Modick Sunset
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8387-2336-5
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-8387-2336-5
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Feuchtwanger, Brecht und das kalifornische Exil - der Roman einer ungewöhnlichen Freundschaft. Weltberühmt und wohlhabend, aber argwöhnisch beschattet von den Chargen der McCarthy-Ära, lebt Lion Feuchtwanger 1956 noch immer im kalifornischen Exil - der letzte der großen deutschen Emigranten. Als ihn an einem Augustmorgen die Nachricht vom plötzlichen Tod Bertolt Brechts erreicht, ist er tief erschüttert. Er hatte Brechts Genie entdeckt, hatte ihn gefördert, war ihm eng verbunden gewesen. In stummer Zwiesprache mit dem toten Freund ruft Feuchtwanger die Stationen dieser Freundschaft wach, ihren Beginn im München der Räterepublik, die literarischen Triumphe der Zwanzigerjahre, die Flucht und das Leben im Exil. Aus seinen Erinnerungen kristallisieren sich zugleich die Antriebsfedern des eigenen literarischen Schaffens heraus: die Trauer um die als Säugling verstorbene Tochter, seine Schuldgefühle und sein Ehrgeiz, die Traumata seiner Kindheit - und schließlich die Liebe und die Vergänglichkeit. Am Ende des Tages, als die Sonne im Stillen Ozean versinkt, ist der alte Feuchtwanger sich seiner Stärken und Schwächen hell bewusst und hat eine Bilanz des eigenen Lebens gezogen.
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Rumort das Wasser in der Leitung an diesem Morgen dumpfer als sonst? Es hört sich fern an, als steckten Pfropfen auf seinen Ohren. Das Spritzen und Rauschen der Dusche ist kaum wahrnehmbar, klingt nur noch wie eine matte Erinnerung an das alltägliche Geräusch. Um Wasser und Shampoo aus den Ohren fließen zu lassen, neigt er den Kopf nach links und rechts, wobei ihn ein Schwindelgefühl erfasst, als stehe er plötzlich wieder an Deck des in unruhiger Dünung schwankenden Schiffs, das ihn von Lissabon nach New York getragen hat; an die Reling gelehnt, hat er damals zurückgeschaut, bis der alte Kontinent im Abenddunst versank. Um nicht zu stürzen, umklammert er den Haltegriff an der Wand und dreht mit der anderen Hand den Wasserhahn zu. Das Rumoren erstirbt. Am Wannenboden strudelt das Wasser dem Abfluss entgegen. Er setzt sich vorsichtig auf den Wannenrand, nimmt ein Handtuch von der Stange, trocknet sich ab, stützt sich aufs Waschbecken, steht zögernd auf, misstraut seinem Körper. Der Spiegel an der Badezimmertür ist an den Rändern vom Wasserdampf beschlagen, und ohne Brille ist sein Blick ohnehin verschwommen und trüb. Sein eigener Anblick befremdet ihn so, als irre er wieder durchs Spiegellabyrinth auf dem Münchner Oktoberfest, in dem er als Kind vor sich selbst erschrocken war, wenn er plötzlich zu einem rundlich gepressten Gnom und im nächsten Moment zu einer absurd in die Höhe schießenden Bohnenstange mutierte. Merkwürdig nur, dass er über seinen Körper so gut wie nichts weiß und auch die Erklärungen der Ärzte etwas Rätselhaftes behalten. Gewiss, Kreislaufschwächen und ein überempfindlicher Magen, gewiss, Prostatakrebs, aber was bedeutet das eigentlich? Was ist das genau? Zum Beispiel weiß er viel, fast alles, über die Lebensverhältnisse und Vorstellungen der alten Israeliten, die seinen neuen Roman bevölkern. Aber was in diesen Augenblicken in seiner Leber oder in seinen Nieren vorgeht oder woher das Schwindelgefühl unter der Dusche rührt, davon hat er keine Ahnung. Vielleicht ist der Mensch, der die Mächte des Atoms freigesetzt hat und sich anschickt, den Weltraum zu erobern, sich selbst gegenüber, den eigenen Eingeweiden gegenüber, immer noch feige, unvernünftig, blind? Vielleicht ist solche Feigheit nur die Angst vorm eigenen Verfall? Vielleicht ist es ja auch gut oder zumindest gnädig, wenn schwächer werdende Sehkraft dämpft, was der Spiegel zeigt. Die Symptome körperlicher, aber auch geistiger Abnutzung werden immer alltäglicher. Manchmal kommt es ihm so vor, als hätte er schon Erinnerungen an sich selbst. Und auch die Muster, die das Kondenswasser über den Spiegel zieht, erinnern ihn an etwas halb Vergessenes. Etwas aus der Heimat. Eisblumen, denkt er. Das war es. »Eisblumen«, flüstert er, als müsse er das Wort schmecken, das Wort für eine Erscheinung, die es hier in Kalifornien gar nicht gibt und die es auch in den Jahren an der Côte d’Azur nicht gegeben hatte. Gibt es für Eisblume überhaupt ein englisches, ein französisches, ein Wort in anderen Sprachen? Russisch vielleicht oder Finnisch? Die Eisblumen an den Fenstern der Münchner Wohnung, damals, in den dunklen, schweren Wintern Deutschlands, als es an allem fehlte, auch an Kohle für die Öfen, als er mit zwei Pullovern, Wintermantel und Schal am Schreibtisch saß und um einen Anfang rang. Die Worte sperrten sich, fanden nicht Takt noch Rhythmus. Er verzierte und verschachtelte, doch die Sätze blieben taub. Man konnte nicht willkürlich beginnen. Es brauchte etwas dazu, das von Absicht, Recherche und Wissen unabhängig war. Er blickte zum Fenster. Mit welcher Sorgfalt die Linien gezogen waren! Wie zart und doch kraftvoll aus Wasser und Frost. Die Eisblumen waren nicht geplant, nicht zweckmäßig und dennoch voller Fantasie, Harmonie der Linienführung und der Konstruktion. Er wusste nicht, wie, doch damals lernte er etwas von den Eisblumen und brachte mit klammen Fingern, aber gestochen klarer Handschrift Jud Süß zu Papier. Er nimmt die Brille vom Waschtisch, setzt sie auf, greift zur Rasierseife und schlägt sie mit dem Pinsel schaumig. Wie Schnee. Die hohe Palme vorm Badezimmerfenster fächelt in der leichten Brise vom Pazifik, und mitten im kalifornischen Sommer denkt er an Eisblumen und Schnee. »Es schneit«, sagt er leise, fast so leise wie Schneefall in der Abenddämmerung, und lauscht, ob die Worte Echos werfen. Auch sie klingen nach etwas Verlorenem, Unwiederbringlichem, nach Heimat und Kindheit. Die Worte sind wie ein Gefühl, auf das es keine Antwort gibt und das sich nicht analysieren lässt. Wie Glockenläuten an Sonntagvormittagen. Die Schneedecken im Englischen Garten. Die Schneeflocke auf der vom Frost geröteten Nase Martas. Der vor den Fenstern des Casinos von Garmisch fallende Schnee, wenn auf dem Spieltisch wieder einmal das letzte Honorar zerschmolz. Und dann jener Schneesturm, zwei, drei Tage lang, damals, im Winter 1918/19, im ersten Winter nach dem Krieg. Vielleicht ist das der Grund, warum er ausgerechnet heute an Eis und Schnee denkt, denken muss? Die Züge blieben stecken. In den Straßen zwischen Schneeverwehungen Fuhrwerke und Automobile, eingefrorene, verreckte Vehikel. Die Gardine vorm undichten Fenster bewegte sich im eisigen Luftzug, und draußen wehte ein noch weißerer, dichterer Vorhang. An der Brandmauer des Nachbarhauses hatte der Schnee kahle Weinranken zu einer rätselhaften weißen Schrift an der Wand werden lassen. Der Schnee breitete seine Tücher über die Häuser und Höfe, über die zerfallene Ordnung und über den Aufruhr. Und vielleicht schneite es auch in Flandern über den Schlachtfeldern und Massengräbern. Sogar die Revolution hielt Winterschlaf. Keine Schüsse, kein Maschinengewehrgeknatter, keine Aufmärsche und Kundgebungen, kein Geschrei, kein Mord. Die roten Räte hockten mit ihren Künstlerfreunden im warmen Wirtshaus, tranken Punsch oder Bier, aßen Weißwürste auf Kraut, rezitierten expressionistische Gedichte und träumten vom Paradies auf Erden, in das sie die neuen Menschen führen würden. Und die weißen Korps und Monarchisten hockten eine Straßenecke weiter in einer anderen Gaststube, tranken Glühwein oder Bier, aßen Schweinshaxen und überlegten, wie sich die alte Ordnung wiederherstellen ließe. Es herrschte Stille, eine weiß erstarrte Sauberkeit. Etwas ging zu Ende. Es musste ein Ende haben. Und etwas anderes begann. In der grau sinkenden Dämmerung strahlte der Schnee. Er schrieb, dachte nach, hob die Augen vom Manuskript, trank einen Schluck Kamillentee, schrieb weiter, beobachtete das geisterhafte Flattern der Gardine, strich Geschriebenes aus, lauschte dem Knacken der Scheite im Ofen, der nicht genug Hitze entwickelte, um den Raum zu wärmen, schrieb mit schwarzer Tinte auf schneeweißes Papier. Das Manuskript des Dramas wuchs und wuchs und war als Stück schon viel zu lang. Die Strukturgesetze des Dramas empfand er als Zwang, als Knechtschaft. Akte, Szenen, Spannungsaufbau, Proportionen, Katharsis, alles schön und gut, bewährt und vollkommen. Er wusste Bescheid. Aber musste man nicht einen Schritt weiter gehen? Unabhängig von der Gattung schreiben, unabhängig vom Bescheidwissen, einfach so, wie ja auch Gedanken, Gefühle nicht an Formen gebunden waren? Ein dramatischer Roman wird das dann, dachte er, warum nicht? Der Held hieß Thomas Wendt, und vielleicht würde das fertige Stück auch so heißen. Es konnte aber auch einfach Neunzehnhundertachtzehn heißen oder Toller oder Landauer, Eisner oder Mühsam – Schriftsteller, die glaubten, die sogenannte Revolution zu führen, aber mit ihrer Weltfremdheit zu ihrem Scheitern beitrugen, empfindsame Dichter, überzeugte Idealisten, spinnerte Theoretiker, untauglich zu realistischem Denken und politischem Handeln. Sie fühlten sich dem Volk verbunden, aber das Volk fühlte sich ihnen nicht verbunden. Den verfaulten Geist in Trümmer zu schlagen, schrieb er, war erst das vorletzte Ziel. Das letzte Ziel ist, alle die zu gewinnen, die guten Willens sind, Güte von Mensch zu Mensch, Glück für alle, das ist der Sinn unserer Revolution, der neuen Zeit, unserer Zeit. Sätze so klamm und unbeweglich wie die Finger, die sie schrieben. Das war das peinliche Pathos jenes Traums, in dem jede Ordnung, jede Gebundenheit, die sich der angeblich anarcho-bohemistischen Natur des Menschen entgegenstellte, verwerflich war. An dieser Radikalität, die den fünften Schritt vorm ersten machen wollte und vor schmachtender Sehnsucht nach dem Ursein übersah, was wirklich vor sich ging, scheiterte die allzu gut gemeinte Revolution, kaum dass sie begonnen hatte, und war bereits gescheitert, bevor die Weißen sie in Blut ertränkten. Wohin man auch blickte, überall orgelte wie ein Generalbass ein O-Mensch-Rausch, der sich mit dem Elend der Realität nicht gemeinmachen wollte und auch nichts gemein hatte. Gemeinsamkeit, hatte schon Nietzsche bemerkt, macht gemein. Wer Revolution machen wollte, musste über Leichen gehen, wer seine Hände in Unschuld waschen wollte, wusch sie in Blut. Er blätterte in seinen Notizen, suchte nach dem Goethe-Zitat, dass der Handelnde niemals Gewissen habe, sondern nur der Betrachtende, schrieb: Ich habe geglaubt, Revolution sei: Menschlichkeit für alle, und jetzt soll ich die strafen, die Menschen sind, und den Verkommenen die Zügel lösen. Lasst mich. Ich will nicht mehr. Ich will ich sein, ich. Auch das war peinlich pathetisch, überspannt, aber es war eine wahre Empfindung. Doch in Worte gefasst, missfiel sie ihm ebenso wie das O-Mensch-Gefasel. Vielleicht war es überhaupt ein Fehler, über das zu schreiben, was gerade vor sich ging. Vielleicht brauchte man mehr Distanz, mehr Vergangenheit, mehr Geschichte, um die Gegenwart zu begreifen. Er fröstelte, griff zur...