E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Morrison Nina X
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8438-0621-3
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-8438-0621-3
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nina X ist die Geschichte einer außergewöhnlichen jungen Frau, die von Geburt an in einer maoistischen Kult-Kommune in 'ideologischer Reinheit' erzogen wird und dann in unsere moderne Welt flieht. Über 20 Jahre lang hat Nina X keine Bücher, keine Spielsachen und keine Privatsphäre. Ihre engste emotionale Beziehung unterhält sie zu den Vögeln vor ihrem Zimmerfenster, wenn sie mutig genug ist, die Gipsplatte zu entfernen, die es verdeckt. Nina hat das kleine Haus in London noch nie verlassen. Sie hat nie ein anderes Kind getroffen. Sie hat keine Mutter und keinen Vater; sondern einen Führer und vier Genossinnen. Der allmächtige Führer nennt sie Das Projekt; sie wird von den 'falschen Göttern des Kapitalismus' und vom 'Kult um das Ich und das Selbst' ferngehalten. Der Führer verlangt von ihr, alles in Notizbüchern festzuhalten, um ihre Gedanken verfolgen zu können; zwingt sie, die Einträge so lange zu überarbeiten und umzuschreiben, bis sie seiner Vorstellung entsprechen. Ihre eigenen Worte werden ausgelöscht, wieder und wieder ...Doch das war damals. Jetzt ist Nina in Freiheit, und alle Regeln haben sich verändert. Sie muss sich immer wieder sagen, dass jetzt alles das Gegenteil von dem ist, was sie gelernt hat - und trotzdem ergibt die Welt immer noch keinen Sinn. Ein geheimnisvoller Roman mit einer exzentrischen, unzuverlässigen Protagonistin, die unsere Welt in einem ganz anderen Licht sieht.
Ewan Morrison, geboren 1968, ist ein mehrfach ausgezeichneter schottischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Essayist. Eine unverkennbare Stimme in der britischen Literatur. Jurymitglied des Booker Prize Stuart Kelly bezeichnet ihn als 'sprachgewandtesten und intelligentesten schottischen Schriftsteller seiner Generation'. Er ist der Autor von Tales From The Mall, der Trilogie Swung (Swinger, dt. C. Bertelsmann 2008), Distance und Ménage, des Romans Close Your Eyes und der Sammlung The Last Book You Read and Other Stories. 2006 war er Writer in Residence der UNESCO Edinburgh City of Literature in Varuna. Morrison ist als 'Provokateur' in seinen öffentlichen Reden und journalistischen Arbeiten bekannt. Viele seiner Artikel sind in den führenden Zeitungen Großbritanniens, Italiens und Deutschlands erschienen. Morrisons Essays sind dafür bekannt, sich rasend schnell zu verbreiten. Nina X ist sein siebtes und ambitioniertestes Buch. # Christian Lux, geboren 1978 in Essen, studierte Buchwissenschaft und Literatur, danach Herausgeber, Übersetzer und Verleger. Seit Jahren betätigt er sich als Vermittler angloamerikanischer Literatur.
Weitere Infos & Material
Kladde #2422018
Nina hat eine Liste mit Dingen, die auszuprobieren sind, und das ist viel zu aufregend für Nina, also muss sich hingelegt werden, aber das darf nicht auf dem Schotter oder auf dem Weg passieren, denn Ninas erstes Haus ist nicht ihr Privatbesitz, sondern es ist das Charity House. Nina ist sehr dankbar, eine Tür zu haben und das Recht hinauszugehen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen. Es gibt viele wichtige Dinge, die so bald wie möglich zu erledigen sind: Alle Arten von Schokolade essen. Ein Flugzeug fliegen. Kenntnisse über das Ausruhen erwerben. Einen Supermarkt aufsuchen. Lippenstifte in allen Farben kaufen. Alles über Geld lernen. Heiraten. Lernen, wie man mit einer anderen Person tanzt. Das Charity House riecht nach Kleber und alten Socken und frischer Farbe. Der braune Teppich ist das Beste, und Nina mag es, auf seinem Luxus zu liegen. Am Fenster sind noch Fingerabdrücke von den letzten Flüchtlingen. Nina nimmt an, dass es eine Mutter und ein Kind waren, weil Nina einen zerbrochenen Buntstift und einen Krümel Süßes gefunden hat. Es gibt hier drei Zimmer, und alle sind nur für Nina, und eins davon hat sogar einen Tisch für einen Fernseher, aber Nina ist noch nicht bereit, also hat Nina den Tisch ans Fenster gerückt, um Menschen zu betrachten, und es gibt Tausende. Nina ist froh, wieder ein Fenster zu haben. Eine lebende Berühmtheit treffen. Eine Affäre haben. Speisen aus anderen Ländern probieren, aber nichts Chinesisches. Eine Ärztin sein. Alle Worte in ihr Gegenteil verkehren. Sich täglich daran erinnern, dass alles gut ist und dass alles, was vorher war, Lügen waren. Nina sitzt da und starrt hinaus, aber Nina darf das nur durch die Jalousien tun. Nina darf nicht gesehen werden, falls ein Fotograf ihr Gesicht stehlen will. Lernen, wie man lächelt, ohne anderen Angst zu machen. Einen besten Freund haben. Keine Schwäne mehr falten. Die 23 Arten, ihn zu verwöhnen, auswendig lernen. Vögel jedweder Art füttern und ihre Namen lernen. Einige der Dinge, die Nina verpasst hat, kann man nicht nachholen, zum Beispiel mit anderen Kindern spielen, denn das sind völlig Fremde. Nina wird das nicht nochmal in der Nähe des Charity House versuchen, denn sie weinen, und Nina hatte Glück, dass die Eltern nicht bei den Bullenschweinen angerufen haben. Ab sofort dürfen sie nicht mehr Bullenschweine genannt werden. Sie sind das Gegenteil von Schweinen. Charity Sonia nannte sie die Polizei. Charity Sonia ist von Sanctuary, das ist eine Organisation in einem Telefon, die jeden Tag Frauen rettet, und sie hat ein weiches Gesicht mit bemalten Lippen und lockigen braunen Haaren und großen, dunklen Augen und sie ist keine Sklavin, riecht aber nach süßlichem Parfüm und Zigaretten, die sie aufgeben will, weil sie über einen freien Willen verfügt. Nina wollte sie Genossin Sonia nennen, aber sie sagte, dass das ein bisschen seltsam wäre heutzutage, wenn Nina also versucht ist, Genossin zu sagen, radiert Nina es einfach aus und ändert es in Charity. Das lässt Nina lachen, aber das sieht niemand, weil es nur in Ninas Kopf stattfindet. Dinge, an denen Nina wirklich arbeiten muss: Nach draußen gehen, ohne die Angst zu haben. Menschen nicht packen, ziehen oder sich an ihnen festkrallen. Augenkontakt herstellen. Sich nicht immer verstecken, wenn jemand an der Tür klingelt oder das Licht anmacht. Alleine essen. Nicht mit hängenden Schultern herumlaufen, weil das als defensive Geste gewertet wird. Sich jeden Tag waschen. Sich anziehen, bevor sie zur Tür oder ans Fenster geht. Sich erinnern, dass es keine Strahlung vom Himmel gibt, abgesehen von Blitzen, und dass diese selten sind und vor allem am Äquator auftreten, wo die vorkapitalistischen Menschen leben. Ohne Unterbrechung schlafen. Lernen, Ich zu sagen, statt immer nur Nina, weil die Leute es als ein Zeichen für Zurückgebliebenheit werten, wenn man sagt, Nina will dies oder Nina will jenes, man sollte stattdessen sagen, ich mag dies und ich will das. Und man darf auch nicht zurückgeblieben sagen. Charity Sonia sagt, Nina braucht nicht mehr zu schreiben, weil niemand sonst in der Welt zwanzig Jahre lang ein Beicht-Tagebuch schreiben müsse und dass es ja wirklich eine Art Folter gewesen sein muss. Sie sagt, es könnte ein Zeichen sein, dass es Nina besser geht, wenn Nina ihre eigenen Erfahrungen für sich behält, und dass Nina das jeden Tag üben könnte, indem sie Ich, Ich, Ich sagte. Es sei nicht notwendig, es aufzuschreiben. Sie berührt Ninas Kopf und sagt, Du Armes. Aber Nina muss schreiben, denn wenn Nina nicht schreibt, wird Nina niemals aus ihren Fehlern lernen. Versuchen, alles anders zu sehen. Schlecht ist gut. Der Himmel tötet nicht. Charity Sonia kam wieder zu Besuch und stand in dem Zimmer mit den Stühlen, und sie sagte, Hast Du geübt, draußen zu sein, Nina? Und Nina sagte, dass Nina gelesen habe. Nina erzählte Charity Sonia, dass Nina ganz aufgeregt war, in Freiheit zu sein, weil Nina den vierten Comic von Der Zauberer von Oz finden könnte, denn Nina hat die ersten drei Teile hundertachtundvierzig Mal gelesen, denn abgesehen von den Büchern der großen Väter der Revolution und Ninas beiden Lehrbüchern und den zwei Ausgaben von National Geographic war das alles, was im Kollektiv erlaubt war. Und Nina hat nie herausgefunden, wie die Geschichte endet, denn der dritte Comic hörte auf, als Dorothy und ihre Freunde von der Bösen Hexe des Westens gefangengenommen wurden. Charity Sonia lächelte und sagte, sie habe nicht gewusst, dass es einen Comic zu Der Zauberer von Oz gab, da sie daran immer als Film dachte, also an einen großen Fernseher in einem dunklen Raum mit Fremden, die hinter einem essen. Charity Sonia war überrascht, dass Nina den Film nie gesehen hatte, da er immer zu der Zeit laufe, wenn die Sklaven des Kapitalismus ihren Wohlstand ausstellen und alle darauf hoffen, dass Schnee fällt. Nina fragte, Entkommen sie der Hexe und schafft es der Zauberer, Dorothy zurück nach Kansas zu zaubern, wie er versprochen hat? Und nimmt sie den Löwen mit? Denn der ist Ninas Liebling. Und Charity Sonia lächelte und sagte, wenn sie Zeit habe, würde sie versuchen, den letzten Comic zu finden, aber es wäre vermutlich leichter, den Film aufzutreiben, und vielleicht würde das auch helfen, Nina von A nach B zu transportieren, denn ihre Kinder hörten immer auf, im Wagen herumzuschreien, wenn sie einen Film anmachte. Und Nina war sehr aufgeregt und konnte nicht sprechen, aber das lag eigentlich daran, dass Nina nach der Erfahrung im Krankenwagen Angst hatte im Auto zu fahren. Doch Nina war so aufgeregt, das Ende von Dorothys epischer Geschichte zu erfahren, dass Nina Genossin Charity Sonia küsste, aber das war nicht angemessen. Nina spürte erneut ein Lochgefühl, als Charity Sonia Nina dazu brachte, ihre Hand loszulassen und gehen wollte. Charity Sonia sagte, Ich wollte noch fragen, ob Du Dich selbst einschließen kannst? Kannst Du das gerade mal mit den Schlüsseln tun, als Test? Es ist nicht so, dass irgendwer kommt, um Dich zu holen, nein, glaub das nicht, es geht nur darum, dass alle das tun. Ich weiß, dass Du Angst vor abgeschlossenen Türen hast, aber Du hast den Schlüssel. Ich möchte einfach nur sehen, dass Du weißt, wie es geht, Nina. Ich habe auch einen Schlüssel, nur für den Fall. Nina stand auf der einen Seite der Tür und Charity Sonia auf der anderen, und Nina drehte den Schlüssel, wie man es ihr gesagt hatte, und dann war Charity Sonias Schatten im Glas, und sie sagte, Es ist in Ordnung, siehst Du, ich bin noch hier, Du hast meine Nummer im Telefon, das ich Dir gegeben habe, ruf mich einfach an, wenn Du mich brauchst. Das bedeutet, Nina muss tapfer sein und das Telefon benutzen. Es versetzt einem keine elektrischen Schläge und kocht einem nicht die grauen Zellen weich. Und Nina muss keine Angst vor Genosse Chen haben, da er ein Lügner war und seine Welt jetzt auf den Kopf gestellt wurde, weil gegen ihn Haftbefehl erlassen wurde durch die Bullenschweine, die Polizisten genannt werden. Und er wird seine gerechte Strafe bekommen, und irgendwann wird Nina ihm vergeben. Nina muss die Liste erweitern. Du bist nicht einsam, sondern nur allein, und das ist normal, wenn man in Freiheit lebt. Lernen, ohne andere Menschen in anderen Zimmern zu leben, abgesehen von jenen hinter den Wänden. Das sind Nachbarn, und einige darunter sind krank, und andere sind verletzliche Erwachsene. Es ist also besser, wenn Nina nicht nochmal klopft. Lernen,...