Mühsam | Namen und Menschen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

Mühsam Namen und Menschen

Unpolitische Erinnerungen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7528-7327-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Unpolitische Erinnerungen

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

ISBN: 978-3-7528-7327-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erich Mühsams Erinnerungen an die Bohème und Intelligenz Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin, Paris, München und Wien. Zum Freundeskreis des berühmten Revoluzzers zählten Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wie Else Lasker-Schüler, Joachim Ringelnatz, Frank Wedekind, Edvard Munch, Karl Kraus, Peter Hille, Fanny zu Reventlow, Peter Altenberg, Roda Roda. Sie alle lässt Mühsam in seinen unpolitischen Erinnerungen aufleben in warmherzigen Portäts und unterhaltsamen Anekdoten.

Erich Kurt Mühsam, geboren am geboren am 6. April 1878 in Berlin und gestorben am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg, war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Als politischer Aktivist war er 1919 maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde, aus der er nach fünf Jahren im Rahmen einer Amnestie freikam. In der Weimarer Republik setzte er sich vorübergehend in der Roten Hilfe für die Freilassung politischer Gefangener ein. Seine politische Heimat fand er seit Mitte der 1920er Jahre in der "Anarchistischen Vereinigung". In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet und am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Mühsam Namen und Menschen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Latente Talente
Heutzutage führen in bürgerlichen Häusern verliebte Mütter sorgfältig Tagebuch über die frühen Ausstrahlungen des unverkennbaren Genies ihres Lieblings. Der arglose Besucher freut sich an der natürlichen Aufgewecktheit des spielenden Kindes und bekommt plötzlich zu Kaffee und Kuchen eine Sturzflut noch nicht dagewesener Beobachtungen, Randbemerkungen, kritischer Betrachtungen, psychologischer Finessen, dazu stoßweise Zeichnungen, Gedichte und sonstige Wunderwerke des kleinen Phänomens serviert. Man glaubt dann wirklich, den großen Philosophen, Dichter, Maler oder Reformator der künftigen Menschheit vor sich zu sehen und läßt sich erst nach genossener Gastfreundschaft auf dem Nachhausewege von dem Gedanken ernüchtern, daß, seit das Buchführen über die geistigen Emanationen der Kinder in Mode geraten ist, reichlich viele latente Genies auf den Tummelplätzen der öffentlichen Anlagen aus Sand Kuchen backen. Sicherlich wird es den Kindern selbst später ganz nützliche Dienste leisten, daß die Eltern recht zeitig beobachtet haben, in welche Richtung die Anlagen des Sprößlings streben, und da die Vorurteile gegen künstlerische Berufe bei der zur Zeit Kinder erziehenden Generation ja einigermaßen geschwunden zu sein scheinen, da andrerseits die Registrierung der kindlichen Gescheitheiten zumeist doch nur in Kreisen üblich ist, die dem Nachwuchs die freie Berufswahl leisten können, so wird dadurch manchem jungen Menschen mancher Stein aus dem Wege seiner Entwicklung geschafft sein. Früher war das anders. Die Eltern, die ihre Kinder zu ehrengeachteten Mitgliedern der Gesellschaft heranzuziehen trachteten, worunter sie die rechtschaffene Ausübung eines solid-bürgerlichen Berufes verstanden, der nach Absolvierung einer Reihe von Studien- oder Avancementjahren seinen Mann komfortabel zu ernähren vermöchte, bewunderten zwar auch oft kluge Fragen und niedliche Antworten der Kleinen mit viel Stolz, schätzten aber die Bekundung besonderer Talente erheblich niedriger ein als artiges Betragen und ließen die Beschäftigung mit Bleistift oder Tuschkasten und das Fabrizieren gereimter Geburtstagswünsche als Kinderspiel neben dem Häuserbau mit Holzklötzchen und dem Aufstellen der Bleisoldatenheere gelten. Traten beim heranwachsenden Schulkind dergleichen Neigungen mit dem Fanatismus der Monomanie zutage, dann begann ein erst stiller, allmählich offener energischer Kampf dagegen. Die frühreifen Produktionen wurden ignoriert, herabsetzend kritisiert, endlich mit Unterdrückungsmaßnahmen als Extravaganzen systematisch niedergehalten. Es entstanden Konflikte, die sich oft genug zu Tragödien auswuchsen. Fast alle meine Altersgenossen, die von einem übermächtigen Drang zur Besonderheit aus den Bezirken bürgerlicher Wohlhäbigkeit und damit aus dem Zusammenhalt ihrer Gesellschaftsklasse gerissen wurden, wissen davon ein Lied zu singen. Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren. Es wäre wahrscheinlich sehr verkehrt, nun zu meinen, Genialität bedürfe zu ihrer künstlerischen Entfaltung des Familienkrachs. Zunächst beweist die Wahl eines künstlerischen Berufs, auch wenn sie gegen noch so heftigen Widerstand der Eltern erfolgt ist, noch nichts für die Berufung zur Kunst. Es gibt arge Stümper und Kitscher, sogar fürchterliche Philister unter denen, die den Bruch mit ihrer ganzen Sippe auf sich nahmen, um zu tun, was sie nicht lassen konnten. Des weiteren aber wurzelt in zahlreichen Fällen – sehr möglich, daß hierher auch mein eigener Fall gehört! – der familiäre Konflikt weniger in der vom stürmenden Jüngling erkannten Notwendigkeit, zur Bereitung seiner der Menschheit zugedachten unsterblichen Werke ausschließlich der künstlerischen Mission zu leben, als umgekehrt in dem von den Erziehern richtig gewitterten Hang, sich aus der entsetzlichen Uniformität einer an regelmäßige Arbeitsstunden gebundenen Tätigkeit ins Künstlertum zu drücken. Der kürzlich an den Folgen eines brutalen Hakenkreuzlerüberfalls verstorbene witzige Philosoph Dr. Gregor Itelsohn erwiderte einmal einem frisch im Café gelandeten jungen Mann, der sich auf Befragen als Schriftsteller bezeichnet hatte: »Ja, so nennt man das ja wohl, wenn man für sein Nichtstun einen Namen haben will.« Gewiß ist, daß die Einbildung, ein Dichter oder Maler zu sein, den Dichter oder Maler noch nicht macht – auch dann nicht, wenn die kleinen Talentproben, über die jeder aus dem bürgerlichen Milieu Ausgesprungene verfügt, die latente Künstlerschaft zu bestätigen scheinen. Was den Künstler ausmacht, ist, neben der angeborenen Veranlagung, Gesehenes, Erdachtes und Erlebtes zu formen: Gesinnung, Fleiß und das Streben nach einem Weltbild. Wirklich tragische und unüberwindbare Künstlerkonflikte, die grundverschieden sind von privaten Differenzen mit der Umwelt, ergeben sich fast nur aus dem Fehlen einer dieser Eigenschaften. Selbstverständlich ist besonders der Mangel an Fleiß in zahllosen Fällen begründet im Mangel an materiellen Mitteln, und ich kenne keine widerwärtigere Weisheit als die, daß Not und Entbehrung geniebefördernde Antriebsmotoren sein sollen. Übrigens habe ich, sooft er mir auch begegnet ist, den Trostspruch niemals von anderen Leuten gehört als von kunstfremden Banausen oder gehemmten Mäzenaten, deren eigener Leib zeitlebens von Not und Entbehrung verschont geblieben ist. Dagegen bedingt das Vorhandensein aller Voraussetzungen echter Künstlerschaft durchaus nicht immer die Klarheit des begnadeten Individuums über das Gebiet seines Könnens und seiner Berufung. Goethe ist mit seinem Jugendwahn, sein Genie habe ihn zum Maler bestimmt, keine Ausnahmeerscheinung. Künstler, die sich verschiedenen Musen ergeben haben, beweisen nichts für die onkelhafte Lehre, wer in mehreren Künsten brillieren wolle, könne in keiner etwas leisten; sie beweisen nur, daß Künstlerschaft im Drange zu metaphorischem Ausdruck in Erscheinung tritt, nicht in der Zufälligkeit einer formalen Begabung. Gerhart Hauptmann (den ich merkwürdigerweise persönlich nie kennengelernt habe; wir hätten wohl auch wenig miteinander anzufangen gewußt) war meines Wissens zuerst Bildhauer; die Schauspieler Friedrich Kayßler und der achtzigjährige Aloys Wohlmuth in München dichten, Albert Steinrück malt; Lovis Corinth schrieb ausgezeichnete deutsche Prosa, und Rudolf Levy, der Maler, dessen sonores Organ das Pariser »Café du Dôme« von heimatlichen Klängen erzittern läßt, schreibt Verse, an deren graziöser Laszivität der alte Aretino seine Freude gehabt hätte. Ein paar Jahre vor Kriegsausbruch besuchte ich einmal auf der Durchfahrt durch Weimar Johannes Schlaf. Da zeigte er mir Bleistiftskizzen, Federzeichnungen und Pastellbildchen aus seiner Jugendzeit, die in ihrer künstlerischen Feinheit und zarten Sorgfalt das Heranreifen eines bedeutenden Malers hätten erwarten lassen. Aus dem latenten Talent erwuchs dann aber die dichterische Kraft, die im »Frühling« und den übrigen an Walt Whitman geschulten meisterhaften lyrischen Kleinmalereien seiner Skizzen und Romane Gestalt gewann. Was meine eigene künstlerische Laufbahn betrifft, so habe ich allerdings Zweifel darüber, wohin ich durch Neigung und Fähigkeit gehöre, niemals kennengelernt. Ich glaube, ich habe Verse gemacht, ehe ich schreiben und lesen konnte. Als Elfjähriger dichtete ich Tierfabeln, verdiente mit knapp sechzehn Jahren in der Woche drei Mark, indem ich – in ängstlicher Heimlichkeit vor Eltern und Geschwistern – für den Komiker eines Lübecker Zirkus-Varietés regelmäßig die letzten lokalen und politischen Aktualitäten in seine Couplets hineinwob, und verfaßte als Sekundaner das übliche Gymnasiasten-Drama in fünf aus je mindestens drei Vorhangszenen bestehenden Akten in fünffüßigen Jamben mit gereimten Kraftstellen und Aktschlüssen; es hieß »Jugurtha«, hielt sich in seinem Verlauf eng an Sallusts Beschreibung und ließ zuletzt den trotzigen König von Numidien auf offener Szene im Kerker verhungern. Mit siebzehn Jahren flog ich aus dem Lübecker Katharineum heraus, weil ich den Direktor und einige Lehrer in anonymen Berichten an die sozialdemokratische Zeitung bloßgestellt hatte, was die feierliche Bezeichnung »sozialistische Umtriebe« erhielt, und entfaltete, nach einjährigem Besuch des Gymnasiums in Parchim in Mecklenburg in die Vaterstadt zurückgekehrt, als Lehrling der Adler-Apotheke in Gemeinschaft mit meinem Freund, dem damaligen Unterprimaner Curt Siegfried, eine lebhafte Tätigkeit als ungenannter Artikelschreiber für sämtliche Lübecker Tageszeitungen. Wir verlangten mehr und größere Volkslesehallen, forderten und erreichten allsonntägliche Demonstrationsvorträge im Museum an Hand der ausgestellten Gegenstände, setzten die Schaffung eines Zoologischen Gartens durch und leisteten unser Meisterstück mit der Rettung des zum Abriß bestimmten ältesten Unterbaues eines Lübecker Gebäudes, der Löwen-Apotheke. Eines Sonntagmorgens standen in fünf lübeckischen Zeitungen fünf verschiedene Artikel, die die erschrockenen Landsleute von der Absicht unterrichteten, die alte Stadt eines ihrer wertvollsten Baudenkmäler zu berauben, und zu allgemeinem Protest aufriefen. Der Freund hatte mir tags...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.