Morton | Ökologisch sein | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 249 Seiten

Morton Ökologisch sein


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95757-826-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 249 Seiten

ISBN: 978-3-95757-826-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
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Trotz aller Panik leben wir in der bequemen Illusion, dass Erderwärmung und Massenaussterben erst noch bevorstehen. Deshalb erheben wir Daten und produzieren Fakten, als könnten wir damit die Welt retten. Handlungsfähig, so glauben wir, sind wir erst, wenn wir genug wissen. Wir sehnen uns nach dem Blick von oben, der uns das Gefühl gibt, über den Dingen zu stehen. Doch um uns ökologisch zu verhalten, brauchen wir nicht noch mehr über Ökologie zu lernen. Wir sind ökologisch, indem wir atmen, Felder bestellen, Tiere und Pflanzen essen und in Seen baden. Erst wenn unser Denken die Vogelperspektive aufgibt, in der wir selbst der blinde Fleck sind, werden wir auch verstehen können, dass wir unauflöslich mit unserer nichtmenschlichen Umwelt verquickt sind. Wir können vielleicht nicht wissen, wie die Biosphäre funktioniert, aber wir können uns auf sie einstimmen. Als Individuen werden wir in tausend Jahren nichtig sein. Was wir getan haben, wird es nicht sein. »Das Problem mit dem ökologischen Bewusstsein besteht nicht darin, dass es so schrecklich schwierig ist. Es ist so einfach. Du atmest Luft, dein bakterielles Mikrobiom murmelt vor sich hin, die Evolution entfaltet sich schweigend im Hintergrund. Du hast dieses Buch ausgelesen und schaust dich um. Du brauchst nicht ökologisch zu werden. Denn du bist ökologisch.« - Timothy Morton, Ökologisch sein »Morton ist der Philosophenprophet unserer Zeit. Seine Ideen mögen bizarr klingen, aber sie sind die adäquate Antwort auf die erschütternde Einsicht, der wir uns im 21. Jahrhundert stellen müssen: dass wir in eine neue erdgeschichtliche Phase unseres Planeten eingetreten sind.« - The Guardian

Timothy Morton, geboren 1968, studierte Englische Literatur und promovierte zum Werk von Percy Bysshe Shelley. Er ist als Publizist und Philosoph tätig und lehrte an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, seit 2012 an der Rice University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der Literaturwissenschaft im Bereich der Ökologie und der Philosophie.

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KAPITEL 1
Und dann lebst du vielleicht in einem Zeitalter des Massenaussterbens
Was genau ist heute, ökologisch gesprochen, der Stand der Dinge? Dem möchte ich als Erstes nachgehen. Als ich einigen Leuten gegenüber den Titel dieses Kapitels erwähnte, hielten sie mir vor, ich sei schwach. Das ist richtig: Das Kapitel ist wirklich lahm. Sie wollten, dass ich sage: »Du LEBST in einem Zeitalter des Massenaussterbens«, so als sei »vielleicht« das Gleiche wie »nicht«. Das ist an sich schon interessant, dass man »vielleicht« als »nicht« versteht. Es hat zu tun mit dem logischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Dieser Satz betrifft alle Lebensbereiche. Normalerweise wird bei Wahlen, wenn es um das Auszählen der Stimmen geht, eine Enthaltung als Nein gewertet. Sie lässt sich nicht als »vielleicht Ja« oder als »vielleicht Nein« auslegen. Wir leben in einem indikativischen Zeitalter, einem aktiven in der Tat, in dem ein Textprogramm einen mit einer kleinen grünen Wellenlinie bestraft, sobald man das Passiv benutzt; und um Gottes willen keinen Konjunktiv wie in »man könnte«. Dass es kein Drittes geben kann, stellt für das ökologische Denken ein großes Problem dar. Nicht im Konjunktiv stehen zu können ist jedoch ein ebenso großes Problem. Alles ist so schwarz und weiß. Und etwas Entscheidendes wird damit aus unserer Ökologieerfahrung ausgeblendet, etwas, das wir eigentlich gar nicht loswerden können: das Zögern, das Gefühl des Unwirklichen, oder einer verzerrten oder veränderten Wirklichkeit, das Gefühl des Unheimlichen – wenn sich etwas seltsam anfühlt. Das Gefühl, dass etwas nicht ganz real ist, entspricht genau dem Gefühl, das aufkommt, wenn man sich mitten in einer Katastrophe befindet. Wer einmal einen Autounfall erlebt hat, oder die unerheblichere Katastrophe eines Jetlags, dürfte wissen, was ich meine. Insofern blendet das Ausblenden des Konjunktivs die Erfahrung als solche aus. »Du LEBST« bedeutet: Wenn du nicht entsprechend fühlst, wenn du im Hinblick auf die Ökologie das offiziell sanktionierte Gefühl nicht teilst, stimmt etwas nicht mit dir. Es sollte doch klar ersichtlich sein und diese Offensichtlichkeit sollte auch offensichtlich übermittelt werden, also wie eine Ohrfeige. Hingegen hat »Du lebst vielleicht …« mit Erfahrung zu tun. In gewissem Sinne ist eine solche Aussage weit stärker als eine einfache Behauptung. Und zwar, weil man sich damit nicht entkommen kann. Man kann mit allen möglichen Dingen übereinstimmen oder auch nicht übereinstimmen – so ist es dann, einverstanden oder eben nicht. In den Worten des großen Phänomenologen Buckaroo Banzai: Wo immer du hingehst, da bist du.5 Philo-sophie
An der Wahrheit ist etwas Behelfsmäßiges, und auch die Philosophie hat dieses Provisorische. Philosophie bedeutet Liebe zur Weisheit, nicht Weisheit an sich. Zweifelsohne existiert ein philosophischer Stil, der den Wortteil philos gerne eliminiert. Dieser Stil wird von zu zahlreichen Philosophen gepflegt, als dass ich sie einzeln anführen könnte, und zudem würde ich mich schämen, sie beim Namen zu nennen, aber man kennt diesen Typ, diese Menschen, die wissen, dass sie recht haben, und in deren Augen man so lange Unsinn redet, bis man ihnen zustimmt. Das ist ein Stil, den ich absolut nicht schätze. Liebe heißt, dass man die geliebte Person nicht einfach so packen kann und es auch nicht tut, man fühlt es, man spürt es regelrecht, wenn man einen Menschen oder etwas liebt: Ich mag dieses Bild nicht einfach mit meinen Fingern berühren, dazu liebe ich es zu sehr. Dieses Buch wird uns zeigen, dass die Kunsterfahrung ein Modell liefert für eine Koexistenz, wie sie von der ökologischen Ethik und Politik zwischen Menschen und Nichtmenschen angestrebt wird. Wie das? Im späten achtzehnten Jahrhundert führte der große Philosoph Immanuel Kant eine Unterscheidung zwischen Dingen und Ding-Daten ein – wir haben darüber bereits gesprochen. Ein Grund, weshalb eine trennscharfe Unterscheidung überhaupt möglich ist, ist laut Kant die Schönheit, die er als Erfahrung ausmachte, als den Moment, in dem wir ausrufen: »Mensch, ist das schön!« (Ich werde dies im Weiteren als »Schönheitserfahrung« bezeichnen.) Das rührt daher, dass Schönheit einen fantastischen, unmöglichen Zugriff auf das Unzugängliche bietet, auf die entzogenen, offenen Qualitäten der Dinge, auf ihre rätselhafte Realität. Kant beschrieb die Schönheit als ein Gefühl der Unbegreiflichkeit, deshalb ist die Schönheitserfahrung jenseits aller Begriffe. Man isst kein Bild eines Apfels; man findet es auch nicht moralisch gut; stattdessen erzählt es einem etwas Seltsames über den Apfel an sich. Schönheit muss nicht mit vorgestanzten Konzepten von »schön« übereinstimmen. Es ist seltsam, dieses Gefühl. Es fühlt sich an, wie wenn man einen Gedanken hat, ohne tatsächlich einen zu haben. Im Nahrungsmittelmarketing hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Kategorie herausgebildet, die als Mundgefühl bezeichnet wird. Es handelt sich um ein ziemlich unappetitliches Wort für die Konsistenz von Speisen, dafür, wie sie sich zum Gaumen, zu den Zähnen und zu der Zunge verhalten. Auf gewisse Weise ist die kantische Schönheit ein Denkgefühl. Es ist die Empfindung, als habe man eine Idee, und da wir uns – genau wie Kant – dem Dualismus von Geist und Körper so sehr verpflichtet fühlen, finden wir das Ganze etwas psychotisch: Ideen sollten keinen Klang erzeugen, nicht wahr? Allerdings sprechen wir die ganze Zeit über den Klang einer Idee: Das klingt gut. Verbirgt sich in dieser umgangssprachlichen Redewendung womöglich ein Körnchen Wahrheit? Der deutsche Philosoph Martin Heidegger ist eine kontroverse Gestalt, denn für eine gewisse Zeit seiner Karriere war er Mitglied der NSDAP. Diese finstere Wolke ist eine große Schande; sie hält viele Menschen davon ab, sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen. Und dies trotz des Umstands, dass Heidegger, ob es einem gefällt oder nicht, die Anleitung dazu schrieb, wie das Denken im späten zwanzigsten und im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert fortschreiten sollte. Ich hoffe, dass ich dies im Weiteren aufzuzeigen vermag, und zudem hoffe ich, demonstrieren zu können, dass Heideggers Nazismus ganz offensichtlich ein großer Fehler war – auch unter dem Gesichtspunkt seines ureigenen Denkens. Heidegger argumentiert, dass es so etwas wie Wahrheit und Unwahrheit, klar unterschieden wie Schwarz und Weiß, nicht gibt. Man ist immer in der Wahrheit. Man ist stets in einer mehr oder weniger niedrigen Auflösung, in einer mit wenigen dpi erstellten jpeg-Version der Wahrheit, in einer allgemeinen, öffentlichen Version, in einer Art Wahrheitlichkeit (Stephen Colberts griffigem Ausdruck sind wir bereits in der Einleitung begegnet). Ich weiß, die jpeg-Analogie trifft es nicht richtig. Jede Analogie hinkt etwas. Wahrheit als mehr oder weniger verpixelt ist eine Analogie, die selbst mehr oder weniger verpixelt ist. Auch Schönheit ist wahrheitlich. Im Grunde würde ich sagen – ich bin ja nicht Kant –, Schönheit ist kein Denkgefühl, sondern ein Wahrheitsgefühl. Wenn man die Wissenschaftssprache heranziehen will, kann man auch wahrheitsähnlich sagen. Bei genauer Betrachtung sind wir nun an einem Punkt angekommen, an dem wir in unserer Argumentation einen fast unmerklichen Schwenk zur Kenntnis nehmen müssen. Wir haben die Faktoide als irreführend kritisiert, doch weshalb können sie überhaupt irreführend sein? Sie können es, weil wir Falsches nicht immer als falsch erkennen. Das heißt, es gibt keine fadenscheinige oder starre Unterscheidung von Wahr und Falsch. Auf seltsame Weise sind alle wahren Aussagen sozusagen wahrheitlich. Es gibt keinen Umschlagpunkt oder eine klare Grenze, an der wahrheitlich letztlich wahr wird. Alles ist immer etwas fummelig und holprig. Wir tasten uns irgendwie voran. Ideen klingen gut. Wahrheitsgefühl: Und du lebst vielleicht in einem Zeitalter des Massenaussterbens. Das Phänomen des Anthropozäns
Anthropozän ist der einer geologischen Epoche verliehene Name, in der vom Menschen erzeugte Stoffe eine eigene Schicht in der Erdkruste gebildet haben: Plastik aller Art, Beton und Nukleotide zum Beispiel haben eine diskrete und gut sichtbare Formation ausgebildet. Der Anfang des Anthropozäns ist inzwischen offiziell auf das Jahr 1945 datiert worden. Das ist verblüffend. Fällt Ihnen eine andere geologische Epoche ein, die ein solch spezifisches Anfangsdatum hat? Und kann es etwas Unheimlicheres geben, als feststellen zu müssen, in einer völlig neuen geologischen Epoche zu leben, einer Periode, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch eine globale geophysikalische Kraft geworden ist?6 In der Geschichte des Lebens auf der Erde hat es fünf große Massenaussterben gegeben. Das jüngste, bei dem die...


Höfer, Dirk
Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin.

Morton, Timothy
Timothy Morton, geboren 1968, studierte Englische Literatur und promovierte zum Werk von Percy Bysshe Shelley. Er ist als Publizist und Philosoph tätig und lehrte an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, seit 2012 an der Rice University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der Literaturwissenschaft im Bereich der Ökologie und der Philosophie.

Timothy Morton, geboren 1968, studierte Englische Literatur und promovierte zum Werk von Percy Bysshe Shelley. Er ist als Publizist und Philosoph tätig und lehrte an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, seit 2012 an der Rice University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der Literaturwissenschaft im Bereich der Ökologie und der Philosophie. Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International , später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin.



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