitenschüsseln in Deutschland. Die gingen in einer Import-Export-Schattenwelt vonstatten, würden jedoch vom digitalen Fernsehen bedroht.

»Aber das is es, das muss man machen, Import-Export, ich sag’s dir.«

Yev unterstrich seine Thesen mit großen Schlucken. Irgendwann kam Horst Seehofer auf die Party, begleitet von Fernsehkameras, die ihn in der dunklen Disko anstrahlten und leuchten ließen wie einen Heiligen. Bedächtig schritt er die Veranstaltung einmal auf und ab. Ich fragte mich, wann er wohl das letzte Mal in einer Diskothek gewesen war.

Yev und ich trafen uns danach öfters und gingen feiern. Mich faszinierte, dass er jedes Mal neue Ideen parat hatte. Ich war also nicht überrascht, als ich im Hacker-Zelt zu ihm auf die Bierbank stieg.

»Wir müssen eine Blutbank aufmachen!«, begrüßte er mich. »Ach ja?«

»Hast du nich von den Mäusen in Stanford gehört?«

»Ne.«

»Die Gehirne von alten Mäusen wachsen wieder, wenn sie Blut von jungen Mäusen bekommen.«

Er war überzeugt, dass es Forschern in den nächsten Jahren auf diese Weise gelänge, bei Menschen das Altern zu verlangsamen. Bei Mäusen habe das schon geklappt. Die Kapelle nahm ihr Spiel wieder auf und Yev verlor bei einem Prosit der Gemütlichkeit kurz den Faden.

»Und wenn wir jetzt das Nabelschnurblut eines Menschen konservieren, und der zahlt uns dann Geld, sagen wir, tausend Euro im Jahr, oder noch besser, einen wechselnden Betrag einkommensabhängig je nach Lebensphase, um später auf das Blut zugreifen zu können, dann würde das doch jeder kaufen für sein Kind, ewiges Leben, Mann.«

Darauf tranken wir. Yevs Stimme war so laut, dass trotz des Lärmpegels jeder am Tisch mithören konnte. Nur das Weghören war kompliziert. Wenn er mir direkt ins Ohr brüllte, schmerzte es. Laura stand links von Yev, ich rechts. Ich versuchte, mich zu drehen und mir etwas Abstand zu verschaffen. Dabei fing Laura meinen Blick und lächelte. Ich fühlte mich ertappt und schaute weg. Einige Augenblicke später drängte sie sich zwischen uns.

»Du hast uns eh noch nicht vorgestellt, Yev. Ich bin die Laura.«

Yev wirkte kurz irritiert und hielt mitten im Satz inne. Laura und ich wechselten ein paar Worte, während Yev, irgendwie fehl am Platz, danebenstand und lauschte. Dann nickte er uns zu, drehte sich um und war sofort in ein anderes Gespräch verwickelt.

Lauras Lachen faszinierte mich sofort. Wenn sie lachte, zeigte sie beide Zahnreihen. In ihren Wangen bildeten sich Grübchen. Ich musste automatisch mitlachen. Die Oberlippe schwoll an, während die Unterlippe fast verschwand, der Abstand zwischen Mund und Augen wurde links kleiner und rechts größer. Das alles war sehr niedlich und erinnerte mich an Sebastian, die Krabbe aus Arielle die Meerjungfrau.

Laura lachte viel. Wenn sie mir etwas ins Ohr sagen wollte, zog sie mich an den Trägern meiner Lederhose zu sich nach unten. Irgendwann stellte sie sich auf den Tisch und wir waren auf gleicher Höhe. Ihre Augen leuchteten grün. Sie hatte sogar auf den Lidern Sommersprossen.

»Wenn du dir alles wünschen dürftest, welches Lied würdest du dir wünschen von der Kapelle?«, fragte ich sie.

»Die Internationale.«

Sie sprach Bayerisch.

»Und du?«

»Wahrscheinlich was von Bushido.«

»Hast du was gegen Schwule?«

»Ne, aber manchmal gegen Betrunkene.«

»Auch gegen mich?«

»Hm. Wenn du betrunken so bist wie der Rest hier.«

In diesem Moment stießen alle am Tisch miteinander an. Die Kellnerin, eine stämmige Frau Ende vierzig, kam vorbei und stellte acht Masskrüge auf unserem Tisch ab. Yev wechselte einige Worte mit ihr. Sie strahlte ihn an, drückte ihm einen Kuss auf die Wange, nahm fünf der Masskrüge wieder auf und eilte weiter. Yev bekam rote Backen und rieb sich mit der Hand über seine Glatze.

Laura wandte sich wieder mir zu.

»Wie wär es mit der französischen Nationalhymne?«, sagte sie.

»Auch gut. Was glaubst du, was würde dann hier drin passieren?«

»Alle würden pfeifen, ich würd mitsingen, und dann würd ich bedroht werden und du müsstest mich retten.«

»Hm. Und würde ich das schaffen?«

»Eh würdest du das schaffen«, sagte sie.

»Und was würden wir dann machen? Fliehen? Wohin? Direkt nach Frankreich?«

»Ja, zum Beispiel.«

»Wann warst du das letzte Mal in Paris?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Noch nie.«

Die Band spielte Forever Young. Laura begann mit mir zu tanzen. Ich war zu nüchtern und bewegte mich zaghaft. Ich beobachtete mich selbst von außen. Ich war das Gegenteil von locker. Yev lächelte mir aufmunternd zu.

»Woher kennt ihr...


Christian Mitzenmacher wurde 1986 geboren und wuchs in Bad Buchau, Oberschwaben, auf. Er ist Mathematiker, forschte an der TU München und dem M.I.T. in Cambridge und promovierte in Operations Research. Er war Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens (2014), Finalist beim 24. open mike (2016) und Stipendiat der LCB-Autor·innenwerkstatt Prosa 2019 mit dem Romanmanuskript »Knallkrebse«. Er lebt in Berlin.



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