Monroe Nur dieser eine Sommer
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-241-4
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-95576-241-4
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Welten prallen auf einander. Die erfolgreiche Geschäftsfrau Cara hat nur ihre Karriere im Sinn. Brett ist ein engagierter Naturforscher, der weiß, was im Leben wirklich zählt. Und dennoch fühlen sie sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. In dem Naturparadies 'Isle of Palms' erleben beide einen Sommer der Entscheidungen. Für die Liebe, für das Leben.
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PROLOG
Der Tag ging zur Neige; gemächlich versank die gleißend rote Sonne im Dunst draußen vor der Küste von South Carolina. Lovie Rutledge stand allein auf einer niedrigen, sanft geschwungenen Düne und beobachtete zwei kleine Kinder, deren Haar die gleiche Farbe aufwies wie der Sand. Unter Gekreisch und Getobe spielten sie Fangen mit dem Meer – das uralte Spiel. Lovies Mundwinkel hoben sich unter dem Anflug eines unsicheren Lächelns. Der Junge war höchstens vier, und doch ging er mit seinem Stock, den er wie einen Degen zur Attacke zückte, unerschrocken auf die Brandung los. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte, die Welle dicht auf den Fersen, wieder den Strand hinauf. Meist allerdings wurde der arme kleine Kerl doch noch vom Wasser erwischt. Aber das Mädchen! Wie alt mochte die Kleine sein? Sieben? Acht? verstand sich aufs Fangenspielen! Auf Zehenspitzen tänzelte sie gefährlich nah an die Schaumkronen heran, erkannte instinktiv, wann sie zurückweichen musste, und neckte die Wogen mit hellem Gelächter.
Das Mädchen erinnerte Lovie an ihre Tochter. Wie sehr sie doch meiner Cara ähnelt, ging ihr durch den Kopf. Ein unterdrücktes Lachen entfuhr ihr, als der Bub von einer tückischen Welle erfasst, umgeworfen und kopfüber herumgewirbelt wurde, sodass er zornig nach Luft schnappte. Haargenau wie Palmer, wie mein eigener Junge! Ganz in der Nähe begann die junge Mutter der beiden die Sachen zusammenzupacken, bückte sich nach achtlos beiseite geworfenen Eimerchen und Buddelschippen, räumte die Spielsachen in einen Segeltuchbeutel und schüttelte den Sand aus den Strandtüchern.
Lass das, guck stattdessen deinen Kindern zu, hätte Lovie der jungen Mutter am liebsten zugerufen. Rasch! Hör mit dem Aufräumen auf, und schau dich um! Erkennst du, wie unbeschwert die Kleinen lachen? So lachen nur unsere Allerjüngsten! Sie ermöglichen uns auf diese Weise Rückschlüsse auf ihr Wesen! Koste sie aus, diese Augenblicke! Genieße sie! Denn sie vergehen so schnell wie der Sonnenuntergang, und eh du dich versiehst, bist du wie ich – eine alte, einsame Frau, die alles, buchstäblich alles dafür gäbe, noch einmal an einem milden Abend wie diesem mit ihren Kleinen beisammen zu sein.
Sie schlang die Arme um den Leib und seufzte. „Lovie, jetzt reicht es aber“, ermahnte sie sich kopfschüttelnd. Natürlich hätte sie der jungen Mutter auf keinen Fall ihre Gedanken mitgeteilt. Es wäre ungebührlich und zwecklos obendrein gewesen. Die Mutter hatte den Kopf voll mit anderen Dingen, musste an vieles denken, noch vieles tun. Sie verstünde Lovies Ratschlag wahrscheinlich erst, wenn die Kinder erwachsen und ausgeflogen wären. Eines Tages würde sie sich an diese Dämmerstunde erinnern, an den Anblick ihrer über den Strand tobenden Rangen, und dann … ja, würde sie sich wünschen, sie hätte beim Aufräumen innegehalten, die Kleinen bei den rundlichen Händchen genommen und gemeinsam mit den beiden Fangen gespielt.
Lovie verfolgte, wie die Szene sich in vorhersehbarer Weise weiter entwickelte: Die Strandtücher wurden zusammengefaltet und im Beutel verstaut, der Nachwuchs vom Meeresrand zurückkommandiert, und während sich allmählich die Dunkelheit herabsenkte, führte die Mutter ihre ermatteten Krieger in formlosem Gänsemarsch über die Düne. Schließlich waren sie außerhalb von Lovies Sichtweite.
Nun herrschte Stille an diesem vertrauten Strandabschnitt. Wieder war ein Tag vergangen. Ein Strandläufer stakste in seiner typischen steifbeinigen Art an der Schaumlinie der Wellen entlang und äugte nach Beute. Hinter Lovie wiegte sich der Strandhafer in der Abendbrise. Lovie schloss die Augen, überließ sich bewusst dieser wundersamen Melodie. Friedliche Abende wie dieser würden sich nun nicht mehr allzu oft einstellen. Es war Mitte Mai, die Ferienzeit lag nicht mehr fern; nicht mehr lange, und an der Küste von South Carolina würde die Urlaubssaison in vollem Gange sein.
Und bald schon, dachte Lovie, kommen auch meine geliebten Schildkröten.
Geraume Zeit schaute sie unbewegt aufs Meer hinaus, während sich um sie herum der Himmel dunkler färbte. Sie spürte geradezu, wie dort draußen, in der unter den Winden rollenden, wogenden Dünung, eine Meeresschildkröte auf ihre Zeit wartete, geduldig ausharrte, bis ihr ein mächtiger Instinkt eingab, dass nun der Augenblick da war, um sich an Land zu wagen. Sommer für Sommer, so lange schon, dass sie die Jahre gar nicht mehr zu zählen vermochte, hatte Lovie ihr Möglichstes getan, um den Meeresschildkröten durch die Phase der Eiablage zu helfen. Nicht ausgeschlossen, dass sich unter der diesjährigen Schar von Muttertieren sogar ehemalige Junge befanden, die Lovie vor zwanzig Jahren beschützt hatte, als sie ins Meer krabbelten. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.
Lovie lief hinunter zur Wasserlinie, direkt zu der Stelle, wo ihr die Wellen bis an die Zehen schwappten. Als sie klein war – ach, vor so vielen Jahren –, da hatte auch sie mit dem Ozean Haschen gespielt und war kichernd vor den heranrollenden Wogen weggerannt, genauso wie ihre Kinder und Enkelkinder. Doch nun waren sie alte Freunde, Lovie und das Meer. An diesem Abend hatte sie sich eingefunden, um sich von ihm trösten zu lassen. Lovie verharrte regungslos; jedes Kräuseln der Wellen um ihre Knöchel spürte sie wie eine zärtliche Berührung, und das sanfte Rauschen der Brandung kam ihr vor wie Liebesgeflüster.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Anblick der jungen Mutter mit den beiden Kleinen hatte Bilder heraufbeschworen, die zwar voller Freude waren, ihr aber gleichzeitig das Herz schwer werden ließen. Zu rasch war die Zeit verflogen, waren ihr die Jahre wie Sand zwischen den Fingern zerronnen. Sie reckte das Kinn und wischte sich eine Träne von der Wange. Vor ihr erstreckte sich die tiefblaue Weite gleichsam bis in die Unendlichkeit. Dies ist nicht die Zeit für Tränen, schimpfte Lovie mit sich selbst. Du in deinem Alter müsstest wissen, dass das Leben nicht immer fair mit einem umspringt, genauso wenig wie die See. Und dennoch habe ich immer eins geglaubt: Wenn ich mich nur an die Regeln halte und lange genug durchstehe, dann bleibt mir eines Tages genug Zeit, um …
Um was zu tun? fragte sie sich verwirrt. Noch immer war ihr nicht ganz klar, was genau eigentlich in der Beziehung zu ihren Kindern fehlte. Besonders im Verhältnis zu ihrer Tochter. Als kleine Kinder hatten Cara und Palmer unter den wachsamen Blicken der Mutter genau an diesem Stück Strand zusammen gespielt. Damals waren sie einander nahe gewesen, hatten so viel Spaß miteinander gehabt. Nun allerdings, da Lovies Kinder erwachsen waren, ließ sich fast Zoll für Zoll messen, wie sehr sie sich auseinander gelebt hatten, wie sehr sich die Distanz zwischen ihnen mit den Jahren vergrößert hatte.
Sie wandte sich ab, wanderte den Strand entlang auf die drei Grundstücke zu, die in diesem Abschnitt wertvollen Baulands noch unerschlossen waren, und erklomm die kleine Düne. Jenseits der Grundstücke, in einiger Entfernung, konnte sie ihr Strandhaus erkennen, das auf einem Sandhügel thronte und fast hinter einer Reihe von hohen, schlanken Oleanderbüschen verschwand. Sein einst leuchtend gelber Anstrich war unter der Sonne abgeblättert und konnte mit dem prachtvollen Gelb der Schlüsselblumen, die wild in den Dünen wuchsen, nicht mehr mithalten. Sämtliche Winkel und Ecken, sämtliche malerischen Glasscheiben des Häuschens waren Lovie trotzdem lieb und teuer. Ihr „Primrose Cottage“, ihr Haus inmitten der Primeln, war mehr als nur ein Haus am Meer. Sie betrachtete es als eine Art Sinnbild: ein Ort des Sonnenscheins und des Glücks für sie selbst und ihre Kinder.
Einsam stand Lovie da und schaute gen Westen. Das letzte Licht des Tages erlosch, dunkel und still senkte die Nacht sich herab. Man hörte nur das Rascheln des wogenden Strandhafers und das sanfte Plätschern der Brandung. Während die Geister der Vergangenheit erwachten und sich Phantomen gleich in den betörenden Farben der Dämmerung wanden, seufzte Lovie und faltete die Hände wie zum Gebet. Die alte Frau ging auf die siebzig zu. Für Bedauern oder für Zweifel, für Träume von dem, was vielleicht hätte sein können, hatte sie keine Zeit mehr. Sie musste planen. Das Strandhaus mit all den Geheimnissen, die es barg, sollte in sichere Hände übergehen. Zu lange Jahre war zu viel geopfert worden, als dass man die Geheimnisse nunmehr hätte preisgeben können. Für zu viele Menschen stand der Ruf auf dem Spiel.
Nur eine einzige Hoffnung blieb ihr.
„Lieber Gott“, betete sie, wobei ihr die Stimme keuchend aus der wie zugeschnürten Kehle drang. „Ich bin nicht gekommen, um mich zu beklagen. Dazu kennst du mich nach all den Jahren viel zu gut. Doch in der Bibel steht, dass du nie eine Tür verschließt, ohne gleichzeitig ein Fenster zu öffnen. Deshalb flehe ich dich an, dieses Fenster jetzt aufzumachen. Du weißt, wie die Dinge zwischen mir und Cara stehen. Wahrscheinlich bedarf es eines Wunders, damit wir Frieden schließen. Doch du genießt einen gewissen Ruf als Wundertäter, und das lässt mich hoffen. Bitte, lieber Gott, mehr verlange ich nicht. Auch keinen Aufschub. Ich würde willig hinscheiden, wenn ich sicher sein könnte, der Streit wäre beigelegt, bevor ich diese Welt verlasse.“ Sie lächelte wehmütig. „Willig oder nicht, gehen muss ich so oder so – auch das ist mir bewusst.“ Ihr Lächeln erstarb, als sie schmerzhaft das Gesicht verzog. „Bitte, lieber Gott, erfülle mir diese kleine Bitte. Nicht bloß meinetwegen, sondern um Caras willen. Gib, dass ich noch ein einziges Mal mit meinem Kind spielen darf, ehe ich sterbe. Schicke mir meine Cara heim.“
...