Müller / Grimm | Narrative Medienforschung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 182 Seiten

Müller / Grimm Narrative Medienforschung

Einführung in Methodik und Anwendung
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7445-0747-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Einführung in Methodik und Anwendung

E-Book, Deutsch, 182 Seiten

ISBN: 978-3-7445-0747-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
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Storys werden in den Medien in zahlreichen Kontexten erzählt: im Journalismus, in der Werbung, in fiktionalen Formaten wie Romanen und Spielfilmen, aber auch zunehmend in Unterhaltungsformaten wie Reality-TV und Castingshows. Eine der zentralen Erkenntnisse der Erzähltheorie ist, dass narrative Kommunikate (Geschichten) ihre Botschaften nicht nur über die Inhalte (Was wird erzählt?), sondern auch über die Form (Wie wird erzählt?) vermitteln. Der Band 'Narrative Medienforschung' stellt auf der Basis semiotischer und erzähltheoretischer Modelle eine Analysemethode vor, mit deren Hilfe auch die 'zwischen den Zeilen' vermittelten Bedeutungsstrukturen von Narrationen interpretiert und für die Forschung zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus wird gezeigt, wie 'Meta-Narrative', also narrativ strukturierte Diskurse, analysiert werden können. Schließlich wird die Anwendung der Methode für die Durchführung und Auswertung narrativer Interviews im Rahmen qualitativer Forschung praxisnah demonstriert.

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2.6 Anzeichen, Ikon, kontextgebundenes Zeichen
Sieht man sich konkrete Kommunikate an, trifft das Merkmal der Arbitrarität offenbar nicht auf alle Elemente, die in Kommunikationsakten auftreten können, auf die gleiche Weise zu. Wenn das Parlament der Bundesrepublik Deutschland beschließen würde, den Titel des Regierungschefs von »Bundeskanzler« in »Ministerpräsident« zu ändern, würde dies ohne Probleme funktionieren. Ein Porträtfoto von Angela Merkel in der Zeitung jedoch kann nicht einfach per Beschluss durch das Foto einer anderen Person ersetzt werden: Abbildungen von Personen funktionieren offenbar in anderer Weise als Zeichen im bisher beschriebenen Sinne. Offenbar können in Kommunikaten also bestimmte Phänomene vorkommen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Zeichen im definierten Sinne haben, sich aber doch in wesentlichen Aspekten von ihnen unterscheiden bzw. nicht im vollgültigen Sinne Zeichen sind. Drei dieser Phänomene sollen nun näher betrachtet werden. 2.6.1 Anzeichen »Wo ein Feuer ist, da ist auch Rauch« sagt das Sprichwort. Der Rauch ist ein typisches Beispiel für ein Anzeichen; auch wenn man alltagssprachlich sagt, er sei ein »Zeichen« dafür, dass ein Feuer brenne, fehlt ihm doch das entscheidende Merkmal der Arbitrarität: Weder das Feuer noch sonst jemand kann beschließen, ab jetzt anstatt Rauch irgendetwas anderes als »Zeichen« für das Brennen des Feuers zu benutzen. Das liegt daran, dass der Rauch durch eine physikalische Kausalität mit dem Feuer verbunden ist und es keine Instanz (wenn man mal von einem hypothetischen allmächtigen Gott absieht) gibt, die dies ändern könnte. Anzeichen sind nicht Bestandteil der kulturellen Sphäre, sondern der Natur. Ähnlich wie bei der zeichenhaften Kommunikation entnehmen wir zwar einem Anzeichen eine bestimmte Information – eben die, dass ein Feuer brennt –, aber es gibt keinen Sender, der uns diese Information sendet und der etwa – wie in kulturellen Kontexten – die Wahlfreiheit hätte, ein Zeichen zu senden oder ein anderes oder gar keines. Weitere Beispiele für Anzeichen wären etwa rote Punkte auf der Haut als Anzeichen für eine Krankheit, Eis auf dem See als Anzeichen von Frost und ein Blitz als Anzeichen für bestimmte meteorologische Konstellationen in der Atmosphäre. Das letzte Beispiel zeigt, dass es kulturabhängig ist, was als Zeichen und was als Anzeichen gesehen wird: Im antiken Griechenland haben zumindest sehr gläubige Gruppen einen Blitz als Zeichen wahrgenommen, mit dem der »Blitzeschleuderer Zeus« seinen Unwillen über bestimmte Verhaltensweisen der Menschen kundtut. Definition: Anzeichen Anzeichen sind natürliche (physikalische oder biologische) Phänomene, die kausal mit anderen Phänomenen verknüpft sind und daher Rückschlüsse über diese anderen Phänomene zulassen (z. B. Rauch deutet auf Feuer hin, Pusteln im Gesicht auf Masern). Anzeichen sind keine Zeichen im eigentlichen Sinne, da sie nicht ausschließlich der kulturellen Sphäre angehören und ihnen damit auch das Merkmal der Arbitrarität fehlt. 2.6.2 Ikon
Der Begriff des Ikons wurde in der Semiotik zuerst von Charles Sanders Peirce eingeführt, für den es eine von drei Zeichenarten – Ikon, Index und Symbol – ist, wobei das Symbol dem Zeichenbegriff entspricht, den wir hier definiert haben (vgl. Peirce 1983: 64)3. Das Ikon ist eine Repräsentation, die in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu einem Realitätsausschnitt steht. Typische Beispiele für Ikons sind Abbildungen, etwa Porträtfotografien von Menschen. Sie sind offenbar keine Zeichen im vollgültigen Sinne, da ihnen das Merkmal der Arbitrarität fehlt: Als Porträt von Angela Merkel können nur tatsächliche Porträts von Angela Merkel verwendet werden und nicht Bilder von irgendwelchen anderen Personen. Ein Beispiel für eine Abbildung bietet folgende Werbeanzeige, die die Agentur Jung von Matt für den Autovermieter Sixt 2001 gestaltete: Nehmen wir an, es handle sich hier um die zweifache Abbildung einer beliebigen Frau, deren Haare auf dem zweiten Bild nach einer Cabriofahrt zu Berge stehen. In diesem Fall wäre die Anzeige einerseits nur mäßig witzig, andererseits wäre auch die Abbildung der Frau weitgehend austauschbar: Ein Teil der kommunikativen Aussage dieser Anzeige würde auch mit der Abbildung jeder anderen Frau funktionieren. Allerdings würde dennoch nicht Arbitrarität im Sinne der Definition des Zeichenbegriffs gelten: Denn anders als im Fall der sprachlichen Zeichen, bei denen zum Beispiel das Zeichen »Haus« durch ein völlig beliebiges anderes Zeichen (»Fazel«) ersetzt werden konnte, ist die Ersetzbarkeit hier eingeschränkt: Das Bild der Frau könnte nur durch andere Porträts, nicht durch beliebige Bilder ersetzt werden, will man den kommunikativen Gehalt der Anzeige erhalten. Abb. 4: Werbeanzeige SIXT Nun ist die abgebildete Person keine beliebige Frau, sondern war für jedermann, der im Jahr 2001 auch nur halbwegs die deutsche politische Kultur kannte, als die CDU-Vorsitzende Angela Merkel erkennbar. Ihren eigentlichen Witz bezieht die Anzeige daraus, dass in der Öffentlichkeit zu dieser Zeit redundant über Merkels Neigung zu stilistisch ambitionslosen Haartrachten diskutiert wurde. Insofern sind die Abbildungen allenfalls gegen andere Porträtfotos von Angela Merkel austauschbar, aber nicht gegen beliebige Bilder. Abbildungen stellen also ebenfalls eine direkte Beziehung zwischen »Zeichen« und Bezeichnetem her; anders als im Fall der Anzeichen ist dies keine physikalisch-biologische, sondern eine kulturelle bezüglich der Ähnlichkeit. Neben visuellen Ikonen existieren zum Beispiel auch auditive: Ein Musikstück, in dem Laute eingebaut sind, die dem Verkehrslärm ähneln, verwendet ein auditives Ikon. Häufig wird auch diskutiert, ob sogenannte »Onomatopoetika«, also lautmalerische Wörter wie »gluck-gluck«, »tick-tack« oder »wau wau« in diese Klasse gehören; wenn man sich allerdings ansieht, dass deutsche Hunde »wau wau« bellen, amerikanische dagegen »arf arf«, muss man sich fragen, ob Onomatopeatika nicht vollständig kulturell kodiert und damit arbiträr und echte Zeichen wären. Für Bilder bedeutet dies: »Abbildungen« eines Realitätsausschnitts, die von der Ursprungskultur des Bildes als »ähnlich« angesehen werden, sind Ikone und keine Zeichen im engeren Sinne. Echte bildliche Zeichen sind dagegen vollständig kulturell kodierte Grapheme wie zum Beispiel Piktogramme. Definition: Ikon Ein Ikon ist ein in kommunikativen Zusammenhängen vorkommendes Artefakt, das von seiner Ursprungskultur als einem Objekt ähnlich angesehen wird. Ikone sind keine echten Zeichen, da ihnen das Merkmal der Arbitrarität fehlt: Sie sind nicht beliebig ersetzbar, da ansonsten die Ähnlichkeitsbeziehung zerstört würde. 2.6.3 Kontextgebundene Zeichenäquivalente
Schließlich gibt es noch das Phänomen, dass ein Artefakt, das zunächst nicht zeichenhaft ist, innerhalb einer Äußerung gewissermaßen semiotisch »aufgeladen« wird. Ein Beispiel dazu findet sich auf S. ?. In dieser Anzeige tauchen die Abbildungen von vier Huskys auf, die als Ikone zu klassifizieren wären. Offenbar – und erkennbar aus ihrer Anordnung innerhalb eines Parkplatzes – repräsentieren dieses Ikone von Huskys Autoreifen. Sie funktionieren innerhalb dieser Anzeige wie Zeichen: Sie haben eine bestimmte Bedeutung (Autoreifen, die so wintertauglich sind wie Huskys), und der Signifikant ist weitgehend beliebig: Würde man vier andere Ikone irgendwelcher Objekte genau an die strukturellen Stellen innerhalb des Parkplatzes positionieren, an denen die Hunde liegen, würden sie zunächst einmal genauso als Zeichenäquivalente für »Autoreifen« funktionieren. Natürlich wurden die Huskys vom Produzenten deshalb ausgewählt, weil die Merkmale der Huskys dadurch auf Reifen übertragen werden können – diesen Effekt hätte man, würde man etwa Tomaten anstelle der Hunde positionieren, nicht, die Anzeige würde dann etwa die Aussage machen, die Reifen seien so matschig wie Tomaten (eine Aussage, die der Reifenhersteller wohl nicht intendieren wird). Die Abbildungen der Huskys werden also in dieser Anzeige semiotisch aufgeladen; diese Aufladung funktioniert aber nur im Kontext der Anzeige: Außerhalb von ihr sind Huskys weder als Bild noch in der Realität Zeichen für Autoreifen – wir würden (in aller Regel zumindest) nicht bei einem auf der Straße vorbeilaufenden Husky diesen als ein Zeichen für Autoreifen ansehen. Kontextgebundene Zeichenäquivalente sind also »Zeichen auf Zeit«, Zeichen, die nur in einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Kontext zeichenhaft sind und im Gegensatz zu »echten«,...


Prof. Dr. Michael Müller lehrt Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien Stuttgart und leitet dort das Institut für Angewandte Narrationsforschung (IANA). Prof. Dr. Petra Grimm lehrt Medienforschung und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien Stuttgart und leitet das Institut für digitale Ethik (IDE).



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