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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Mörike Palästina begreifen

Wissensdinge, Akteursnetzwerke, Raumerzählungen (1877-1929)
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-593-45708-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wissensdinge, Akteursnetzwerke, Raumerzählungen (1877-1929)

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-593-45708-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dinge vermitteln Vorstellungen und belegen Erkenntnisse. Das »Heilige Land« war seit dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand theologischer Forschung und wissenschaftlicher Landeskunde. Karten, Pflanzenbelege und ethnographische Gegenstände, denen Tobias Mörike als Wissensdinge nachgeht, vermittelten Vorstellungen eines Freilichtmuseums der Bibel und einer modernen zukünftigen Kolonie. Auf Grundlage der durch Dinge vermittelten Beziehungen geht dieses Buch den Verbindungen christlicher imperialer Palästinaforschung und der wissenschaftlichen Landeskunde des frühen Zionismus vom späten 19. Jahrhundert bis in die Mitte der 1920er Jahre nach.

Tobias Mörike ist Kurator der Sammlung Nordafrika, Westasien und Zentralasien am Weltmuseum Wien.

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Einleitung
Zwanzig Kisten aus Jerusalem trafen 1922 im Hamburger Hafen ein. Sie enthielten getrocknete Pflanzen, ausgestopfte Tiere, Bücher, Karten und Gegenstände der Kulturgeschichte, die der Leiter des Deutschen Palästina-Instituts, Gustaf Dalman (1855–1941), an seinen neuen Lebensmittelpunkt nach Greifswald schicken ließ.1 Von 1902 bis 1914 hatte Dalman von Jerusalem aus jährlich Reisen durch das heutige Israel/Palästina und Jordanien organisiert und umfangreiche Sammlungen zusammengetragen. Nachdem er infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs seine Stellung in Jerusalem aufgeben musste und erst 1922 zurückkehren konnte, überführte er die Sammlungen an seinen neuen Lebensmittelpunkt. Die mitgebrachten Dinge bildeten für Dalman nicht nur eine Erinnerung an seine Lebensjahre in Jerusalem, sondern einen Belegapparat für einen Raum, dessen Gegenwart für ihn die Aussagen der Bibel begründeten. Als er 1922 seine Sammlungen von Jerusalem nach Greifswald schicken ließ, erreichten ihn 1.300 Dias, 2.000 Fotos, 900 getrocknete Pflanzen, Karten, eine Keramiksammlung, Steine, Fossilien und eine Bibliothek.2 Bis an sein Lebensende schrieb er mit dem mitgebrachten Material an der achtbändigen Natur- und Alltagsbetrachtung Arbeit und Sitte in Palästina.3 Dalman betrachtete die mitgebrachten Dinge zur bäuerlichen Lebenswelt Palästinas als Dokumente der Alltagskultur der Evangelien. In Listen und Publikationen übertragen, mobilisierten sie seine Wahrnehmungen und seinen Wissensstand: Wissensdinge erlaubten ihm, Palästina zu begreifen. Ausgehend von den Kisten Dalmans geht das folgende Buch der Frage nach, welches Potenzial auf Erkenntnisse und Behauptungen ausgerichtete Wissensdinge für die Geschichtsschreibung entfalten. Verfügten die Forschenden der Frühen Neuzeit, Humanisten wie Theologen, über einzelne wissenschaftliche Reliquien wie Münzen oder Zapfen von Libanonzedern4, konnten Palästinaforscher um 1900 ihr Palästinabild auf Beobachtungen stützen, aus Massendaten zusammensetzen und in Form anschlussfähiger mobiler Gegenstände einer interessierten Öffentlichkeit vorstellen. Erstmals ließen sich astronomische Messpunkte, Winkelmessungen für die Triangulation sowie Proben, Beobachtungen, Erkenntnisse und Vorstellungen aus dem Feld entnehmen, als Sammlungsgut konservieren und in der Bearbeitung etwa als Druckwerke oder als getrockneter Pflanzenbeleg zirkulieren. Vor dem Hintergrund der deutschen Palästinaforschung5 im späten 19.Jahrhundert untersucht diese Studie Wissensdinge nicht als stillgestellte Objekte, sondern im Sinne von Bruno Latour6 als eigenmächtige Aktanten, die nicht auf eine Aussage festgelegt sind, sondern eine Bedeutungsoffenheit besitzen, die sie immer wieder neu anschlussfähig macht. Sie knüpfen Wissen als sozial vermittelte Bedeutung an die Materialität der Dinge und bauen durch diese Verbindung Behauptungen auf und erzeugen Erkenntnisse. Diese Wissensdinge führten jedoch nicht nur ein Eigenleben in den Herbarschränken der botanischen Gärten, auf den Messtischen der Kartographen und den Ausstellungsvitrinen ethnologischer Sammlungen: Sie strukturierten auch Beziehungen zwischen Menschen. Sie kursierten durch Netzwerke und ihre Beobachtung zeigt Verbindungen, die in der historischen Überlieferung oft unsichtbar sind. In der Erforschung Palästinas stellt sich insbesondere die Frage, welche Nahtstellen Wissendinge zwischen christlichen und jüdischen Forschenden herstellten und welche gemeinsamen und unterschiedlichen Vorstellungen von Palästina sie mit den Wissensdingen aufbauten, die sie verbanden. Als Teil des durch Dinge strukturierten Netzwerks werden nicht nur Lesarten und Behauptungen über das Land sichtbar, auch lokale Wissensmittler und arabische Forschende werden als Teil einer Ding-Gemeinde erkennbar. Welche Behauptungen wurden mit Karten, Pflanzen oder Ethnographica aufgestellt? War es für alle Forschenden in Palästina ausgemacht, dass sie in Palästina das Land der Bibel vor Augen hatten oder eröffneten die Dinge alternative Raumerzählungen? Zwischen deutschen kolonialen Ambitionen, der Frühphase des Zionismus und den diversen intellektuellen Projekten arabischer Eliten konkurrierten politische Projekte und Wahrnehmungen miteinander. Auf Grundlage von Derek Gregorys7 imaginären Geographien geht dieses Konzept von Raumerzählungen aus, deren Argumentationen auf Wissensdingen als Referenzen fußt. Als ein zentrales Muster haben Dan Rabinowitz und Khaled Furani8 einen »biblischen Orientalismus« – eine Gleichsetzung zwischen imaginierter biblischer Zeit der Evangelien und beobachtetem Raum der Gegenwart – beschrieben. Ihre Überlegungen sollen in diesem Buch differenziert werden, um daran aufzuzeigen, dass deutschsprachige Palästinabilder anders aufgeladen waren als britische und amerikanische Vorstellungen9, die enger an millenaristische Erwartungen geknüpft waren. Palästina stellte in deutschsprachigen Diskursen auch einen ökonomischen und politischen Möglichkeitsraum dar, dessen vermeintliche Potenziale Wissensdinge anzeigten.10 Mit Blick auf botanische Sammlungen, Karten und Ethnographica verfolgt dieses Buch die jeweils mit ihnen begründeten Raumerzählungen und diskutiert die Verbindungen zwischen einer christlichen imperial geprägten Palästinaforschung und dem frühen Zionismus. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie jüdische und nicht-jüdische Palästinaforscher aufeinander Bezug nahmen, welche Wissensdinge sie verbanden und welche unterschiedlichen Diskurse sie mit zirkulierenden Dingen aufbauten. Fragestellungen
Die vorliegende Studie argumentiert, dass Wissensdinge – Karten, Ethnographica und Herbarien als Ressourcen – Palästina als Forschungsgegenstand abbildeten und als realen wie imaginären Raum für europäische Vorstellungen greifbar machten. Dafür nimmt die Untersuchung auf breitere Diskussionen der Wissenschaftsgeschichte Bezug, die Wissenschaften als kulturell situierte Praxis ansehen:11 Und zwar unter der Annahme, dass Palästina nicht nur in Reisebeschreibungen12 oder den Berichten von Missionaren13 als Teil einer imaginären Geografie wahrgenommen wurde, sondern wissenschaftliche Belege diese Raumerzählungen14 stützten. Als Inventar ausgewählter Informationen verdichteten und generierten sie Vorstellungen über Ökologie, Kulturgeschichte und Raum. Auf diesen Zusammenhang zwischen Sammeln und der Aneignung eines Raums, der durch die Auswahl und Zusammenstellung von Referenzen lesbar wird, hat Bruno Latour in seiner Studie Die Hoffnung der Pandora15 hingewiesen. Latour begleitete ein Forschungsteam an den Rand des Regenwaldes im brasilianischen Bundesstaat Roraima. Für die Naturwissenschaftler stand die Frage im Mittelpunkt, ob sich der Wald zurückzog oder ob Pionierpflanzen den Wald ausdehnten. Für die Beantwortung ihrer Frage sammelten sie Pflanzen, nahmen Winkelmessungen vor, um später Karten zeichnen zu können, und gruben Löcher für Bodenproben. Mithilfe der zusammengetragenen Belege, der Pflanzen, Proben und Messungen, die Latour als Grundlage eines Auswahlprozesses versteht, konstruierten die Wissenschaftler die Basis ihrer Studie. Vergleichbar mit Latours Forschergruppe in Brasilien verstanden die Palästinaforscher den von ihnen untersuchten Raum anhand von angelegten Referenzen. Im größeren Kontext einer globalen Geschichte kolonialer Sammlungen und Wissenschaften, wie sie in einschlägigen Studien Felix Driver, Charles Withers, Diarmid Finnegan und David N. Livingstone diskutieren,16 stellte Palästina einen peripheren Raum dar, mit dem sich im 19. Jahrhundert unter dem Begriff »Heiliges Land« ein hoher symbolischer Wert, aber wenig wissenschaftliches und praktisches Interesse verband. Palästina war zwar durch biblische Landeskundler verschiedenster europäischer Nationen bereist worden, als Forschungsfeld für die Naturwissenschaften jedoch lag die Region bis zum Ende des 19. Jahrhunderts am Rande des Interesses. Die Professionalisierung wissenschaftlicher Arbeit und die Verschiebung der Orte wissenschaftlicher Praxis – von universalgelehrten Privatiers zu akademischen Disziplinen an Universitäten17 – klingen auch in der Erforschung Palästinas...



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