E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Müller Die goldenen Jahre des Franz Tausend
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-22257-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-22257-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schneidig, selbstbewusst, charmant – so erobert der aus armen Verhältnissen stammende Franz Tausend 1924 die Welt. Er behauptet, auf geheimnisvolle Art und Weise Gold in großen Mengen herstellen zu können. Ultrarechte Patrioten und namhafte Industrielle wittern die Chance, mit diesem Gold die angestrebte heimliche Wiederaufrüstung finanzieren zu können, und strecken Tausend Geld vor. Als einige Anleger unruhig werden, ob es jemals Gold regnen wird, sorgen einflussreiche Politiker dafür, dass die Polizei einschreitet. Sie soll Franz Tausend aber nicht auf die Finger sehen, sondern ihn im Gegenteil vor den Anschuldigungen einer sich um ihr Geld geprellt sehenden Frau schützen.
Kommissar Heinrich Ahrndt, der diesen Auftrag erhält, ist zu gewissenhaft, um dieses Spiel dauerhaft mitzuspielen. Er wird nach Berlin strafversetzt, wo er den Pazifisten Carl Ossietzky beschatten soll ... Franz Tausend hingegen versucht sein Glück auf neue Weise, doch seine Wege und die des Kommissars kreuzen sich noch einmal: vor Gericht.
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1
Thomas Mann legt sich auf das Sofa und zieht die Wolldecke über sich, bis ihm heiß wird. Er hält prüfend die Hand an seine Stirn und fühlt dem aufsteigenden Fieber nach. Kratzt es nicht schon im Hals?
Aber das wird diesen Wilhelm Schäfer nicht vertreiben, mit dem Katia nebenan spricht.
Ärgerlich steht er auf und faltet wie in einer Zwangshandlung die Wolldecke ordentlich zusammen. Er legt sie aufs Sofa zurück und tritt an das Buchregal heran, mit dem Gefühl, kein Erwachsener zu sein, der nächstes Jahr fünfzig wird, sondern ein Schuljunge, der die Hausaufgaben aufgeschoben hat, die über die Sommerferien zu erledigen waren. Nicht etwa, weil er das Lesen nicht liebt, sondern weil er es zu sehr liebt und deshalb seine Zeit mit der Lektüre anderer Bücher verbracht hat.
Der Novitätenregen ist eine Heimsuchung. Das Schichtwerk lagernder Volumina steigt am Buchregal empor, verdeckt und verbaut die Bücher darin, und der Zugriff auf Romane, die er wirklich lesen will, wird ihm durch die Neuerscheinungen verwehrt. Franz Kafka ist gerade gestorben, von ihm würde er gern etwas lesen. Oder endlich den neuen Roman von Knut Hamsun.
Ausgerechnet heute muss dieser Wilhelm Schäfer auftauchen, unangemeldet, und will von ihm seine persönliche Auswahl der Gewinner wissen. Die Kölnische Zeitung und ihr albernes Preisausschreiben haben ihn schon seit Monaten bedroht. Er nimmt einzelne Pakete hoch und versucht, sich wenigstens noch die Namen der Autoren und die Arbeitstitel der Romane einzuprägen.
Katia tritt herein. Sie sieht ihn vor den Manuskripten knien und lächelt herablassend.
»Geh«, sagt er unwirsch, »halte ihn hin, rede mit ihm.«
Sie entfernt sich mit erhobenem Haupt. Obwohl er es durch die Wände nicht hören kann, hat er im Ohr, wie sie freundlich sagt: Er wird gleich hier sein. Und wie Schäfer sich bedankt und unverfroren fragt, wie ihr Urlaub gewesen sei. Urlaub!, nachdem er ihnen fünfunddreißig Romanmanuskripte übersandt hat, unsortiert, bitte zu lesen bis Ende des Sommers.
Im Salon wird Katia von Hiddensee erzählen, wo die Hauptmanns direkt unter ihnen wohnten: Wilhelm Schäfer wird staunen, der Gerhart Hauptmann?, wird er fragen, und Katia wird darüber hinweglachen und erklären, es seien bereits ihre zweiten Ferien mit Hauptmanns gewesen, sie hätten wunderbare Lesungen im privaten Kreis abgehalten, und Hiddensee, dort sei alles unverschämt teuer, aber die Ostsee sei dafür besonders schön.
Dabei wird sie nicht erwähnen, welche Demütigung die Spaziergänge mit den Hauptmanns bedeuten, wenn jeder den weißhaarigen Dichter grüßt, während man ihn, Thomas Mann, übersieht, obwohl er doch aufholt, was den literarischen Ruhm betrifft.
Wie er bewundernd aufblickt zu Hauptmann und gleichzeitig größte Lust hat, den Rivalen auszustechen. Hauptmann, der Berühmte, der Nachfolger Goethes. Er erschafft Figuren für das Theater, scheinbar mühelos, er dichtet nicht, er erschafft, jedes Jahr ein Stück, und alle sind sie erfolgreich. Woraus schöpft er diese üppige Fruchtbarkeit? Das Volk liebt ihn, es nennt ihn »den heimlichen Kaiser« und veranstaltet Festspiele zu seinen Ehren.
Er hält inne, zwei Manuskripte auf dem Schoß, und starrt entsetzt ins Leere.
Was, wenn Hauptmann den Zauberberg liest und sich in der Figur des Peeperkorn wiedererkennt? Natürlich wird er das. Wie hat er glauben können, dass das unbemerkt bleibt? Es wird zum Zerwürfnis kommen zwischen ihnen. Hauptmann wird an den Verleger schreiben, er wird Samuel Fischer sein Leid klagen, der doch auch sein Verleger ist, für wen wird der sich entscheiden, wenn er wählen muss? Natürlich für das literarische Schwergewicht Hauptmann, für den Literaturnobelpreisträger, die unangefochtene Nummer eins im Fischer Verlag. Hauptmann wird klagen: Einem Holländer, einem Säufer, einem Giftmischer, Selbstmörder, einer intellektuellen Ruine, vom Luderleben zerstört, behaftet mit Goldsäcken und Quartanfieber, zieht Thomas Mann meine Kleider an! Er hat ihm zu viele Ähnlichkeiten mit Hauptmann übergestreift. Mynheer Peeperkorn lässt Sätze unvollendet, wie es Hauptmanns Unart ist. Er sagt ständig »erledigt« und »absolut«. Er ist sechzig Jahre alt wie Hauptmann. Und er trägt ebenfalls Wollhemden, Gehrock und eine Weste, die bis zum Hals geschlossen ist. Auf Hiddensee im Urlaub haben sich Hauptmanns Fingernägel beinahe zu Teufelskrallen entwickelt, wie die Peeperkorns. Das ist alles wahr, er hat ihn genau beobachtet in Bozen und auf Hiddensee und viele seiner Eigenarten in die Figur des Peeperkorn einfließen lassen. Jetzt wird ihm das auf die Füße fallen.
Alles konnte er brauchen: Hauptmanns Statur, seine Gebärden, seine Weinseligkeit, wenn er ihn, Thomas, zum Trinken zu verführen versuchte, seine Vitalität, das Dionysische. Und er brauchte für den Schlussteil des Romans so verzweifelt eine neue Figur, er hing fest, schon viel zu lange, und war unruhig und besorgt, und dann erlebte er aus fast schon überwirklicher Nähe diese Wucht, diese theatralische Präsenz von Hauptmann. Wie hätte er nicht zugreifen sollen?
Vielleicht war es doch insgeheim eine Art Vergeltung. Gerhart Hauptmann störte ihn, mit seinem Erfolg, seinem Format, seiner beschämenden Produktivität.
Wie sie letztes Jahr durch die Bozener Weinhäuser zogen und er Thomas auslachte, weil der nicht so viel Wein vertrug. Erleichtert war der Theaterdichter gewesen, wenn er Zigarre rauchte, »er roocht!«, sagte er in behaglichem Schlesisch und freute sich, dass es wenigstens ein Laster gab, dem Thomas erlag. Und dann kamen die Autogrammjäger und umlagerten ihn mit Alben und Papierblättern, ohne ihn, Thomas, im Geringsten zu beachten. Aber das duldete der Theaterdichter nicht, er sagte mit erhobenem Finger: »Meine Herrschaften, Sie scheinen gar nicht zu wissen, wer hier auch noch … Kurzum, Sie sind in Gefahr, sich eine Gelegenheit …« Und er gab nicht nach, bis sie auch Thomas ihre Notizbücher und Papierfetzen vorlegten. Vom Alkohol milde gestimmt, strahlte Hauptmann diese Güte aus, um im nächsten Augenblick der Kellnerin lüsterne Blicke zuzuwerfen und in ihrem Beisein zu klagen, dass sie ihn nicht wahrhaft liebe. Er war ein Weingott, Bacchus war er, und sah in jeder Frau eine Helene. Diese Figur hatte er einfach in seinen Roman aufnehmen müssen.
Auf Hiddensee zeigte sich der Alte, der jeden Morgen vor dem Frühstück zum Baden an den Strand ging, ihm gegenüber fürsorglich. Wie er ihn eines Morgens dort traf – Hauptmann im Bademantel, das weiße Haar von Wind und Salzwasser strähnig und verklebt – und ihn fragte: »Wie ist heut das Wasser?«, hatte Hauptmann geantwortet: »Recht hübsch. Nur etwas zu warm.« Er freute sich, war es doch morgens sonst sehr kalt auf Hiddensee. Aber noch bevor er mit forschem Schritt die Wogen erreicht hatte, war ihm Hauptmann nachgeeilt und hatte seinen Scherz richtiggestellt, voller Sorge hatte er gesagt, es sei besonders kalt heute. Er fürchtete wohl einen Schock, wenn er, Thomas, im Glauben ins Wasser gegangen wäre, es sei warm.
Wie hat er ihm das antun können, ihn im Zauberberg zu demütigen? Jetzt ist ist es zu spät für Reue. Fünftausend Vorbestellungen gab es, Samuel Fischer hat gleich zwanzigtausend Exemplare gedruckt, sie sind ins ganze Land verschickt und können nicht zurückgeholt werden.
Aber Hiddensee war auch eine Demütigung. Das Hotel war Hauptmanns Hotel, er, Thomas, hat sich mit der Familie unten im Speisesaal mit den mäßigen Speisen begnügen müssen, während man dem König der Bühnenwelt kulinarische Genüsse aufs Zimmer brachte. Hauptmann regierte hier, seit Jahren kam er in dieses Hotel, und die Manns hatte er als seine bewundernden Untertanen hinzugeladen.
Dass Hauptmann stammelt wie Peeperkorn, ist ihm ein Trost. Immerhin spricht er, Thomas, flüssig und frei, und er besitzt intellektuelle Schärfe, während Hauptmann nur in seinen Stücken genial ist, Vorträge zu halten und Essays zu schreiben liegt ihm weit weniger. Ach, aber ist das nicht auch ein Grund zur Bewunderung? Hauptmann redet nicht, er erschafft!
Wenn er selbst jemals an den Nobelpreis auch nur denken will, dann braucht er die Fürsprache von Gerhart Hauptmann, der diese Auszeichnung schon 1912 erhalten hat.
Er wird ihm einen Brief schreiben. »Lieber, großer, verehrter Gerhart Hauptmann«, wird er beginnen, »lassen Sie mich Ihnen endlich schreiben! Ich habe längst gewünscht, es zu tun, habe es aber nicht gewagt. Ich habe ja ein schlechtes Gewissen und weiß, dass ich gesündigt habe.«
Die Worte reihen sich in seiner Vorstellung aneinander, so wie sie es immer tun, bei Tag und bei Nacht, sie fordern, notiert zu werden. »Ich darf sagen: Ich habe gesündigt, wie Kinder sündigen. Denn glauben Sie mir, (ich glaube, Sie glauben es): Ich habe vom Künstlerkinde viel mehr in mir, als diejenigen ahnen, die von meinem ›Intellektualismus‹ schwatzen; und da Sie auch ein Künstlerkind sind, ein erhabenes, verständnisvolles und nachsichtiges Kind der Kunst, so hoffe ich, mir mit diesen Zeilen, mögen sie auch noch so unzulänglich ausfallen, Ihre Verzeihung ganz zu erringen, die ich – lassen Sie mich das glauben – halb schon immer besaß. Ich habe mich an Ihnen versündigt. Ich war in Not, wurde in Versuchung geführt und gab ihr nach. Die Not war künstlerisch: Ich trachtete nach einer Figur, die notwendig und kompositionell längst vorgesehen war, die ich aber nicht sah, nicht hörte, nicht besaß. Unruhig, besorgt und ratlos auf der Suche …« Ja, so wird er es zu Papier bringen.
Im Nebenzimmer ist Katia bestimmt schon...