E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Moeyaert Graz
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-902844-63-7
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-902844-63-7
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bart Moeyaert, geb. 1964 in Brügge. Er studierte Geschichte, Niederländisch und Deutsch in Brüssel. Moeyaert war Lyriker der Stadt Antwerpen, seit 2000 ist er Hauptdozent in Creative Writing am Königlichen Konservatorium in Antwerpen. Bart Moeyaert zählt zu den großen europäischen Kinder- und Jugendbuchautoren, seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und in 20 Sprachen übersetzt, auf Deutsch sind sie im Carl Hanser Verlag und im Peter Hammer Verlag erschienen. Für den Roman Bloße Hände (dtv) erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Zuerst sah ich das Fahrrad und dann das Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, die Arme neben dem Kopf, als ob sie sich beim Fallen ergeben hätte, und die Beine lagen wie in einem Zeichentrickfilm, bereit zum Weglaufen. Der Hals hatte einen Knick. Das Gesicht zeigte in Richtung Hürlimann, doch die Augen waren geschlossen. Sie war tot, davon war ich überzeugt.
Ich legte die Hände auf meinen Mund. Zu meinem Entsetzen hatte schon jemand einen Strauß Rosen vor ihr niedergelegt. Dann musste ich mich über mich selbst ärgern, denn daneben lagen auch ein Netz Orangen, eine Packung Milch, ein in Plastik verpackter Kuchen, eine Schachtel Krapfen und ein Plastiksack, der nur nicht davonflog, weil noch etwas Schweres darin lag. Es waren Grand-Prix-Rosen aus dem Hause Pammer gegenüber der Oper, ich erkannte das am Papier.
Der Unfall musste in den Minuten passiert sein, die ich brauchte, um von meinem Arbeitstisch aufzustehen, meine Jacke anzuziehen, die Treppe hinunterzugehen. Ich machte mich auf, um spazieren zu gehen, sie fiel. Ein Leben ändert sich mit einem Fingerschnipp.
Ich drehte mich um und suchte in den Taschen meines kurzen Jäckchens nach dem Haustorschlüssel. Ich sollte wieder hineingehen, die Rettung rufen. Ich dachte, dass ich schnell reagierte, doch ich brauchte das Licht im Gang nicht mehr einzuschalten, jemand auf der Straße hatte die richtige Nummer schon gewählt. Ich hörte das Anschwellen der Sirene aus der Ferne. Gegenüber kamen Leute aus den Häusern, im Parkhotel an der Ecke lehnten sich Gäste über die Fensterbänke und hinter den Kellerfenstern bei Nummer vierzehn sah ich die halben Köpfe der Hürlimann Kinder, sie standen auf Zehenspitzen am Rand ihres Bettes, um etwas sehen zu können. Ihre Silhouette stach schwarz hervor.
Ich hielt mich am Türrahmen fest und blinzelte mit den Augen, da mein Gehirn nicht alles zugleich verarbeiten konnte. Ich sah das gefallene Mädchen, wie all die Leute sie jetzt sahen. Von weit weg, von oben, von der Seite, aus der Nähe, und was ich mir letztendlich vorzustellen versuchte, war, wie die Waisenkinder das Mädchen vom Kellerfenster aus sahen, so wie sie vor ihnen lag, auf Augenhöhe, das Gesicht in ihre Richtung gedreht.
Die Rettung blieb schräg auf den Straßenbahnschienen stehen. Ein Kleinbus der Polizei parkte knapp davor, zwei Reifen auf dem Gehsteig.
Von der Türschwelle aus hielt ich nach heranfahrenden Autos Ausschau, als ob ich auf einmal für den Verkehr verantwortlich wäre. Ich blickte links und rechts die Straße entlang und schüttelte den Kopf, da ich dachte, nicht richtig zu sehen: Weiter vorne auf der Straße war ein Hund, der sich weder vorwärts noch rückwärts zu bewegen wagte. Das Tier zitterte am ganzen Körper und witterte etwas mit der Schnauze im Wind. Er beobachtete menschengleich, wie ein Polizist die Einkaufstasche wieder füllte, und er interessierte sich auch für den Polizisten, der das Fahrrad aufstellte und zu einem Baum trug. Das Vorderrad war verbogen, der Lenker stand schief.
Als das Mädchen auf eine Tragbahre gehoben und in den Krankenwagen gerollt wurde, machte der Hund ein paar zaghafte Schritte nach vorne, mit der Vorsicht von sehr alten Frauen. Er beschnüffelte den Boden vor sich, ob der Boden sicher war. Er schaute unter seinen Augenbrauen hervor, dem Rettungswagen nach und bewegte seinen Kopf mit dem Fahrzeug mit, um die Ecke.
Ich stieg in den Kleinbus der Polizei.
Die Menschen auf der Straße verloren das Interesse. Sie gingen weiter, sie unterhielten sich noch ein wenig darüber und zeigten in die Richtung meiner Apotheke. Die Fenster des Parkhotels wurden mit viel Lärm geschlossen. Ich konnte das Zuziehen der Vorhänge hören. Das Stück war vorbei, es hätte besser sein können.
Die Straßenbahnschienen surrten. Die Linie 1 kam heran. Noch bevor sich die Straßenbahn bemerkbar machte, trollte sich der Hund von den Geleisen, doch es sah so aus, als ob es egal gewesen wäre, hätte das Verkehrsmittel sein Hinterteil erwischt. Die Straßenbahn klingelte, einem Schreien gleich, aber der Hund ließ sich nicht stören, er bewegte sich mit einem Satz auf die Verkehrsinsel.
Die Straßenbahn blieb an der Haltestelle stehen. Die Reisenden, die ausstiegen, schienen dem Hund Platz zu machen oder sich nach ihm umzusehen. Es gab auch welche, die ihm zulächelten.
Als die Straßenbahn ihren Weg in Richtung Mariatrost fortsetzte und um die Kurve bog, war der Hund auf einmal spurlos verschwunden. Die Straße lag verlassen da.
Ich sagte zu dem Polizisten, dass ich soeben einen Hund die Straßenbahn habe nehmen sehen.
Der Polizist verzog keine Miene. Er sagte: „Ich glaube Ihnen. Das ist wahrscheinlich derselbe Hund, der manchmal den Verkehr an der Kreuzung zwischen Annenstraße und Eggenberger Gürtel regelt. Wenn der Hund dort steht, passieren immer Unfälle, es ist schrecklich.“ Der Polizist spannte seine Lippen, als ob er damit zeigen wollte, dass er keinen Humor hatte, sich jedoch bemühte, und beugte sich über seine Notizen. Er war Linkshänder und machte Flecken. Er überflog kurz, was er aufgeschrieben hatte, und nickte einmal. „Aber gehört haben sie nichts?“
„Nein“, sagte ich. „Ich bin nicht jemand, der sich verschiedenen Dingen zugleich zuwenden kann. Wenn ich meine Buchhaltung erledige, höre ich sozusagen nur die Rechenmaschine. Wenn ich meine Jacke anziehe, dann suche ich die Löcher für meine Arme. Wenn ich die Treppe hinuntergehe, passe ich auf die Stufen auf.“
„Ich glaube Ihnen“, sagte der Polizist noch einmal, und eben schien es, als ob er wieder auf seine eigene Art grinsen würde, doch er spitzte seine Lippen und kniff ein Auge zusammen. „Sie haben nichts gesehen.“
„Nein“, wiederholte ich.
Meine Gedanken erklommen den Schlossberg. Auf einer kleinen Mauer gleich beim Uhrturm steht eine Hundestatue mit der Schnauze nach Süden. Das Tier hatte vor Jahren eine Frau gerettet. Ich weiß nicht, wann das war, und ob die Frau wichtig ist. Ich weiß auch nicht, wer die Statue auf dieser Gartenmauer platziert hat. Ich wollte dem Polizisten von dem steinernen Hund erzählen, doch ich schwieg, denn es tat nichts zur Sache. Der steinerne Hund hat mit seinem Bellen eine Frau gerettet, das blieb mir von der Geschichte in Erinnerung. Der Hund, den ich gerade gesehen hatte, hat nicht gebellt. Nachdem mir der Polizist meine Zeugenaussage vorgelesen hatte, durfte ich gehen. An der Reihe waren die Hertz Mädchen. Sie arbeiteten bei Hürlimann, vielleicht hatten sie etwas gesehen.
Ich ging noch eine Runde, wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich hatte die Hände auf dem Rücken, weil sich Gehen dann wie Schlendern anfühlt. Dennoch gelang es mir nicht, das Tempo zu finden, das ich gewöhnlich einhielt, meine eigene Gangart, die langsamer ist als Spazieren und genau die richtige Geschwindigkeit, um viel sehen zu können, aber wenig in mir aufzunehmen, sodass mein Herz schon schlafen gehen konnte, bevor ich im Bett lag.
Ich erwischte mich selbst dabei, dass ich meinen Oberkörper nach hinten, gegen den Wind lehnte, und dass meine Füße dadurch zu hasten anfingen. Jedesmal musste ich mich wieder einbremsen. Ich suchte das Lied, das ich öfter sang, das Lied, das zum Takt meiner trägen Abendspaziergänge passte, doch ich brummte nur falsch.
In der Glacisstraße blieb ich an der Häuserseite. Ich war auf der Hut vor der Dunkelheit unter den Bäumen auf der anderen Seite. Einmal wurde ich dort von einem Mann angepöbelt, der angab, bei den Kunstfelsen im Burghof zu wohnen und mich um Geld bat. Ich hatte in meinen Taschen nach den kleinen Münzen zwischen den großen gefischt und dann gelogen: „Hier. Nehmen Sie alles, was ich habe.“ Doch Angst kann man riechen und lügen hatte ich nie gelernt, und das hatte der Mann, der sagte, dass er hinter den Felsen wohnte, natürlich sofort kapiert. Er neigte sich zu mir und sagte mit seinem Gesicht ganz nahe bei meinem, dass er es schade fand, dass das alles war, was ich besaß, dann war ich nicht reich, kam ich öfter hierher, hatte ich keine Familie, wo wohnte ich denn, und er hob die Hand mit den Münzen zwischen unsere Gesichter und ging mit dem Daumen das Geld durch. „Arme suchende Seele“, sagte er – oder etwas Ähnliches. Seine Bemerkung ließ mich elendig zusammenschrumpfen, denn natürlich bin ich reicher als diese paar Münzen, ich habe eine Apotheke, die es schon fast ein Jahrhundert gibt, die Apotheke Eichler, besser bekannt als Zum guten Hirten, an der Ecke der Maiffredygasse und der Leonhardstraße.
Ich wurde langsamer und schaute über meine Schulter, obwohl ich überzeugt war, dass ich gegenüber niemanden gehen sehen und sich bewegen sehen würde, denn in dem Teil des Parks, der an den Opernring grenzt, ist es bis spätabends sicher. Jetzt, da ich hingesehen hatte, ging die Fantasie mit mir durch. Ein einfacher Ast war ein Mann, ein Schatten war ein Mann, die Spiegelung der Straßenlaterne in der Motorhaube eines geparkten Autos war ein Mann. Der Wind...




