E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Monsaingeon Ich denke in Tönen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-949203-61-9
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gespräche mit Nadia Boulanger
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-949203-61-9
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Lehrer, Freund und Inspirator vieler berühmter Komponisten, Pianisten, Musiker und Intellektueller im 20. Jahrhundert war eine Frau: Nadia Boulanger hat das musikalische Geschehen ihrer Zeit bestimmt wie niemand sonst, und aus diesen ebenso klugen wie unterhaltsamen Gesprächen mit Bruno Monsaingeon erfährt man, warum. Die Liste ihrer Schüler ist lang und prominent: Leonard Bernstein und Igor Strawinsky blieben ihr zeitlebens ergeben, mit Ravel machte sie Hausaufgaben, berühmt gewordene junge Künstler wie Philip Glass und Quincy Jones hatten ihr viel zu verdanken. Der große Paul Valéry sagte über seine Freundin: »Sie atmet, was wir hören.«
»Mit ihrem einzigartigen Charakter hat sie Generationen von Musikschaffenden geprägt. Viele von Nadia Boulangers Schülerinnen und Schülern zählen heute zu den bedeutendsten Komponistinnen und Komponisten des 20. Jahrhunderts, während sie selbst als wegweisende Lehrerin vielen Menschen immer noch unbekannt ist.«
Boulanger Trio
Bruno Monsaingeon, geboren 1943, ist ein französischer Geiger, Filmregisseur und Schriftsteller. Vor allem seine Filmdokumentationen über die Pianisten Glenn Gould und Swjatoslaw Richter gelten als zeitgeschichtliche Zeugnisse. Sein Buch Swjatoslaw Richter: Mein Leben, meine Musik erschien 2015 auf Deutsch (Staccato).
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Die Aufmerksamkeit
Ich bin ein einziges Mal in Athen gewesen, drei Stunden lang. Das hat mein ganzes Leben für immer verändert. Ich habe die Akropolis gesehen, ich habe das gesehen, was all das ausmacht, was wir sind, all das, was wir an Kostbarem, Ernstem, Freudigem in uns tragen. »Weil uns die Leidenschaft umtreibt, haben die Griechen Minerva auf den Altar gestellt«, hat Maurras geschrieben. Als Kind habe ich von Griechenland geträumt, und das Wort Grèce hat in mir mehr heraufbeschworen, als ich wirklich zu begreifen verstand. Ich hatte das Glück, von einer unwahrscheinlich klugen Mutter erzogen zu werden. Sie liebte mich – vor meiner Geburt hatte sie ein Kind verloren, ich war dann wie ein Wunder, das ins Haus kam, aber so sehr liebte sie mich nicht, dass sie nicht unerbittlich in ihrem Urteil gewesen wäre. Es gab etwas, das sie niemals zuließ: mangelnde Aufmerksamkeit. Ich bin groß geworden in dem Bewusstsein, dass es ausgeschlossen ist, nicht ganz genau achtzugeben, weil ohne Aufmerksamkeit kein Bewusstsein von der eigenen Individualität möglich ist. Das ist es, was mir am häufigsten zu fehlen scheint, und im Grunde ist das eine Charakterfrage. Es gibt Menschen mit einem so hohen Grad an Konzentration, dass alles wichtig wird; bei anderen geht alles vorbei und alles wird vergessen, sie werden morgen wieder tun, was sie heute getan haben, es ist keine Entwicklung möglich, weil das, was eingetreten ist, sofort wieder verschwindet. Und es gibt Menschen, die verbringen zwanzig Jahre, vierzig, fünfzig Jahre damit, zu finden, was sie suchen. Bevor man also jemanden zu etwas ermuntert, muss man wissen, ob er in sich eine Liebe trägt, ob er sich dafür interessieren kann, was er tut, was immer es auch sei (denn wenn man sich irgendetwas widmet, hat das ein Interesse in sich). Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Menschen, der den einen eine außerordentliche Reichweite ihrer Aktivität schenkt und aus den anderen das macht, was ich die Schläfer nenne. Ich glaube, dass man diejenigen, die schlafen, auf keinen Fall aufwecken sollte, dass es keinen Zweck hat, sie zu wecken – sie sind sehr lieb, sehr glücklich, sie befinden sich wohl, sie sind menschlich gerechtfertigt, sie sind, was sie sind. Ist Aufmerksamkeit lehrbar? Ich weiß es nicht. Aber ich behaupte: Wer handelt, ohne aufmerksam zu sein, verliert sein Leben. Ich würde sogar so weit gehen, dass sein Leben durch den Mangel an Aufmerksamkeit ausgelöscht wird, ob er nun Fenster putzt oder versucht, ein Meisterwerk zu schreiben. Wir werden immer wieder auf den wundervollen Abschnitt bei Bergson zurückverwiesen, wo er erklärt, dass der Mensch vor dem Chaos der Natur steht und es ihm in gewissem Maße obliegt, dieses Chaos zu organisieren. Dann führt er aus, wie der Mensch unter diesen Bedingungen sich dabei überrascht, dass er ein viel größeres Potential des Denkens, des Begreifens besitzt, als er glaubte. »Die Philosophen, die über diese Frage nachdenken, haben nicht hinreichend betont, dass die Natur uns ein Zeichen gibt, wenn das Ziel erreicht ist.« Und er fügt das wunderbare Bild hinzu: »Dieses Zeichen ist die Freude, ich kann sie nur als etwas wesentlich Göttliches bezeichnen.« Und er schließt boshaft: »Man sucht Lob nur in dem Maße, in dem man sich nicht sicher ist, dass man erfolgreich war. Wer sich dessen gewiss ist, der braucht keine Zustimmung, er weiß es.« Was also ist es, diese Kraft, welche Heilige hervorbringt, Helden, Genies, jene Menschen, die ihrer Bestimmung bis zum Schluss folgen? Sie ist jedem gegeben. Das gilt für den Wagner des Rings des Nibelungen genauso wie für den anonymen Fensterputzer oder für das Kind, bei dem wir nur ein rudimentäres Bewusstsein zu erkennen glauben. Ich weiß nicht, ob Sie kleine Kinder mögen, Sie sind wahrscheinlich zu jung; ich liebe sie, aber sie machen mir Angst, weil ich nicht weiß, was ich zu ihnen sagen soll. Und doch werde ich es nie vergessen, wie ich einmal einem Kind von vierzehn Monaten ein Päckchen mitgebracht habe, in dem ein Teddybär war oder irgendetwas, ich weiß es nicht mehr. Das Kind hat sich gar nicht damit befasst. Es war von der Schnur fasziniert! Man konnte seinen Geist und seine kleinen Finger gar nicht mehr von dem Versuch abbringen, den Knoten zu lösen. Es gibt Menschen, die geben einem so die Hand, dass man das Gefühl hat, einen toten Fisch zu berühren; nicht sehr angenehm. Umgekehrt gibt es welche, wo sich bei einer solchen Berührung, die, wie man weiß, nur ganz flüchtig ist, ein Austausch ergibt, ein ungewöhnlicher Austausch zwischen dieser Person und einem selbst. Und alle beide werdet ihr bald sterben, verschwinden, oder eine unbekannte Form annehmen in dem, was ist. Es gibt eine Zeile im Werk von Shakespeare, im Hamlet, an die ich jeden Tag meines Lebens denke, ausnahmslos: »Words without thoughts never to Heaven go.« Worte ohne Gedanken gehen nie zum Himmel. Wenn ich »Guten Tag« zu Ihnen sage, ohne dabei etwas zu denken, existiere ich nicht. Als wir in Rom waren – meine Schwester war neunzehn, sie hatte den Prix de Rome bekommen, sie war im Vollbesitz all ihrer Anmut und Offenheit –, gingen wir im Garten der Villa Medici spazieren. Wir gingen durch diesen Park mit der Illusion der Jugend, die glaubt, ihre Zeit würde immer fortdauern, und da war eine alte Frau, die Unkraut jätete; ihre Haut war voller Falten, ihre Züge zeigten, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Es war das Jahr 1913, und diese Begegnung spielt noch heute eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben. Wir gingen an ihr vorüber, sie hob den Kopf, lächelte unbeschreiblich und sagte zu uns: »Buon giorno, e per tutto il giorno.« Und in dem Augenblick, da sie uns einen guten Tag wünschte, »und für den ganzen Tag«, lächelte sie uns an. Schon dieses Lächeln war ein Geschenk. Wir hätten das begreifen und uns bedanken sollen. Fünfundsechzig Jahre sind vergangen, meine Schwester ist 1918 gestorben, aber wenn ich diesen Ausdruck höre, denke ich: »Vergiss nicht, dass deine Tage gesegnet sind, du kannst sie nutzen oder nicht, aber sie sind gesegnet.« Das geht doch nicht, sagen Sie mir, das heißt, das Leben allzu ernst nehmen? Aber mir ist es gleich, ob das geht oder nicht, lächerlich ist oder naiv, ich verdanke meine größten Freuden – und ich glaube, so geht es allen Menschen – jenen Augenblicken, in denen man wahrhaft erfasst hat, was vor einem liegt, und nicht dessen Äußeres gefühlt hat, sondern seine Tiefe. Dieser überwältigende Augenblick, der sich aus dem »Buon giorno, e per tutto il giorno« ergibt, ist an sich nichts – nur eine alte Frau, die altes Kraut pflückt, aber sie hat eine Seele von Diamant, und diese lässt sie das Genie des Herzens erlangen, die Heiligkeit des Geistes, die nichts auszudrücken hat als das, was von ihrem Herzen inspiriert wird, und dieses macht, dass das nicht sie ist, dass das nicht ich bin. Sie spürt, dass es einen Zustand gibt, der macht, dass der Tag schön ist, dass dieser Zustand schön sein kann und dass all das, was aus diesem Zustand hervorgeht, eine Gnade ist. Mir scheint, Aufmerksamkeit ist jener Zustand, der uns erlaubt, wahrzunehmen, was sein muss. Er entspricht der visionären Sichtweise der großen Mystiker. Es gab Tage, da war es ihnen gegeben, aufmerksam zu sein. Mir fällt oft die heilige Teresa von Ávila ein, die, obgleich sie eine große Heilige war, ein großer Geist, Tage hatte, welche sie die »Tage der trockenen Gebete« nannte, da sie betete, betete – sie hörte nie auf zu beten –, aber: nichts! Und dann kam der Tag, da sie etwas hörte. In der Kunst nennen wir das Inspiration. Es ist der Augenblick, da ein Mensch sein Denken, sein wahres Denken, bis auf den Grund zu fassen vermag, der Augenblick, wo wir die Wahrheit berühren, wo eine Kommunion sich herstellt. Dieses Jahr hat Menuhin ein Konzert gegeben, ein wirklich hervorragendes Konzert. Er hat mehrere Zugaben gespielt, und die letzte war der langsame Satz aus der d-Moll-Sonate von Brahms. Was hat sich in diesem Moment ereignet? Wir kommen in den Bereich des nicht mehr Sagbaren. Der ganze Saal war von ein und demselben stummen Gefühl ergriffen, das zu einer außerordentlichen Stille führte. Alle haben begriffen, gefühlt, teilgenommen an dem, was er selbst gefühlt haben muss. Ich glaube, das ist ein Augenblick, den er selbst nicht vergessen wird, der in gewisser Weise über ihn selbst hinausgeht, in das höhere Stockwerk, wohin wir, scheint mir, nicht häufig gehen. Wir sind zu schwach dafür, oft dorthin zu gehen, zu dem vorzudringen, was wir erlangen dürften, wenn wir uns wahrhaftig sammeln könnten. Auf einer anderen Ebene: Ich war kürzlich bei Rostropowitschs Proben zu Tosca. Ob zu Recht oder zu Unrecht, ich kann sehr gut leben, ohne Tosca zu hören – ein Meisterwerk, das sehe ich schon ein, aber ich muss das nicht haben. Aber von einer dieser Proben ist mir eine unauslöschliche...