Márai / Heinrichs | Land, Land | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Márai / Heinrichs Land, Land

Erinnerungen
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96012-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-492-96012-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
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Die Glut des Verbrechens brennt alles nieder. Im fernen Exil hat Sandor Marai aufgeschrieben, was er zuletzt in seiner Heimat Ungarn erlebte - von der deutschen Besetzung Ungarns 1944 bis zu seiner Abreise ins lebenslängliche Exil 1948. Das bewegende Zeugnis eines bedeutenden europäischen Literaten. Autorenporträt.

Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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DIESE ERLEICHTERUNG VERSTAND ICH NICHT GLEICH. Aber ich hatte auch keine Muße, mir über ihren Sinn den Kopf zu zerbrechen. Es gab Dringlicheres zu tun, als verworrene Gefühle zu analysieren. Wir brauchten eine Unterkunft, Bett und Tisch. Wie Robinson, als ihn nach dem Schiffbruch eine Welle auf die Insel warf, kehrte ich mit einem Floß – in Gestalt eines zweirädrigen Karrens – zum gesunkenen Schiff zurück, um zu retten, was zum Leben nötig war. Damit waren alle beschäftigt; Tag und Nacht wühlten die Großstadtbewohner in den Trümmern. Das glich einer permanenten Müllbeseitigung, aber auch einer absurden Landnahme. Stolz erzählten die Leute einander, sie hätten im Schutt – der einige Wochen vorher noch ihr Zuhause gewesen war – die alte Standuhr oder die Badewanne gefunden. Andere fanden einen Perserteppich – nicht immer den eigenen, nicht immer in der eigenen Wohnung. Auf den Fall von Buda folgten wildromantische Monate.

Ich brachte einige beschädigte, wackelige Möbelstücke in eine Notwohnung und zog samt Familie ein. Wir wohnten drei Jahre lang – vom März 1945 bis zum August 1948 – in dieser Wohnung, in großer Stille, aber nicht gerade unzufrieden. Goethe hat gesagt, wenn jemand davon spricht, daß eine Nation untergegangen sei, beginnt er zu graben, denn er weiß, was er hört, ist nur eine Phrase. Aber wenn er hört, daß in der Nachbarschaft ein Bauernhaus abgebrannt ist, schläft er unruhig, denn er weiß, was er gehört hat, ist eine wahre Tragödie. Ähnlich dachte ich manchmal in diesen Jahren. Es wurde viel über das »Schicksal der Nation« und darüber gesprochen, daß jetzt »alles ganz anders« wird. Ich sah nur, daß sich um die »Nation« niemand scherte, weil alle in Eile waren, sich gegen Typhus impfen zu lassen und die zerbrochenen Fensterscheiben zu ersetzen. Diese eilige, ruhelose, emsige Aktivität hatte etwas Ermutigendes: Die Menschen ahnten, daß auch die Nation etwas davon hat, wenn die Fenster wieder verglast werden. Alles, was vollmundig »Geschichte« genannt wurde, verblaßte. Wirklich Geschichte war die Tagesmeldung – wo Brot, ein Paar Schuhe, ärztliche Hilfe zu bekommen ist. So lebten wir damals, im zerbombten Budapest.

Die lädierten Möbel kleisterte schließlich der Tischler von der Ecke zusammen. Diese Handwerker unmittelbar nach der Belagerung – Vorläufer des späteren, »maszek« genannten Privathandwerkers – waren Helden. Die meisten arbeiteten sozusagen nur aus Übermut und für Inflationsgeld, also fast gratis, denn das Spielgeld, das sie für ihre Arbeit bekamen, wurde Tage, später sogar Stunden danach weggefressen vom großen Betrug, von der Papierlepra, von der Geldverdünnung. Dennoch fanden sich Handwerker, die Aufträge annahmen: der Tischler, der aus Trümmerbrettern Bett, Tisch und Schrank zurechtzimmerte, der Glaser, der sich der Fenster annahm, der Elektriker, der Licht in die finsteren Wohnungen der Ruinenstadt brachte. Sie alle waren alte, sozialdemokratisch erzogene Facharbeiter, die gelernt hatten, welches die höchste und menschlichste Ehre ist: die der Arbeit. Innerhalb weniger Monate bauten diese Handwerker aus den Trümmern ein Budapest zusammen, in dem sich wieder ein städtisches Leben führen ließ. Nachts zogen Sowjetsoldaten und Großstadtgauner durch die Straßen, raubten und belästigten die Frauen. Aber in den ramponierten Wohnungen – es war wie im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit, während der Religionskriege – konnten die Städter verborgen, hinter geschlossenen Türen, wieder wie Menschen leben.

Wieder in Budapest, verschaffte ich uns also ein Dach über dem Kopf. Hin und wieder suchten wir die zerstörte Wohnung auf, aber das bekamen wir bald satt. Vor die Trümmer zu treten wie ein Jude vor die Klagemauer und dem verlorenen Zuhause nachzujammern, das war geschmacklos. Als die nötigsten Gebrauchsgegenstände aus dem Schutt geholt waren, stellten wir die gespenstischen Besuche ein. Die Bücher allerdings ließ ich nicht gern dort verschimmeln. Zu meiner Beruhigung war ein Buchhändler aus der Nähe bereit, die weniger lädierten Exemplare aus dem schmierigen, breiigen Dreckhaufen herauszufischen. Wir einigten uns auf halbehalbe, und wie sich zeigte, war das ein gutes Geschäft. Er rettete mir einige hundert wertvolle ungarische und ausländische Bücher, die anderen trug er nach Hause und verkaufte sie, so gut es ging. Zum Glück nahm er viel von dem mit, was ich gerne loswurde, also die modischen schöngeistigen Werke, mit denen mich die Verlage in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eingedeckt hatten. Auch das zu meiner Erleichterung … Aber der komplette János Arany fiel beim Teilen an mich. Dazu eine lückenhafte Jókai-Werkausgabe. Lexika, französische, deutsche Bücher. Als ich sie in meine Regale stellte, schien mir, es gebe in der Notwohnung wieder ein Zimmer, darin das sonderbare und verdächtige Handwerk fortzusetzen sei, das Robert Musil »gutgehende Schriftstellerei« nennt. Der verehrte Meister konnte sich wieder an den Schreibtisch setzen und schreiben, sofern er wollte … Fragte sich nur: für wen?

(Und es fragte sich – aber diese Frage stellte ich mir erst später: wozu?)

Ich tröstete mich jedenfalls damit, Grund zur Zufriedenheit zu haben: Ich hauste wieder in einem Zimmer, wo ich die Wände entlang Bücher in Regalen sah. Das Land sei zugrunde gegangen, sagte man; aber das war nur so dahingesagt. In Wirklichkeit war es nicht zugrunde gegangen, sondern es begann kraftvoll zu leben. Manche jammerten, weil die Wohnung dahin war, die Villa, die prachtvolle Einrichtung, dann das Bankkonto, die Hochwohlgeborenheit, die ganze gekünstelte Hierarchie, die neobarocke Vornehmtuerei. Andere warteten auf die Amerikaner, die die bolschewistischen Russen in die Sowjetunion zurückjagen würden, sodann bekämen sie alles zurück: der Hausbesitzer das Haus, der Grundbesitzer den Boden und der flinke, zungenfertige Schriftsteller den billigen Erfolg. Jeder erwartete vom anderen, daß er helfen werde … Die Bauern witterten begierig die Bodenreform; zugleich behielten sie ihr Mißtrauen, aus tausendjähriger Erfahrung wußten sie: Was man umsonst gibt, das kann man auch zurücknehmen. Das Mißtrauen war berechtigt … Allgemein aber warteten alle darauf, daß die »Übergangssituation« zu Ende gehe und man in Ungarn wieder auf gute, alte, ungarische Weise leben könne.

Die Kommunisten sahen zu, und in der ersten Zeit taktierten sie vorsichtig. Dieses umsichtige Taktieren aus dem Hinterhalt wiederholten sie später in der Weltpolitik: manchmal einen Schritt voran, dann sahen sie sich um, welche Folgen sich ergäben. Ahnten sie starken Widerstand, gingen sie einen Schritt zurück, um bei nächster Gelegenheit zwei nach vorn zu machen. So ging das zwei Jahre lang, bis zum Frühjahr 1947. Da gewann das Taktieren an Tempo: Der Kreml stellte fest, daß die Vereinbarung von Jalta realisierbar sei und die Sowjets die westlichen Randstaaten in Besitz nehmen könnten. Als im Kreml diese Entscheidung fiel, machten die aus Moskau nach Hause geschickten ungarischen Kommunisten sich gründlich an die Arbeit.

In der Notwohnung konnte man wohnen, und wenn man eine gewisse Ordnung einhielt, konnte man dort sogar schreiben. Im ersten Jahr nach dem Krieg veröffentlichte ich zwei Romane – geschrieben hatte ich sie während des Krieges, aber da konnten sie nicht erscheinen –, und gelegentlich schrieb ich Tagebuchnotizen für eine liberale Tageszeitung. Ich machte mir vor, unter den veränderten Umständen so zu leben und zu arbeiten wie vorher. Im Gänsemarsch tauchten aus den Ruinen die alten Freunde auf. Und dennoch, etwas hatte sich grundlegend verändert in meinem Leben.

Eines Tages verstand ich, warum ich es als Erleichterung empfunden hatte, als ich nach der Belagerung das zertrümmerte Haus wiedersah, wo ich fünfzehn Jahre gelebt hatte und nichts mehr da war, was mir persönlich etwas bedeutete: Erinnernswertes, Atmosphäre. Davon will ich erzählen, so gut ich kann … Aber vorher möchte ich noch etwas anderes aufschreiben.

Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber wenn ich an eine Stadt denke – eine ungarische oder fremde, einerlei –, sehe ich zuallererst kein Bild, sondern ich höre Musik. New York oder Paris, Klausenburg oder Berlin – wenn irgendein Gedanke, eine zufällige Assoziation in meinem Bewußtsein den Namen einer Stadt aufblitzen läßt, dann höre ich Musik. Als ob eine Melodie, einige Takte Musik für mich den Sinn dieser Stadt ausmachten. Wenn zum Beispiel jemand in meiner Gegenwart »New York« sagt, sehe ich nicht Manhattan vor mir, wie es sich vom hundertsten Stock des Empire State Building darbietet, sondern ich habe für einen Augenblick Gershwins »Rhapsody in Blue« im Ohr, nur ein paar Takte von dieser wimmernden und winselnden, schmerzlichen und lüsternen, neurotischen Musik. Ich weiß nicht, woher dieses melodische Städtegedächtnis rührt, denn sonst höre ich niemals Musiksignale, wenn ich an Menschen oder Landschaften denke. Unter allen Bewußtseinsphänomenen ist für mich der Mechanismus des Erinnerns am beängstigendsten und geheimnisvollsten – diese takt- und melodieerfüllte Gleichzeitigkeit mit der Erwähnung eines Städtenamens ist genauso unverständlich und rätselhaft wie die Speicherung und das Abrufen von Erinnerungen überhaupt. Es ist, als sei eine Melodie für mich die Schutzmarke einer Stadt, und ich kann nicht die Dauer dieser Musik beurteilen, denn auf dem Fließband der Erinnerung schließen sich sofort die visuellen Vorstellungen an, ohne Melodie. Diese Städtebilder sind in meiner Erinnerung immer grau, niemals farbig – auch im Traum sehe ich niemals Farben, ich träume stets nur schwarzweiß.

Budapest ist die einzige Stadt, die, wenn ich an sie denke, keine Melodie auslöst, sondern Gedichtzeilen. Zum Beispiel...


Márai, Sándor
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.

Heinrichs, Siegfried
Siegfried Heinrichs ist Autor und Verleger in Berlin sowie Herausgeber der Tagebücher und der Erinnerungsbände »Bekenntnisse eines Bürgers«, »Land, Land» von Sándor Márai.



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