E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Montag Die Welt nach der Flut
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95967-902-2
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-95967-902-2
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor sechs Jahren musste die damals hochschwangere Myra hilflos zusehen, wie ihr Mann ihre älteste Tochter Row kidnappte und mit einem Boot über die dunklen Fluten davonfuhr. Sie hatte keine Chance, sie einzuholen. Denn die Erde ist nicht mehr, wie sie einst war: Seit der großen Klimakatastrophe gibt es kein Festland mehr, lediglich Archipele, die ehemaligen Bergregionen, auf die sich die verbliebenen Menschen gerettet haben. Doch nun bekommt Myra eine einmalige Chance: Mit ihrer jüngsten Tochter darf sie auf einem Boot mitreisen. Eine Chance auf eine Zukunft, auf ein neues Leben. Doch sie hat Row niemals vergessen, und als sie auf der Reise Hinweise auf den Aufenthaltsort ihres Kindes bekommt, bringt sie die Crew dazu, den Kurs zu ändern. Eine dramatische Entscheidung mit der sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das aller auf dem Boot in große Gefahr bringt.
»Die herzzerreißende, oft harte Geschichte einer Mutter auf der Suche nach ihrer verlorenen Tochter in einer postapokalyptischen Welt. Wirkt lange nach.« Bestsellerautorin Liv Constantine
Kassandra Montag ist Poetin und Autorin. Ihre Werke wurden in diversen amerikanischen Literaturzeitschriften veröffentlich. Sie ist Preisträgerin des Plainsongs Awards, des New Year Poet's Award und des 1877 Awards.
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Kapitel 1
Sieben Jahre später
Über dem Boot kreisten Möwen. Sie erinnerten mich an Row. Wie sie kreischend mit den Armen wedelte, als sie ihre ersten Schritte machte. Wie sie fast eine Stunde lang völlig regungslos am Platte River stand und mit mir zusammen den Zug der Kanadakraniche beobachtete. Sie hatte immer selbst wie ein Vogel gewirkt, mit ihrem zierlichen Körper und den rastlosen Augen, mit denen sie unablässig den Horizont absuchte – scheinbar jederzeit bereit, sich in die Lüfte zu erheben.
Unser Boot ankerte vor einer Felsküste, die früher einmal ein Teil von British Columbia gewesen war, knapp außerhalb einer kleinen Bucht, wo das Wasser in einer Senke zwischen zwei Berggipfeln stand. Wir verwendeten zwar immer noch die Namen der alten Meere, doch in Wahrheit waren sie längst zu einem einzigen riesigen Ozean zusammengeflossen, mit kleinen Fleckchen Festland darin, die wie vom Himmel gefallene Brotkrumen aussahen.
Am Horizont graute der Morgen. Pearl verstaute das Bettzeug unter der Persenning, dort, wo sie vor sieben Jahren zur Welt gekommen war. Während eines Gewittersturms, dessen Blitze so weiß glühend gewesen waren wie meine Schmerzen.
Als ich die Krebsreusen mit Ködern befüllte, kroch Pearl wieder unter der Abdeckung hervor. In einer Hand hielt sie eine kopflose Schlange, in der anderen ihr Messer. Um ihre Handgelenke wanden sich noch weitere Schlangen. Sie sahen wie Armbänder aus.
»Die werden wir heute Abend essen müssen«, sagte ich.
Sie warf mir einen missmutigen Blick zu. Pearl sah ihrer zierlichen Schwester überhaupt nicht ähnlich. Während Row meine dunklen Haare und grauen Augen geerbt hatte, schlug Pearl mit den zerzausten roten Locken und der sommersprossigen Nase eher nach ihrem Vater. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie sogar so dastand wie er – stabil und unverrückbar, mit beiden Beinen fest auf dem Boden, das Kinn leicht gehoben, die Schultern ein wenig zurückgenommen und die Brust herausgestreckt. Als wollte sie der Welt beweisen, dass sie keine Angst vor ihr habe.
Ich hatte sechs Jahre lang nach Row und Jacob gesucht. Nachdem sie verschwunden waren, bestiegen Großvater und ich sein selbst gebautes Boot, die Bird, und stachen ebenfalls in See. Kurz darauf war Pearl zur Welt gekommen. Ohne Großvater hätten Pearl und ich das erste Jahr nie überlebt. Während ich Pearl stillte, fing er Fische und sammelte Informationen von allen, denen wir begegneten. Außerdem brachte er mir bei, wie man segelt.
Seine Mutter hatte, wie ihre Vorfahren, Kajaks gebaut. Als Kind hatte er ihr dabei zugesehen, wie sie aus Holz eine Art Brustkorb formte, in dem ein Paddler so sicher aufgehoben war wie ein Ungeborenes im Bauch seiner Mutter. Da sein Vater Fischer war, hatte Großvater seine Kindheit in den Küstengewässern vor Alaska verbracht. Während der Hundertjährigen Flut war er gemeinsam mit Tausenden anderen landeinwärts bis nach Nebraska gezogen. Dort arbeitete er viele Jahre lang als Zimmermann und sehnte sich immer nach dem Meer.
Großvater hatte auch dann nach Jacob und Row Ausschau gehalten, wenn ich es nicht übers Herz brachte. An manchen Tagen konnte ich nur matt hinter ihm hertrotten und mich um Pearl kümmern. In jedem Dorf hatte er die Boote im Hafen nach ihnen abgesucht, in allen Saloons und Handelsposten Fotos von den beiden herumgezeigt. Und jedes Mal, wenn wir auf dem offenen Meer einem anderen Fischer begegnet waren, hatte Großvater ihn gefragt, ob er vielleicht Row und Jacob gesehen habe.
Aber dann war Großvater gestorben und hatte mich mit dieser Mammutaufgabe allein gelassen. Pearl war damals noch ein Säugling gewesen, und ich versank fast in Verzweiflung. Doch dann band ich sie mir mit einem alten Schal vor die Brust, wo sie sich gemütlich an mich schmiegen konnte, und machte da weiter, wo Großvater aufgehört hatte: Ich suchte die Häfen auf, fragte die Einheimischen aus und zeigte jedem die Fotos. Eine Zeit lang erfüllte es mich sogar mit neuer Energie, dass ich mehr tat, als nur ums Überleben zu kämpfen und einen Fisch nach dem anderen in unser kleines Boot zu ziehen … etwas, das mir Hoffnung gab.
Bis Pearl und ich vor einem Jahr in einem kleinen Dorf in den nördlichen Rockies angelegt hatten. Die Ladenfronten waren heruntergekommen, und in den staubigen Straßen häufte sich der Müll. Es war eines der überfülltesten Dörfer, in denen ich je gewesen war. Die Menschen eilten auf der Hauptstraße hin und her, in der es vor Verkaufsständen und fliegenden Händlern nur so wimmelte.
Wir kamen an einem Stand mit Waren vorbei, die vor der Flut auf den Berg hinaufgeschafft worden waren: mit Benzin und Kerosin gefüllte Milchkartons, Schmuck, der eingeschmolzen und zu etwas Neuem umgearbeitet werden konnte, eine Schubkarre, Lebensmittelkonserven, Angelruten und kistenweise Kleidung.
Der Standbesitzer nebenan verkaufte dagegen Dinge, die nach der Flut produziert oder gefunden worden waren: Pflanzen und Saatgut, Tontöpfe, Kerzen, ein Holzeimer, Alkohol aus der hiesigen Schnapsbrennerei und geschmiedete Messer. Er hatte auch Kräuterpäckchen im Angebot, die mit großspurigen Versprechen warben: WEIDENRINDE GEGEN FIEBER! ALOE VERA GEGEN VERBRENNUNGEN!
Ein paar der Gegenstände waren rostig und hatten offenkundig im Wasser gelegen. Die Händler bezahlten Taucher, damit sie in versunkenen Häusern nach Dingen stöberten, die vor der Flut liegen geblieben und seither nicht völlig verrottet waren, wie zum Beispiel einen korrodierten Schraubenzieher oder ein verschimmeltes gelbfleckiges Kissen.
Im Verkaufsstand gegenüber gab es ausschließlich kleine Fläschchen mit abgelaufenen Medikamenten und Munitionsschachteln, die von einer Frau mit einer Maschinenpistole bewacht wurden.
Ich transportierte alle Fische, die mir ins Netz gegangen waren, in einem Schulterbeutel und hielt den Gurt fest umklammert, während wir auf der Hauptstraße zum Handelsposten gingen. An der anderen Hand hielt ich Pearl. Ihre roten Haare waren so spröde, dass sie allmählich dicht über der Kopfhaut brachen. Ihre Haut war schuppig und leicht gebräunt, was aber nicht an der Sonne lag, sondern an einem beginnenden Skorbut. Ich musste Obst für sie und besseres Angelgerät für mich besorgen.
Im Handelsposten legte ich die Fische auf die Theke und begann, mit der Ladenbesitzerin zu feilschen. Sie war eine stämmige Schwarzhaarige mit starkem Akzent und einem zahnlosen Unterkiefer. Wir verhandelten eine Zeit lang hin und her und einigten uns schließlich auf eine Orange, eine Angelschnur, ein Vorfach und ein Fladenbrot. Nachdem ich alles in meinem Beutel verstaut hatte, breitete ich die Fotos von Row vor der Frau aus und fragte sie, ob sie das Mädchen auf den Bildern kenne.
Schweigend betrachtete sie einen Moment die Aufnahmen und schüttelte schließlich langsam den Kopf.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich, irritiert von ihrem Zögern.
»Ich kenne kein Mädchen, das so aussieht«, sagte sie und packte weiter meinen Fisch weg.
Pearl und ich folgten der Hauptstraße zum Hafen hinunter, wo ich die Schiffe überprüfen wollte. In diesem dicht besiedelten Dorf musste Row der Ladenbesitzerin nicht unbedingt über den Weg gelaufen sein, selbst wenn sie hier war. Pearl und ich gingen Hand in Hand und hielten uns von den Händlern fern, die aus ihren Ständen heraus nach uns griffen. Unbeirrt riefen sie uns ihre Angebote hinterher: »Frische Zitronen! Hühnereier! Sperrholz zum halben Preis!«
Als ich vor mir ein Mädchen mit langen dunklen Haaren und einem blauen Kleid entdeckte, blieb ich unvermittelt stehen. Das war Rows Kleid: Es hatte das gleiche Paisleymuster, Rüschen am Saum und ausgestellte Ärmel. Mein Blickfeld verengte sich, und ich bekam kaum noch Luft. Ein Mann hielt mich am Ellbogen fest und wollte mir sein Brot aufdrängen, aber seine Stimme drang wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Mir wurde schwindelig vom Anblick des Mädchens.
Mit Pearl im Schlepptau eilte ich ihr nach und stieß im Laufen einen Obstkarren um. Unten am Hafen glitzerte der Ozean kristallblau. Das Wasser sah plötzlich frisch und sauber aus.
Ich packte das Mädchen an der Schulter, drehte es zu mir herum und rief: »Row!« Gleich würde ich ihr Gesicht wiedersehen und sie in die Arme schließen.
Doch es war ein anderes Gesicht, das mich anstarrte.
»Fassen Sie mich nicht an«, zischte das Mädchen und entwand sich meinem Griff.
Ich wich einen Schritt zurück. »Entschuldige. Es tut mir leid.«
Das Mädchen lief weg und sah sich dabei immer wieder ängstlich nach mir um.
Ich stand auf der Straße, um mich herum wirbelte Staub auf. Pearl vergrub das Gesicht an meiner Hüfte und hustete.
Es ist ein anderes Mädchen, sagte ich mir und versuchte, mich auf diese neue Realität einzustellen.
Jemand stieß mich fest an und riss mir den Beutel von der Schulter. Pearl fiel zu Boden, ich stolperte zur Seite und stützte mich an einem Stand mit gebrauchten Reifen ab, um nicht auch noch hinzufallen.
»Hey!«, schrie ich der Frau hinterher, die von der Hauptstraße wegrannte und hinter einer Bude mit Stoffrollen verschwand. Ich setzte ihr nach, sprang über einen kleinen Wagen, der mit Küken beladen war, und wich einem alten Mann mit Gehstock aus.
Während ich rannte, drehte ich mich im Kreis und hielt nach der Diebin Ausschau. Die Menschen um mich herum gingen einfach weiter, als wäre nichts passiert. Die vielen Körper und Stimmen bereiteten mir Übelkeit. Ich suchte scheinbar ewig nach ihr, während es um mich herum dunkler wurde und die Sonne immer längere Schatten...